Obwohl Bernie Sanders und Donald Trump in ihren politischen Ansichten unterschiedlicher nicht sein könnten, speist sich ihr Erfolg bei den US-Vorwahlen doch aus der selben Quelle: der Unzufriedenheit der Wähler mit dem bestehenden System. Der Philosoph Michael J. Sandel erkennt in seiner Analyse, dass der amerikanische Traum lebt. Nur nicht dort, wo man ihn vermutet.
von Michael J. Sandel

© Celso Flores via Flickr (CC BY 2.0)
Die turbulenten ersten Monate der US-Präsidentschaftsvorwahlen stellen ein populistisches Moment in der amerikanischen Politik dar. Bei den Demokraten hat sich der einzige selbsternannte Sozialist des US-Senats, Bernie Sanders, in der Auseinandersetzung mit der ehemaligen Außenministerin Hillary Clinton als überraschend stark erwiesen, obwohl man davon ausging, dass sie die Nominierung der Demokraten praktisch widerstandslos erringen würde. Bei den Republikanern wiederum hat Donald Trump, der milliardenschwere Unternehmer und TV-Darsteller, die Rolle des Spitzenreiters in einem großen Feld an Politikern übernommen, zu denen auch Jeb Bush, der frühere Gouverneur Floridas und Bruder des Ex-Präsidenten George W. Bush, gehörte. Obwohl Jeb Bush über 100 Millionen Dollar an Wahlkampfspenden gesammelt hatte, gelang es ihm nicht, die Wähler zu erreichen, sodass er seine Kandidatur zurückzog.
Auf jeweils eigene Weise haben sowohl Sanders als auch Trump die gängigen Mechanismen außer Kraft gesetzt, indem sie der Selbstgefälligkeit des politischen Establishments den Kampf angesagt haben.
Junge Leute fühlen sich von Sanders besonders angesprochen
Junge Leute fühlen sich vom 74-jährigen Sanders, der eine große und begeisterte Anhängerschaft hinter sich schart, besonders angesprochen. In den ersten drei Vorwahlen in Iowa, New Hampshire und Nevada gaben ihm über 80 Prozent der unter 30-Jährigen ihre Stimme. Im Vergleich zu Hillarys bedachtem und berechnendem Auftreten empfinden viele Wähler Bernies schroffe, ungenierte Art als erfrischend authentisch.
Die beiden Kandidaten unterscheiden sich aber nicht nur im Stil, sondern auch im Inhalt. Sanders wurde mit seinen Forderungen nach einer Verringerung der Ungleichheit, der Zerschlagung der Großbanken und dem Kampf gegen die politische Macht des Kapitals wie aus dem Nichts nach oben gespült. Seiner Meinung nach steht Clinton, wie auch andere demokratische Politiker in den letzten Jahren, der Wall Street zu nahe, um sich mit den Banken anzulegen. Während ihre Kampagne mit 15 Millionen Dollar von der Finanzindustrie gefördert wurde, stützt sich seine auf Kleinspenden von durchschnittlichen Amerikanern. Hillary Clinton profitierte auch persönlich von der Großzügigkeit der Wirtschaft, indem sie über 20 Millionen Dollar an Vortragshonoraren einstrich. Allein die Investmentbank Goldman Sachs zahlte ihr 675.000 Dollar für drei Reden.
Sanders ist überzeugt, dass die Reformen zur Regulierung, die auf die Finanzkrise des Jahres 2008 folgten, nicht weit genug gehen. Er möchte die Großbanken aufspalten und die Geschäftsbanksparten vom risikoreichen Investmentbanking trennen. Er plant die Einführung einer Steuer auf spekulative Finanzgeschäfte und möchte die Einnahmen daraus verwenden, um die Studiengebühren an den staatlichen Hochschulen und Universitäten abzuschaffen. Sanders will auch die Gesundheitsreform von Präsident Obama, die weiterhin auf private Versicherungsunternehmen setzt, hinter sich lassen und eine komplett staatliche Gesundheitsversorgung einführen.
Der überraschende Erfolg von Sanders’ Kampagne spiegelt die Enttäuschung über die wachsende Ungleichheit der letzten Jahrzehnte und das Versagen der Demokratischen Partei wider, darauf einzugehen. Die Einkommensungleichheit hat den höchsten Stand seit den 1920er Jahren erreicht. Vom Wirtschaftswachstum der letzten Jahre hat größtenteils die Spitze profitiert. Die reichsten 0,1 Prozent der Gesellschaft besitzen heute so viel wie die untersten 90 Prozent zusammen.
Diese Einkommens- und Vermögenskonzentration hat in der Politik ihre Spuren hinterlassen. Die Deregulierung der Finanzindustrie, die den Weg in die Finanzkrise geebnet hat, wurde in den späten Neunzigern unter der Präsidentschaft Bill Clintons vollzogen. Als Barack Obama mitten in der Finanzkrise ins Amt kam, nominierte er Wirtschaftsberater, die die Deregulierung der Wall Street während der Clinton-Jahre vorangetrieben hatten. Ihrem Rat folgend, befürwortete er die staatliche Rettung von Banken und Investmenthäusern, während er im Gegenzug nur wenig verlangte. Es gab keine Zerschlagung der Banken, keine Trennung von Geschäfts- und Investmentbanking, keine sinnvolle Deckelung von Vorstandsgehältern oder Boni und auf der anderen Seite nur wenig Unterstützung für Eigenheimbesitzer, die nicht mehr in der Lage waren, die Hypotheken für ihre Häuser, deren Wert eingebrochen war, zu bedienen.

© Gage Skidmore (CC BY-SA 3.0)
Zwischenzeitlich hat der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Einschränkungen für die Finanzierung politischer Wahlkämpfe durch Unternehmen aufgehoben, weil es argumentierte, dass die Ausgabe unbegrenzter Geldsummen zur Verbreitung der eigenen Ansichten unter den Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung fällt. Das Großkapital kann seitdem uneingeschränkt auf die Politik einwirken. Eine Untersuchung der New York Times ergab, dass ungefähr die Hälfte der Spendensumme, die Demokraten und Republikaner in den ersten Monaten des laufenden Präsidentschaftswahlkampfs erhielten, von lediglich 158 wohlhabenden Familien stammte.
Die wachsende Wut und Verzweiflung über ein politisches System, das nicht mehr den Interessen der amerikanischen Normalbürger dient, hat auch die Kandidatur Donald Trumps befördert. Das populistische Moment in der amerikanischen Politik macht sich sowohl im linken als auch im rechten politischen Spektrum bemerkbar. Wie viele europäische Rechtspopulisten hat auch Trump das Thema Einwanderung aufgegriffen. Er möchte die zwölf Millionen Einwanderer, die gegenwärtig ohne Aufenthaltsrecht in den Vereinigten Staaten leben, abschieben. Um andere vom Zutritt abzuhalten, verspricht er, eine Mauer entlang der 2000 Meilen langen Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko zu bauen. Und zur großen Freude seines Wahlkampfpublikums hat er die Absicht erklärt, den mexikanischen Staat die Kosten dafür übernehmen zu lassen.
Trumps unnachgiebige Haltung in der Einwanderungsfrage spricht Wähler aus der Arbeiterschicht an, die fürchten, dass durch die Einwanderer ihre Arbeitsplätze und Löhne in Gefahr sind. Aber seine Anziehungskraft reicht weiter. Seine harte Linie in Sachen Einwanderung ist Teil des größeren Versprechens, Amerika „wieder groß zu machen”. Er schimpft auf das Handelsdefizit der USA gegenüber China, auf die Terroristen des IS, die „den Leuten die Köpfe abhauen“ und auf den „desaströsen“ Deal mit dem Iran, der im Gegenzug für die Beschränkungen des iranischen Nuklearprogramms ein Ende der Sanktionen vorsieht. Wohin er auch schaut, sieht Trump ein Scheitern Amerikas. „Wir gewinnen nicht mehr“, beklagt er. Sein Wahlkampf zielt im Grunde darauf ab, diesen amerikanischen Machtverlust umzukehren. Deshalb zieht Trump vor allem Männer aus der Arbeiterschicht an, die sich von Wirtschaft und Kultur abgehängt fühlen. „Wenn ich Präsident bin“, brüstet er sich, „werden wir so viel gewinnen, dass ihr des Gewinnens überdrüssig werdet.“
Sowohl Trump als auch Sanders greifen das Gefühl des Machtverlusts auf
Ungeachtet ihrer ideologischen Unterschiede zapfen Sanders und Trump ähnliche Quellen der Unzufriedenheit an. Beide greifen das Gefühl des Machtverlusts auf, das die Amerikaner gegenüber dem Großkapital und einer unverantwortlichen Politik haben. Und beide stehen den demokratischen und republikanischen Mainstream-Politikern, die sich in den vergangenen drei Jahrzehnten zu willigen Nutznießern des Systems entwickelt haben, kritisch gegenüber.
Anders als ihre Konkurrenten haben sowohl Sanders als auch Trump auf Wahlkampfhilfe durch sogenannte „Super-PACs“ verzichtet. Dabei handelt es sich um Unterstützerorganisationen, die zugunsten der Kandidaten unbegrenzt Geld sammeln und ausgeben können, solange es nicht unmittelbar von der Kampagne kontrolliert wird. Ihre Alternativen zu Super-PACs unterscheiden sich selbstverständlich voneinander. Sanders hat über das Internet Millionen Dollar durch kleine Beträgen (im Durchschnitt 27 Dollar pro Spende) zusammengetragen, während der Milliardär Trump seinen Wahlkampf aus der eigenen Tasche zahlt. Um zu unterstreichen, wie redlich es ist, dass er für seinen Wahlkampf selbst aufkommt, spricht Trump unverblümt die korrumpierende Wirkung des gegenwärtigen Systems zur Wahlkampffinanzierung an, das Großunternehmen und vermögenden Einzelpersonen letztendlich die Freiheit gibt, sich politischen Einfluss zu erkaufen. (Er gibt offen zu, dass er selbst als Unternehmer in der Hoffnung auf zukünftige Gefälligkeiten Politiker mit Wahlkampfspenden überhäuft hat.)
Auch bei diversen anderen Themen hat Trump mehr mit Bernie Sanders als mit seinen republikanischen Parteikollegen gemein. Er hat die vermögenden Hedgefonds-Manager verhöhnt, die dank eines Steuerschlupflochs auf ihre Gewinne einen niedrigeren Steuersatz zahlen als ihre eigenen Sekretärinnen. In einem Tonfall, der mehr Applaus auf einer „Occupy Wall Street”-Kundgebung als auf einem Parteitreffen der Republikaner hervorrufen dürfte, erklärte Trump: „Die Hedgefonds-Leute haben dieses Land nicht aufgebaut. Das sind Leute, die Papier hin und her schieben und manchmal Glück haben… Diese Leute kommen ungestraft davon. Ich möchte die Steuern für die Mittelklasse senken.“

© Gage Skidmore (CC BY-SA 3.0)
Trump hat auch die Freihandelsabkommen kritisiert, die zur Abwanderung amerikanischer Arbeitsplätze in Billiglohnländer geführt haben. Wie Sanders ist er gegen die Transpazifische Partnerschaft (TPP), ein geplantes Handelsabkommen zwischen den Vereinigten Staaten, Japan und zehn weiteren Nationen, das von der Obama-Regierung ausgehandelt wurde und von den Republikanern im Kongress unterstützt wird. (Da sie durch Sanders unter Druck geraten ist, hat auch Clinton sich gegen die Obama-Regierung gestellt und ist jetzt eine Gegnerin des Handelsabkommens, obwohl sie es, solange sie noch im Amt war, unterstützt hat.)
In seinem vielleicht schamlosesten Vorstoß gegen das republikanische Parteiestablishment bezeichnete Trump den Irakrieg als „ein Desaster“. Während einer Debatte in South Carolina, einem Staat mit starker Militärtradition, erklärte Trump, dass George W. Bush als Präsident gelogen habe, als er behauptete, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, da er einen Vorwand brauchte, um in den Krieg zu ziehen. Als Jeb Bush behauptete, seinem Bruder sei es darum gegangen, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, widersprach Trump und erinnerte das Publikum daran, dass die Attentate des 11. September 2001 in Bushs Amtszeit fielen.
Der unerwartete Zuspruch, den die Kampagnen von Sanders und Trump erfahren, stellt keine entscheidende Hinwendung der amerikanischen Wähler nach links oder nach rechts dar. Es handelt sich vielmehr um einen populistischen Protest gegen die neoliberale Wirtschaftsordnung, die vom Establishment beider Parteien gestützt wird und die für die Spitze der Gesellschaft reichhaltige Belohnungen bereithält, während sie bei allen anderen zu unsicheren Lebensverhältnissen führt.
Platzt der amerikanische Traum?
Der Aufstieg von Sanders und Trump beruht weniger auf Ideologie als auf der Angst, dass der amerikanische Traum platzen könnte. Das ist es, was Sanders meint, wenn er sagt, dass das System gegen die amerikanischen Normalbürger ausgerichtet ist. Und das ist es, was Trump meint, wenn er sagt, dass Amerika nicht mehr gewinnt. Beide verleihen dem weitverbreiteten Gefühl Ausdruck, dass die Amerikaner dabei sind, die Kontrolle über jene Kräfte zu verlieren, die über ihr Leben bestimmen.
Der amerikanische Traum drehte sich nie darum, die Ungleichheiten bei den Einkommen und Vermögen zu verringern. Er drehte sich darum, den Menschen den Aufstieg zu ermöglichen und den eigenen Kindern die Möglichkeit zu geben, noch weiter aufzusteigen. Aus diesem Grund haben sich die Amerikaner traditionell weniger Sorgen wegen der Ungleichheiten gemacht als die Europäer. Wir haben vielleicht ein größeres Gefälle bei den Einkommen und Vermögen als die europäischen Wohlfahrtsstaaten, redeten wir uns ein, aber wir sind nicht an die Schicht gebunden, in die wir geboren werden. Mobiliät, nicht Gleichheit, ist der Maßstab unserer Freiheit.
In den letzten Jahrzehnten hat diese wohlwollende Selbsteinschätzung angefangen hohl zu klingen. Der traditionelle Glaube daran, dass diejenigen, „die hart arbeiten und sich an die Regeln halten”, vorwärtskommen, entspricht nicht mehr der Lebenswirklichkeit der Amerikaner aus der Arbeiter- und Mittelschicht. Die wachsende Ungleichheit der letzten Jahrzehnte wurde keineswegs durch Aufstiegsmöglichkeiten ausgeglichen. Sie hat im Gegenteil zu einer Erschwerung der wirtschaftlichen Mobilität geführt.
Die Vereinigten Staaten weisen heute eine geringere Mobilität auf als die meisten europäischen Staaten. 42 Prozent der amerikanischen Männer, die in das unterste Fünftel der Einkommensskala geboren werden, bleiben als Erwachsene dort hängen (im Vergleich zu 25 Prozent in Dänemark und 30 Prozent in Großbritannien). Nur acht Prozent der amerikanischen Männer steigen vom untersten Fünftel ins oberste auf. Generationenübergreifende Untersuchungen zur sozialen Mobilität kommen zu vergleichbaren Schlüssen. Die Schichtmobilität ist in Dänemark, Norwegen, Schweden, Deutschland und Frankreich höher als in den Vereinigten Staaten. Der amerikanische Traum lebt… in Dänemark.
Wenn das Versprechen der Aufstiegsmobilität keine realistische Option mehr ist, um die Einkommens- und Vermögensungleichheiten in den Griff zu bekommen, werden die Amerikaner unter Umständen gezwungen sein, die Bedeutung der Gleichheit für den amerikanischen Traum zu überdenken. Ob dieser populistische Moment eine solche Neubewertung begünstigt, bleibt abzuwarten.
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