Erster Mai in Berlin: Ein irischer Berliner erinnert sich

Am ersten Mai sind in Berlin Straßenfeste, Demos und Krawall an der Tagesordnung. Der gebürtige Ire Conor Creighton lebt schon länger in Berlin und erzählt von zwei Nächten des Ersten Mai, die ihm im Kopf geblieben sind.

von Conor Creighton

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Ich erinnere mich ziemlich genau an zwei Erster-Mai-Feiertage in Berlin. Der eine war mein allererster, seit ich in Berlin angekommen war. Das war damals, als wir alle die Kragen aus unseren T-Shirts rausrissen, Jogginghosen mit Alte-Männer-Schuhen trugen, und in den Kapuzen unserer Hoodies wohnten, wo wir manchmal Snacks und Leergut verstauten.

Wir waren in unseren Zwanzigern, manche waren Ende zwanzig, und wir hatten schreckliche Haut, weil wir nur das Gemüse aßen, das auf dem Türkischen Markt im Angebot war. Dienstags und Freitags kamen wir mit  Fünf-Kilo-Spinat-Tüten wieder, Spinat, der anfing zu welken, bevor wir überhaupt den Landwehrkanal überquert hatten und von dem wir so viele Mahlzeiten kochten und einfroren, wie möglich, um die Woche über kein Geld mehr ausgeben zu müssen. Wir tranken nie Wein, der mehr als 3,50 Euro kostete. Und irgendjemand drehte immer gerade einen Joint und wenn gerade keiner einen Joint drehte, hatte man absolut das Recht zu sagen „kann bitte mal einer einen Joint drehen“.

Wir waren eine kleine Gruppe und wir standen uns nahe, weil wir alle gleich pleite waren und weil uns alle in der einen oder anderen Nacht das verbunden hatte, das alle Menschen verbindet, seit Adam Eva angemacht hat: Sex.

Wir saßen in einem lockeren Kreis im Görlitzer Park. Draußen auf der Skalitzer Straße marschierte die Antikapitalistische Demo vorbei. Sie hatten eine Anlage, die offenbar nur „Killing In The Name Of“ mochte. Alles andere ergab Wellen von Verzerrung, Feedback und Schmerz, aber „Killing In The Name Of“ erklang immer frisch und klar wie Kirchenglocken, wenn es alle zehn Minuten oder so gespielt wurde. Juli saß mit einer Flasche Sekt am Rand unseres Kreises. Erst letzte Woche war sie im Kaufland verhaftet worden, weil sie Seife geklaut hatte. Sie hatte schon so gut wie alles irgendwann mal bei Kaufland geklaut und es war peinlich, dass sie sie dieses Mal wegen Seife geschnappt hatten.

„Wisst ihr, was sie am Ersten Mai machen sollten, alle die Geld haben? Sie sollten es zu uns nach unten weiterreichen.“

„Und was würden wir damit machen?“

„Wir würden was davon für Sekt ausgeben.“

„Logisch.“

„Aber wir würden es auch nach unten weiterreichen. Wir würden es den Obdachlosen geben.“

„Du meinst Sascha?“, sagte ich, aber keiner lachte, weil Sascha tatsächlich schon seit ungefähr zwei Monaten obdachlos war. Er wohnte auf Sofas, couchsurfte sich seinen Weg durch die Stadt, und man konnte es an seinem Körper sehen: Er hatte abgenommen und der Stress hatte tiefe rote Falten in seine Stirn gegraben. Und er rauchte die ganze Zeit, was nichts Neues war, aber er hatte irgendwie die Fähigkeit verloren, zusammenhängende Zigaretten zu drehen, und sie fielen auf seinen Lippen auseinander und färbten sie braun, wie die Rüssel von Schweinen, wenn sie sie gerade aus dem Trog gezogen haben.

Sascha hatte seine Hosen immer in seine Socken gesteckt. Ich wollte das auch machen, konnte es aber nicht, weil er damit angefangen hatte und es eine zu offensichtliche Nachmache gewesen wäre. Tief in mir drin, und ich gebe es nur ungern zu, wollte ich, dass er obdachlos bleibt, damit er irgendwann das Unausweichliche akzeptieren und wieder zurück nach Stuttgart gehen müsste, und dann könnte ich jeden Scheiß mit meinen Socken und meinen Hosen machen, den ich wollte.

Wir aßen Falafel von Baghdad, die 2 Euro kosteten und gingen in den Club der Visionäre, der gar nichts kostete.

 

 

Der zweite Erste Mai in Berlin, an den ich mich erinnere, war ganz anders, denn er fing in der Nacht vorher auf einem Dach in Friedrichshain an. Ich war für eine Bierwerbung gebucht worden und verdiente genug Geld, um für die nächsten fünf Jahre jeden Tag einen Falafel kaufen zu können. Wir drehten in einer Luxus-Dachwohnung in der Rigaer Straße. Ich kannte die Rigaer Straße gut, weil ich dort oft in die Volksküche gegangen war. Einmal war ich mit einem griechischen Mädchen dort gewesen, das in der Gegend wohnte. Sie war bei einer Verabredung mit mir dort hingegangen.

„Was hab ich gemacht?“

„Nichts.“

„Warum redest Du dann nicht mit mir?“

„Ich habe schlechte Laune.“

„Könnte sich das vielleicht ändern?“

„Ich bezweifle es.“

„Wir hätten uns doch nicht verabreden müssen.“

„Ich wollte, dass du mein wahres Ich siehst.“

„Danke. Hab’s kapiert.“

Die Straße, in der wir drehten, war voll mit besetzten Häusern, die langsam aufgelöst wurden, um Platz für das Luxus-Apartment zu schaffen, in dem ich mich befand. Man nahm keine Rücksicht darauf, wie lange die Häuser bewohnt gewesen waren und ob die Bedürfnisse von vielen den Profit von wenigen aufwogen. Die Polizei jagte die Hausbesetzer durch Einschüchterung und Überwachung raus. In dem Werbespot sollte ich den Besitzer der Wohnung spielen. Den Hausbesetzer-Killer. Sie verkleideten mich mit Hosen von COS, einem Hemd von Ralph Lauren und einer Strickjacke von Gant.

Der Regisseur war aus München. Er hatte genau dasselbe an wie ich. Auf der Wand gegenüber von meiner Luxuswohnung hatten sie eine Szene aus einem Autorennspiel projiziert. Ich war so ein reicher Typ, der Gant Strickjacken trägt, auf dem Dach eines Hauses wohnt, dessen Existenz den Mangel an Fairness im modernen Deutschland symbolisiert, und der so einsam ist, dass er die ganze Nacht alleine Videospiele spielt und sich mit billigem, heimischen Bier betrinkt. Die Marke nenne ich nicht, aber ich kann Euch sagen, dass es eine halbe Minute nach dem Aufmachen schal war.

Es war also Walpurgisnacht und die Straßen um uns herum waren belebt von Polizeiautos und kleinen Feuern. Der Lichtmann wurde ständig von dem blauen Flackern zehn Stockwerke unter uns aus dem Konzept gebracht. Der Regisseur sagte mir, ich solle mich ein bisschen mehr reinhängen. Das Spiel so spielen, als ob ich es wirklich toll fände.

„Komm schon“, sagte er, „stell dir vor, du bist in der zone.“

Unten auf der Straße schrien sie „Alerta,  Alerta, Antifascista“ so laut, dass ich ihn kaum hören konnte. Ich konzentrierte mich auf den riesigen leeren Bildschirm vor mir und spielte ein imaginäres Autorennen, so gut ich konnte.

Um zwei waren wir fertig und ich ging runter, um mich umzuziehen. Jemand hatte die Worte „Go Home Yuppie“ auf den Kostüm-Transporter gesprüht. Außerdem hatten sie das Hinterrad von meinem Fahrrad erwischt, das ein kleines Loch hatte. Man musste es alle zwölf Stunden aufpumpen, um es irgendwie am Leben zu erhalten. Dieses Leben war nun ganz aus ihm gewichen.

Ich zog die COS Hosen, das Ralph Lauren Hemd und die Gant Strickjacke aus und wechselte in meine Jeans, mein T-Shirt ohne Kragen und einen Wollpulli, den ich in einem Umsonstladen in der Brunnenstraße bekommen hatte, bevor er sich in BioCompany oder so was Ähnliches verwandelt hatte. Und obwohl es jetzt fast drei Uhr morgens am Ersten Mai war und die Straßen alle leer, widerstand ich dem Drang, meine Hose in die Socken zu stecken. Sascha war noch in Berlin. Er war immer noch irgendwie obdachlos. Und obwohl ich ein schlechter Freund war, weil ich hoffte, er würde nie eine feste Bleibe finden, und ein noch schlechterer Freund, weil ich hoffte, dieses andauernde Unbehagen würde ihn schließlich dazu zwingen, aufzugeben, sein Festhalten an Berlin zu lockern, nach Hause zu fahren, würde ich mich nicht dazu herablassen, etwas so Lahmes zu tun, wie seinen Style zu klauen. Nur ein echter Kapitalist würde das machen.


 

Links
Strange Love auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Conor Creightons Website und seine Autorenseite bei VICE
Conor Creighton bei Twitter

Conor Jack Creighton

Conor Jack Creighton

Conor Jack Creighton, geboren 1980 in Irland, ist Autor und Künstler. Er schreibt unter anderem für The Guardian, Independent und Vice Magazine. In einem Dutzend Werbungen stellte er den typisch deutschen Mann beim Biertrinken und Grillen dar. Mit Mitte 30 lebt Conor Creighton immer noch in Neukölln. Sein neues Buch Strange Love ist am 13. Mai 2016 bei Ullstein extra erschienen.

Foto: © Gerald von Foris

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