„Muss man als Moslem so wütend sein?“:
Laksmi Pamuntjak zu den Anschlägen in Paris

Der Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo Anfang Januar hat weltweit Entsetzen hervorgerufen und eine Welle der Solidarität ausgelöst. Auch unsere indonesische Autorin Laksmi Pamuntjak hat dieser Terrorakt tief bestürzt. Als Muslima blickt sie aus einer außereuropäischen Perspektive auf die Ereignisse und hat Sorge um das Verhältnis unterschiedlicher Religionen zueinander.

von Laksmi Pamuntjak

"Je suis Charlie"-Proteste auf der Place de la République in Paris

„Je suis Charlie“-Proteste auf der Place de la République in Paris

Seit den Attentaten von Paris habe ich fast alles gelesen, was ich online und offline dazu finden konnte: den Guardian, die New York Times, Le Monde, die Beiträge von Philip Gourevitch, George Packer, John Cassidy und meinem persönlichen Freund Anthony Lane im New Yorker, Hari Kunzru im Guardian, den Economist, die Huffington Post, den New Statesman, Slate, Hooded Utilitarian, Firstpost, New Republic, The Onion, PEN International, The Straits Times, Dawn, die Blogs von Juan Cole und vielen anderen, alle Medien hier vor Ort in Indonesien, die Facebook- und Twitter-Posts meiner Freunde und so weiter und so weiter. Und immer bin ich zwiegespalten, ertappe ich mich dabei, dass ich gleichzeitig zustimme und widerspreche. Kaum habe ich mir den rationalen oder emotionalen Gehalt eines Arguments angeeignet, gerate ich auch schon in tiefen Widerspruch zu einem anderen.

Ich verurteile die Morde uneingeschränkt. Und gleichzeitig muss ich auch unweigerlich daran denken, wie sich diese unaussprechliche Tragödie auf die Muslime in Europa und das Verhältnis der Religionen zueinander auswirken wird. (Ganz zu schweigen vom zu erwartenden Aufstieg des extremen Nationalismus quer durch Europa und dem Schicksal der migrantischen Minderheiten aus den unteren sozialen Schichten, deren Lebenswirklichkeit zu einem beachtlichen Teil aus sozioökonomischen Ungleichheiten erwächst.)

Manche der Karikaturen von Charlie Hebdo verachte ich. Aber so abstoßend, geschmacklos, rassistisch und aufrührerisch sie auch sein mögen, ich begreife doch, wenigstens verstandesmäßig, dass es sich bei Charlie Hebdo um ein Satiremagazin handelt. Eines mit Wurzeln in der Vergangenheit – ein Kind der Aufklärung, das sich, wie man argumentieren könnte, an aufrührerischen Publikationen orientiert, die der Französischen Revolution vorangingen. Und genau das ist der Punkt, denn der vorgebliche Zweck von Charlie Hebdo ist es, die Macht an sich oder auch konkrete Exzesse, Auswüchse, Scheinheiligkeiten bzw. alles und jeden bloßzustellen und anzuprangern. Auch erkenne ich, dass sich das Blatt bei aller – empfundenen oder tatsächlichen – Widersprüchlichkeit und einem gewissen Maß, in dem es einige Institutionen oder Religionen stärker ins Visier genommen hat als andere, tatsächlich über alles und jeden lustig gemacht hat. An dieser Stelle bietet sich ein Zitat Henri Bergsons an: „Das Lachen ist nun einmal ein Korrektiv. Da es auf Demütigung ausgelegt ist, so muss es der Person, der es gilt, eine peinliche Empfindung verursachen. Dadurch rächt sich die Gesellschaft für die Freiheiten, die man sich gegen sie herausgenommen hat“.

Und bei allem Respekt, den ich für Muslime habe, die der französischen Résistance halfen, die das Leben von Juden retteten, indem sie ihnen weltweit Unterschlupf gewährten, die den Alliierten dabei halfen, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, die uneingeschränkt Opferbereitschaft, Mut und Loyalität bewiesen, schaudert es mich unweigerlich beim Gedanken an arabische Publikationen in ihren Heimatländern, die regelmäßig krasse antijüdische Inhalte verbreiten, von denen ich weiß, dass ich sie ebenso sehr ablehnen würde wie manches, was ich von Charlie Hebdo gesehen habe, ganz unabhängig vom jeweiligen Thema.

Jedes Argument hat also mindestens zwei Seiten, oft sogar mehr. Und ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal intellektuell und emotional so verausgabt gefühlt habe. Was ich habe und woran ich meine Hoffnung klammere, ist ein grundlegender Glaube an die Menschheit und ihre Fähigkeit, sich aufzurichten, zu vergeben, zu lieben und genau in solch zerstörerischen Momenten eine Einheit zu bilden. Immer daran denkend, dass, wie ein Artikel aus dem New Yorker kürzlich anmahnte, „anderer Meinung sein nicht zerstören heißt“.

Da mich die Ilias ähnlich wie das indonesische Nationalepos Mahabharata schon lange sowohl persönlich als auch beim Schreiben begleitet, möchte ich in diesen dunklen Tagen an eine Passage aus Rachel Bespaloffs wegweisendem Essay über die Ilias erinnern. Bespaloff ist eine recht unbekannte Philosophin, deren Mitgefühl und Verstand mir schon seit vielen Jahren als Richtschnur dienen. Sie hat ihren Text kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschrieben, also ungefähr zur selben Zeit, als auch Simone Weils berühmter Essay zum selben Thema entstand: Hoffen wir also auf einen Augenblick wie jenen „auf dem Höhepunkt der Ilias“, wo wir „eine dieser Pausen, einen dieser kontemplativen Momente, wenn der Bann des Werdens gebrochen und die Welt der Taten mit all ihrem Furor in Frieden getaucht ist“, vorfinden.

In der traurigen Folge des barbarischen Blutbads von Paris fühle ich mich an einen meiner Artikel namens „Rage and Caricature“ erinnert, der 2006 in Tempo, einem liberalen indonesischen Nachrichtenmagazin, erschien und sich mit den wütenden Reaktionen auf die Darstellungen des Propheten Mohammed in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten auseinandersetzte. Vielleicht liegt es einfach nur am schaurigen Déjà-vu-Gefühl, das mich die ganze Nacht über verfolgt hat und durch den schamlosen Mord an zwölf Menschen zusätzlich verstärkt wird. Ich möchte mir einige Passagen aus diesem Artikel noch einmal wachrufen, während ich mich all den friedliebenden Menschen auf der Welt anschließe, die für die Familien der Toten beten und darauf hoffen, dass die kühlen Köpfe die Oberhand behalten werden.

***

… Und doch frage ich noch einmal: Muss man als Moslem so wütend sein? Eine ideale Formel für das Zusammenleben würde zweifelsohne das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerungen als einen der Grundsteine jeder Gesellschaft verstehen. Dieses Recht „schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 19). Es gilt zwar längst nicht uneingeschränkt, aber es kommt darin die gegenwärtige Herausforderung zum Ausdruck, mit Meinungsunterschieden, vielfältigen Interpretationen und der Privatheit des Glaubens leben zu müssen.

Während es also legitim ist, darauf zu beharren, dass der „Westen“ Verständnis für den Islam zeigt, ist es ebenso richtig, von den Muslimen denselben Respekt für die „Gegenseite“ zu verlangen.

Selbstverständlich ist die Geschichte der Christusdarstellung in der Kunst durch die Epochen hindurch eine vergleichbar grausame. Sie hat allerdings zahlreiche Wendungen und Wirrungen hinter sich: vom Symbol der Transzendenz (Paul Klee) und der Metapher des Absurden (Francis Bacon) bis hin zur Reise ins Unbekannte (Joseph Beuys) und einer Betrachtung über das gänzlich Andere (Mark Rothko, Barnett Newman). Auf Max Ernsts grellem Gemälde von 1926 präsentiert sich der Sohn Gottes als blondes Baby, das von einer boshaften Maria in scharlachrotem Oberteil den Hintern versohlt bekommt. Zu den jüngeren und provokativeren Beispielen, die – was auch immer die wahren Gründe dafür gewesen sein mögen – toleriert wurden, zählen „Piss Christ“ (ein Christus am Kreuz in einem mit Urin gefüllten Glas) und „Virgin Mary Covered in Feces“.

Ganz sicher ist auch Christen und Juden der Zorn nicht unbekannt. Antisemitische Karikaturen würden fast überall als „Volksverhetzung“ eingestuft und ihre Urheber wahrscheinlich strafrechtlich verfolgt. Auch sorgte letztes Jahr der Comic des Österreichers Gerhard Haderer für Aufregung, in dem Christus als Saufkumpan von Jimi Hendrix und als nackter Surfer dargestellt wurde. Haderer hatte keine Ahnung, dass sein Buch „Das Leben des Jesus“, das als scherzhafte religiöse Satire gedacht war, in Griechenland veröffentlicht worden war, bis er eine Vorladung erhielt, vor einem Athener Gericht Stellung zum Vorwurf der Blasphemie zu nehmen.

Eines lässt sich jedoch festhalten: Ob als Mysterium, Spottobjekt, Alter Ego oder Pastor Bonus – der Christus des 20. Jahrhunderts ist weit entfernt von den frühen Hirtendarstellungen des 3. und 4. Jahrhunderts. Und doch besteht das Christentum weiter fort.

Vielleicht müssen wir Muslime lernen, Ruhe zu bewahren und mit dem Unvermeidlichen zu leben. Der Direktor einer Kairoer Schule fasste es so zusammen: „Wenn wir mehr Vertrauen in unseren eigenen Glauben hätten, müssten wir nicht so hysterisch reagieren“. Denn Hysterie führt zu Unvernunft, und je mehr wir von dem schrecklichen Tribut, den dieser Zorn von der Welt fordert, sehen, umso klarer wird es, dass Friede in der Religion wenig mit der Berufung auf Gottes Namen zu tun hat. Schlimmer noch, das Gesicht der muslimischen Entrüstung ist selbst oft eines der Ungerechtigkeit.

Vor drei Wochen, als die weltweiten Proteste anfingen, ging ich mit meiner Tochter die Baghdad Street in Singapur entlang. Am Eingang zu einem arabischen Restaurant stand ein Hinweisschild mit der Aufschrift: „Danish Citizens Are Not Permitted“.

Meine Tochter stupste einen der Kellner an: „Und was ist mit dänischen Muslimen?“. Der Kellner stand einfach nur beschämt da. Er hatte keine Antwort auf die Frage dieser Zehnjährigen.


 

Weblinks
Die offizielle Website von Laksmi Pamuntjak
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Laksmi Pamuntjak

Laksmi Pamuntjak

Laksmi Pamuntjak ist eine renommierte indonesische Essayistin, Lyrikerin und Journalistin. Sie veröffentlichte u.a. zwei Gedichtbände (Ellipsis und The Anagram), den Essay Perang, Langit dan dua perempuan (Krieg, Himmel und zwei Frauen) über Gewalt und die Ilias und eine Kurzgeschichtensammlung. Sie lebt mit ihrer Familie in Jakarta. Ihr Debütroman Alle Farben Rot ist im September 2015 bei Ullstein erschienen.

Foto: © privat

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