Kindern beim Spielen zusehen – das stärkt das Selbstbild, die Unternehmenskultur und die Innovationsfähigkeit, meint Ali Mahlodji. Er kam als Kind aus dem Iran nach Europa und wuchs in einem Flüchtlingsheim auf. Er stotterte, schmiss das Abitur und probierte über vierzig verschiedene Jobs aus. In seinem Essay erklärt er, der heute ein erfolgreiches Unternehmen führt, warum eine leistungsfähige und innovative Wirtschaft schon auf dem Spielplatz und in der Schule beginnt.
Von Ali Mahlodji
Kinder sind Alternativen-Finder
Ich rate jedem Menschen, sich regelmäßig auf einen Spielplatz zu setzen und Kindern beim Spielen zuzusehen. Kinder laufen – egal wie uneben der Boden ist – wie wild herum, klettern auf alles mögliche, fallen runter, weinen und werden getröstet und dann, wenn der Schmerz erloschen ist, siegt wieder die Freude und die Neugier und das Kind macht weiter mit dem Klettern und Entdecken der Umgebung. Diesmal auf einem anderen Pfad – wissend, dass es stürzen kann, aber auch wissend, dass es viel mehr Spaß macht, es nochmal zu versuchen. Wenn Kinder etwas wollen, probieren sie alle möglichen Wege und Alternativen aus, um an ihr Ziel zu kommen. Beobachten Sie einmal Kinder, die von ihren Eltern unbedingt etwas haben möchten: vom Engelsgesicht bis zum bitterlichen Weinen haben die Kids das gesamte Schauspielrepertoire zur Hand und wissen ganz genau, wann sie welche Karte ausspielen müssen.
Der berühmte Gehirnforscher Gerald Hüther meint, dass Kinder alles, was sie für das Leben benötigen, in sich tragen, aber die Möglichkeit bekommen müssen, sich frei zu entwickeln. Nur dann sind die Chancen am größten, dass sie entdecken, was sie gut können und was in ihnen schlummert. Dieses Zulassen fördert Kinder in ihrer Entwicklung zu selbstständig denkenden Menschen, die auch in Alternativen denken, um bestehende Probleme zu lösen.
Was passiert aber in der wahren Welt, nachdem die Phase vor dem Schulbeginn voller Spielen, Klettern, Hinfallen und wieder aufstehen zu Ende geht? Wir kommen in die Schule – wir lernen, dass wir uns anpassen müssen, brav sitzen bleiben sollen und nur dann lernen, wenn wir ruhig sind und uns von vorne beschallen lassen. Spielen, Hinfallen, Aufstehen, Probieren und Entdecken wird zur Nebensache und verlagert sich in die Schulpause – also während der Unterbrechung des „echten“ Unterrichts. „In der Schule lernen wir ja fürs Leben“ sagte immer mein Klassenvorstand. Theoretisch also auch, wie man anders und in Alternativen denkt, oder? Aber leider ist das ein Wunschgedanke, der wohl meiner erwachsenen Naivität geschuldet ist.
Fokus auf Fehler
Als ich 2010 Lehrer war, wurde mir ein Paradoxon bewusst, dass ich für sehr gefährlich halte, weil es unsere Fähigkeit, in Alternativen zu denken, im Keim erstickt: Schreibt ein Schüler einen Test mit 20 Beispielen und bekommt diesen eine Woche später zurück, steht drauf, dass der Schüler viele Fehler hat, aber nicht, dass es 16 richtige Antworten sind.
Diese ständige Bewertung mit dem Fokus auf das, was man nicht kann, begleitet Kinder und Jugendliche während der wichtigsten Phase ihres Lebens und zwar dann, wenn sich ihr Weltbild entwickelt. Kinder erleben die Welt durch die Ängste und Hoffnungen ihrer Umgebung, in erster Linie von ihren Eltern und ihren Lehrern. Lernen sie in dieser Phase, dass der Fokus nur auf Fehlern liegt und dass diese ausgemerzt werden müssen, brauchen wir uns in der Wirtschaft nicht wundern, wenn unser Arbeitsmarkt laut nach Fehlerkultur und „Unternehmer im Unternehmen“ ruft, diese aber nicht vorfindet.
Wir haben immer gelernt, dass wir Fehler vermeiden müssen und auch gelernt, dass wir einen bestimmten Pfad befolgen müssen, um erfolgreich zu sein – egal ob dieser Sinn macht oder nicht.
Eine Alternative ist: einen bestehenden Weg neu zu denken. Alternativen entstehen aber nur dann, wenn der Mensch sich der Freiheit bewusst ist, in anderen Wegen denken zu dürfen. Das heißt, es muss möglich sein, den bestehenden Weg in Frage zu stellen und es ganz anders zu machen – unabhängig von unserer Weltanschauung und unserer Erfahrungen. Es muss möglich sein, dass wir neue Wege gehen dürfen, auch wenn wir dabei scheitern könnten. Denn eine Alternative zu wählen, bedeutet auch immer, dass etwas schief gehen kann – wir könnten ja einen Fehler machen.
Wenn man es genau betrachtet, ist es eine Glanzleistung, wenn Menschen heutzutage – trotz der Erfahrungen in der Schule – anders denken, denn der Weg vom Kind zum Erwachsenen ist gepflastert mit Notsignalen, die uns auf dem Weg dorthin bremsen.Ich denke, dass in Alternativen denken eine Notwendigkeit ist, um unsere Generation weiterzubringen – das ist aber nur möglich, wenn der Mensch als mündige Person die Chance bekommt, alternativ zu denken.
Noch immer ist das Bild des Schulsystems überwiegend davon geprägt, dass Kinder am Ende jeden Schuljahres alle auf demselben Stand sein müssen und ein Bewertungssystem uns sagt, ob wir gut genug waren oder nicht, und dass Individualität maximal in den Musikunterricht passt.
Der Arbeitsmarkt als Freund des Bildungssystems
Die Mitarbeiter der Zukunft werden in den Schulen von heute ausgebildet – daher ist es nur sinnvoll, wenn das Bildungssystem sich den Anforderungen der Wirtschaft anpasst, bzw. mit diesen Hand in Hand geht. Unsere Wirtschaft will Menschen, die anders denken, die Alternativen verstehen und bestehende Muster in Frage stellen – nicht aus sozialromantischen Gründen, sondern weil der Markt sich schneller dreht als je zuvor.
Dürfte ich mir unseren Arbeits- und Bildungsmarkt neu denken, würde ich Ansätze etablieren, die eine Kultur des alternativ Denkens fördern:
Think like a Start-up:
Verpflichtendes Andersdenken: StartUps, angeblich die Motoren der Wirtschaft der Zukunft, können es sich gar nicht leisten, keine Mitarbeiter einzustellen, die nicht quer, anders oder alternativ denken. StartUps leben von ihrer Innovationskraft – dem einzigen Mittel, langfristig am Markt zu bestehen. Diese Innovationskraft spiegelt sich bei StartUps, die personell doch eher klein gehalten sind, in jedem einzelnen Mitarbeiter, denn für alles andere fehlen die Ressourcen.
Das bedeutet im Endeffekt, dass StartUps auf alternative Lösungswege ihrer Mitarbeiter angewiesen sind und ihre Mitarbeiter dazu drängen müssen, Bestehendes in Frage zu stellen – auch wenn es mal eine Idee vom Chef ist. Mitarbeiter können aber nur alternative Wege finden, wenn sie dürfen und eine entsprechende Fehlerkultur vorhanden ist. Nur wenn Fehler nicht als Niederlage, sondern als ein Weg gesehen werden, wie man es eben nicht macht, und das mit allen im Team teilt, kann man erwarten, dass Menschen lieber ausprobieren, anstatt abzuwarten.
Think and then act: Innovation, Fehlerkultur
Sehen wir uns das Leben an, ist es ein Zickzack-Kurs. Kein Mensch weiß, wie das Leben in 20, 10 oder sogar in 3 Jahren aussehen wird: So gesehen ist unser Leben die Summe von alternativen Wegen, die wir nur gehen müssen.
Lernen wir das in der Schule? Wohl eher kaum. Warum gibt es in den Schulen keine Fächer, in denen man lernt, dass Fehler nicht die Sackgasse, sondern nur eine Umleitung sind? Warum gibt es kein Fach namens Innovation, wo Schüler bestehende Lösungswege in Frage stellen und Techniken lernen, wie man diese aufbrechen kann? In so eine Schule würde ich mein Kind schicken – wissend, dass es vielleicht kein sehr gut in Mathe bekommt, aber später mal weiß, was es zu tun hat, wenn andere Wege gefordert sind.
Think different: Schulabbrecher als Vorbilder
Ja, das kann man kritisch sehen – aber was spricht dagegen, dass man Menschen, die als Fehler im System gestartet sind (der typische Schulabbrecher wie ich zum Beispiel), aber heute erfolgreich und glücklich sind, vor den Vorhang holt und zeigt, dass es auch anders gehen kann. Natürlich muss man vermitteln, dass ein Schulabbruch nicht erstrebenswert ist, aber es muss klar gemacht werden, dass es auch nicht das Ende ist.
Think like someone else: Jobrotation
Im Laufe meines beruflichen Werdegangs habe ich gesehen, wie die Zusammenarbeit in Teams sich radikal (zum Guten) verändern kann, wenn man Teamübergreifend die Aufgaben und Sorgen der anderen Mitarbeiter kennt. Warum? Weil dann der Job der anderen keine Blackbox mehr ist, über die geschimpft wird, wenn mal was schief geht und jeder Mitarbeiter das Gesamtbild besser versteht. Es gibt eindeutig zu wenige Unternehmen, die ihre Mitarbeiter zu Beginn des Jobs in allen Teams mitarbeiten lassen. Diese könnten das Gesamtbild erkennen und gleichzeitig von den Erfahrungen und Denkweisen anderer Teams profitieren.
Für die Zukunft
Was ich mir wünsche ist, dass Organisationen jeder Art – wenn sie Alternativen wollen – den Menschen dazu ermächtigen, sich dieser Freiheit bewusst zu sein. Tut man dies nicht, riskiert man langsamer zu werden und von Organisationen überholt zu werden, die wendiger und schneller reagieren, weil sie Alternativen zulassen.
Was ich mir aber noch mehr wünsche ist, dass wir Kinder – so wie sie sind – akzeptieren, sie ihre Fehler machen lassen und ihre Individualität fördern, indem wir sie dabei unterstützen, ihre Stärken zu stärken und sich selbst zu akzeptieren – ein bisschen so wie auf dem Spielplatz.
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Das Buch
Ali Mahlodji wurde im Iran geboren, kam als Flüchtling nach Europa und wuchs in einem Flüchtlingsheim auf. Er stotterte, schmiss das Abitur und probierte über vierzig verschiedene Jobs aus. Dabei lernte er auch, wie unglücklich der falsche Beruf machen kann. Schon als 14-Jähriger hatte er sich ein Handbuch der Lebensgeschichten gewünscht. Ein Buch, mit dem man sich von den Lebenswegen anderer inspirieren lassen könnte. 2012 gründete er das Start-up whatchado, eine Internet-Videoplattform, auf der Menschen von ihrem Leben, ihrer Karriere und ihren Träumen erzählen und die heute Millionen von Menschen inspiriert. Damit will er Mut machen und Perspektiven bieten. Tausende – vom Auszubildenden bis zum österreichischen Bundespräsidenten – geben dort Einblick in ihren Beruf und in ihr Leben. In diesem Buch erzählt Ali Mahlodji nun seine eigene Geschichte.
Links
„Und was machst du so?“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die offizielle Homepage von Ali Mahlodji
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