Wie gegensätzlich sind Philosophie und Naturwissenschaft wirklich? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, hat unsere Sachbuch-Programmleiterin Julika Jänicke die beiden Autoren Markus Gabriel und Stefan Klein zum Mittagessen in Berlin getroffen. Dabei herausgekommen ist ein oftmals überraschendes und pointiertes Gespräch unter Fachmännern.
Stefan Klein (legt ein Bild auf den Tisch): Was sehen Sie?
Markus Gabriel: Einen Hund, der irgendetwas von der Straße aufleckt.
Stefan Klein: Ich behaupte, dass da überhaupt kein schnuppernder Dalmatiner ist, sondern nur eine Ansammlung von Flecken. Tatsächlich sagt ungefähr die Hälfte der Leute, denen man das Bild zeigt, dass es sich um ein paar Flecken handelt. Wenn man sie aber darauf hinweist, wo sich die Schnauze, der Hintern und die Beine befinden, stimmen sie plötzlich zu. Sie kommen dann auch überhaupt nicht mehr umhin, einen Dalmatiner zu sehen und sind sich ganz sicher. Ich würde aber nicht so weit gehen, zu behaupten, dass da ein Dalmatiner ist. Würden Sie das tun?
Markus Gabriel: Das hängt meiner Ansicht nach davon ab, ob das Bild auf Basis einer Fotografie entstanden ist oder nicht. Wenn beispielsweise jemand erforscht hat, wie Flecken mit gewissen Gehirnarealen interagieren und es anschließend auf dieser Grundlage als Wahrnehmungsillusion konstruiert hat, würde ich sagen, dass da kein Dalmatiner ist. Wenn die Grundlage hingegen ein Foto war, würde ich durchaus sagen, dass da ein Dalmatiner ist.
Stefan Klein: Dass Sie der empirischen Wissenschaft eine gewisse Deutungshoheit zubilligen, gefällt mir ja gut. Aber was tun Sie , wenn Sie nichts über die Herkunft des Bildes wissen? Schließlich machen Sie die Frage, ob da jetzt ein Dalmatiner oder kein Dalmatiner ist, von Ihrem Vorwissen abhängig.
Markus Gabriel: Auf jeden Fall.
Stefan Klein: Das ist interessant. Aber wo steckt dieses Vorwissen? Auf diesem Blatt Papier ? Ganz bestimmt nicht. In dem Dalmatiner ? Noch weniger.
Markus Gabriel: Da gibt es viele Theorien, aber man hat sich relativ weitgehend auf den Ausdruck „Hintergrund“ geeinigt. Habermas nennt das „Lebenswelt“. Das halte ich für problematischer und schwammiger. Ich schließe mich da John Searle an, der – wie andere auch – von Hintergrund spricht. Dabei handelt es sich um ein diffuses Ensemble von Vorwissen, Fähigkeiten usw.
Stefan Klein: Und davon hängt es also ab, ob ich einen Dalmatiner für einen Dalmatiner halte oder nicht?
Markus Gabriel: Genau. Man könnte in diesem Zusammenhang beispielsweise sagen, dass einer Giraffe das Vorwissen fehlt, um einen BMW von einem Mercedes zu unterscheiden, mir aber nicht. Ich bin zwar nicht sehr gut darin, aber ich kann das.
Was ist Wahrheit?
Julika Jänicke: In einem abstrakteren Sinne stellt sich die Frage, wie die Naturwissenschaften und die Philosophie die Wahrheit ermitteln. Wo würden Sie die grundlegenden Unterschiede in der Herangehensweise sehen?
Markus Gabriel: Der grundlegende Unterschied liegt darin, dass Philosophen im allgemeinsten Sinne des Wortes wissen wollen, was wahr oder falsch sein kann und ob es verschiedene Arten von Wahrsein oder Falschsein gibt. Ich glaube übrigens nicht, dass es sie gibt, da ich in jeder philosophischen Hinsicht Realist bin – wie der Philosoph Donald Davidson, der sagt, er sei realist in all departments.
Stefan Klein: Die Frage, wie sich die Wahrheit aus Sicht eines Philosophen und eines Naturwissenschaftlers präsentiert, ist ja sehr vernünftig. Ich glaube, dass es nur Annäherungen an die Wahrheit gibt. Und über Annäherungen an Wahrheit zu reden, ohne darüber zu sprechen, in welchem Umfeld, in welchem Setting, man eine bestimmte Annäherung an Wahrheit überhaupt gültig ist, das ist Metaphysik. Metaphysik ist auch, über Wahrheit zu sprechen, so zu sagen, wie man sie überprüft. Und für Metaphysik fühle ich mich nicht zuständig. Persönlich empfinde es allerdings als ziemlich unsinnig, unabhängig von den Methoden der Verifikation zu behaupten, dass etwas wahr oder falsch sei. Die Mühe kann man sich sparen.
Markus Gabriel: Alles, was Sie gerade gesagt haben, ist nach Ihren Standards Metaphysik. Es handelt sich um das alte Problem. Ist es wahr, dass wir keine Wahrheit, sondern Annäherungen an die Wahrheit haben, weil das eine Annäherung an die Wahrheit ist? Oder ist das eine Wahrheit? Woher wissen Sie das, was Sie sagen?
Stefan Klein: Das ist jetzt ein raffinierter Schachzug.
Markus Gabriel: Ja, das ist an dieser Stelle der entscheidende.
Stefan Klein: Nun, Sie verschieben jetzt die Frage nach der Wahrheit des Satzes, ob da ein Dalmatiner ist oder ob da draußen ein Benz oder ein BMW steht, auf die Frage nach der Wahrheit des Metasatzes über das Wesen der Wahrheit überhaupt. Aber wir haben gerade über Autos da draußen geredet. Die Frage ist also zunächst, ob wir uns darüber einigen können: Unter welchen Bedingungen, genau ist der Satz „da steht ein BMW“ wahr? Wenn wir uns, einigen können, dann haben wir genwonnen. Wenn nicht, reden wir aneinander vorbei.
Markus Gabriel: In der Tat muss man auf zwei Ebenen reden. Die eine betrifft die Frage, die Sie mir zu Recht darüber stellen, wie Wahrheit funktioniert hinsichtlich der Frage, ob da ein BMW ist oder Dalmatiner sind oder Up-Quarks sind oder ob man Kinder töten soll oder nicht und wie weit der Mond entfernt ist. Da stellt sich also die Frage, wie man damit umgeht. Ich bin realist in all departments. Die andere Frage ist aber, ob der folgende Satz wahr ist: Wahrheit gibt es immer in allen Fällen nur so, dass wir uns ihr nähern. Der Satz kann glaube ich nicht wahr sein, weil er, nach dem, was sie ausgesagt haben, nicht auf sich selbst zutrifft. Sie betreiben damit also selbst Metaphysik. Der Satz ist nämlich ein metaphysischer Satz.
Stefan Klein: Diesen Einwand gestehe ich Ihnen zu. Aber wie Sie selbst sagen, hat er wenig mit den Autos und Quarks da draußen zu tun. Im Übrigen ist ja auch nicht so, dass mich Metaphysik nicht amüsieren würde. Sie macht mir Spaß. Ich glaube aber, man muss sich ganz genau angucken, wo sie sinnvoll ist und wo nicht. Und ich glaube, Sie fangen viel zu früh an mit der Metaphysik. Sie beginnen damit nämlich schon bei den BMWs, den Dalmatinern und meinetwegen auch den Up-Quarks.
Markus Gabriel: Das ist richtig.
Stefan Klein: Damit habe ich ein Problem. Und das, obwohl ich tatsächlich glaube, dass es eine Wissenschaftstheorie ganz ohne Metaphysik nicht gibt.
Brauchen wir die Philosophie?
Julika Jänicke: Haben die Naturwissenschaften ein anderes Handwerkszeug, ein anderes Rüstzeug, um sich der Wahrheit zu nähern, als die Philosophen?
Stefan Klein: Na klar! Wir haben Experimente und Empirie. Und wenn ich etwa, um ein wirklich lebensfernes Beispiel zu bringen, sage, dass es Up-Quarks gibt, dann muss ich auch ganz genau darlegen, wie ich sie gefunden habe. So funktioniert jede naturwissenschaftliche Arbeit. Und ich kann an der Realität scheitern. Wenn also ein anderer meine Anweisungen befolgt, sich auch einen Teilchenbeschleuniger baut, aber meine Ergebnisse nicht reproduzieren kann und es dem nächsten genauso geht, dann wird man sagen, dass dieses Konzept unsinnig ist. Das machen Philosophen, scheint mir, anders.
Markus Gabriel: Ich glaube nicht, dass Philosophen das anders machen. Ich glaube, man kann in der Philosophie genauso an der Realität scheitern, indem man nämlich inkohärente Theorien vertritt, Ambivalenzen erzeugt usw. Nehmen wir das berühmte Wort „sehen“, mit dem wir angefangen haben. Da kann man schnell in Fallen tappen. Wenn ich beispielsweise erst in die Sonne und dann auf eine weiße Wand schaue, sehe ich etwas Grünes. Die Frage ist, ob ich da wirklich etwas sehe. Es scheint also mindestens zwei Sinne von „sehen“ zu geben. Im einen Sinn sehe ich dort nichts, weil andere es nicht sehen.
Ein Sinn von „sehen“ besagt, dass man nur das sehen kann, was andere auch sehen. Der andere Sinn ist der, den wir eigentlich halluzinieren nennen.
Wenn sie da nicht aufpassen, vertreten selbst Naturwissenschaftler in der Beschreibung dessen, was die Naturwissenschaft tut, metaphysisch verworrene Thesen. Deshalb sind sich meines Erachtens die Philosophie und die Naturwissenschaft an dieser Stelle sehr viel näher, als beide das manchmal gerne hätten.
Stefan Klein: Das denke ich auch. Und ich glaube um Gottes willen keineswegs, dass Philosophie überflüssig ist. Wir brauchen sie dringend – denken Sie nur an die Deutung von Ergebnissen der Hirnforschung. Ich fürchte nur, dass uns die Philosophie selbst uns keine Antworten gibt. Sie kann uns aber sehr wohl dabei helfen, die richtigen Fragen zu stellen. Außerdem kann sie uns nützlich sein, weil sie Methoden entwickelt hat, Argumentationen aufzudröseln und allzu weitreichende Schlüsse zu vermeiden.
Markus Gabriel: Genau.
Stefan Klein: Sie kann uns eine gewisse Demut lehren.
Julika Jänicke: Die Philosophie ist also hilfreich beim Stellen, aber nicht beim Beantworten von Fragen?
Stefan Klein: Es geht nicht nur um das Stellen von Fragen, sondern auch um das Entlarven von Scheinantworten. Ich möchte ein schrecklich einfaches Beispiel bringen, das mich seit inzwischen fast 15 Jahren verfolgt, da ich bekanntlich einmal ein Buch über das Glück geschrieben habe. Es vergeht also keine Veranstaltung, ohne dass irgendjemand fragt: Wie kann ich eigentlich glücklich sein, wo ich doch soviel Unglück in meinem Leben hatte? Das ist ein ganz elementares Beispiel dafür, wo Sprachphilosophie hilfreich sein kann, weil wir in unserer schönen deutschen Sprache das Wort Glück nun mal für zwei vollkommen unterschiedliche Dinge gebrauchen. Nämlich einerseits für eine Emotion und andererseits für Lebensumstände.
Und genauso kann die Philosophie sehr hilfreich sein, wenn es zum Beispiel darum geht, die Ergebnisse irgendwelcher Experimente mit bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung einzuordnen. Manche Neurobiologen beispielsweise sind ganz schnell darin zu sagen: „Oh, es gibt ja gar keinen freien Willen. Das zeigen unsere Bilder.“ Da kann, soll und muss die Philosophie den Finger in die Wunde legen. Sie kann zunächst bemängeln, dass überhaupt nicht dargelegt wird, was mit freiem Willen eigentlich gemeint ist. Zweitens kann sie, wenn Neurobiologen zu einer Definition des freien Willens gefunden haben sollten, fragen, ob die Experimente wirklich zeigen, was da behauptet wird. Die Antwort darauf ist übrigens fast immer nein. Da sympathisiere ich also ganz stark mit den Philosophen. Ich habe allerdings meine Schwierigkeiten mit der Philosophie, wenn sie ihrerseits anfängt, metaphysische Aussagen zu treffen.
Markus Gabriel: Ich stelle ein paar metaphysische Aussagen auf, die wenig spektakulär sind, aber über die man vielleicht dennoch streiten müsste: Als Caesar den Rubikon überschritt, hatte er eine gerade Anzahl an Haaren auf seinem Kopf. Auch das ist wahr oder falsch, aber nicht verifizierbar.
Julika Jänicke: Vor allem aber nicht relevant.
Stefan Klein: (lacht) Das sowieso nicht.
Markus Gabriel: Die meisten Wahrheiten sind nicht relevant, auch wenn man das im Allgemeinen denkt. Einige sind selbstverständlich sehr wichtig. Die Wahrheit über den Kapitalismus würde uns, denke ich, alle interessieren. Oder die Wahrheit über den Klimawandel, die Wahrheit über die Überbevölkerung etc.
Ist es insgesamt für das Überleben der Menschheit schädlich oder weniger schädlich, dass sie den Kapitalismus befördert? Das ist meines Erachtens eine halbwegs legitime und, etwas präziser formuliert, sicher auch eine sehr spannende Frage.
Die richtigen Fragen stellen
Stefan Klein: Ich möchte aber auf Caesar zurückkommen. Er hatte zweifellos entweder eine gerade oder eine ungerade Anzahl von Haaren auf dem Kopf. Aber diese Erkenntnis führt uns nirgends hin. Und zwar nicht nur deswegen, weil es für mein Leben oder die Zukunft des Kapitalismus usw. herzlich egal ist, sondern weil wir es, wie Sie richtig sagen, niemals herausfinden werden. Warum soll ich mir über etwas, das ich nie herausfinden werde, Gedanken machen?
Markus Gabriel: Das ist eine legitime Frage, gegen die ich erstmal wenig einzuwenden habe. Vielleicht ist es sinnvoll zu sagen, das sollte man nicht. Das hinge aber von der Frage ab. Bei vielen Fragen halte ich es nämlich durchaus für sinnvoll, dass wir uns Gedanken über sie machen, obwohl es irgendwie so scheint, als könnten wir sie nie beantworten. Nehmen wir mal an, wir wollten herausfinden, ob es Gott gibt.
Stefan Klein: Das Spiel können wir gerne spielen. Allerdings sehe ich nicht, wie wir uns darüber einigen könnten, was jemand eigentlich meint, wenn er die Frage nach Gott stellt.
Markus Gabriel: Schon. Aber nehmen wir mal an, das ließe sich präzisieren. Beispielsweise aus Sicht eines Monotheisten. Der Monotheist könnte damit meinen, dass sich jemand in einem Dornbusch zu Wort gemeldet, dass jemand gesagt hat: Du sollst nicht töten, samstags nicht arbeiten und keinen Sex mit Nachbarinnen haben, die verheiratet sind. Und nett zu deinen Eltern sein, weil du übrigens sonst gesteinigt wirst. Auch das steht da.
Stefan Klein: Das steht da alles.
Markus Gabriel: Das Ganze ist völlig widersprüchlich, aber das ist eine andere Sache. Gab es da also einen Gott? Das ist meines Erachtens genauso unverifizierbar wie die Anzahl der Haare Caesars beim Überqueren des Rubikon. Ich persönlich wäre jedenfalls extrem überrascht, wenn ein komisches Dokument zutage käme oder wir eine Zeitreise machen könnten und da wirklich eine Stimme im Dornbusch wäre.
Stefan Klein: Ich auch. Aber das ist alles rettungslos hypothetisch.
Julika Jänicke: Naturwissenschaftler und Philosophen würden mit der Stimme im Dornbusch sicher unterschiedlich umgehen. Wie würden Sie als Philosoph ihr denn begegnen?
Markus Gabriel: Ich würde wohl versuchen, kurz eine Rückfrage zu stellen. Aber vielleicht wäre es auch ratsam, das nicht zu tun. Moses hat ja gefragt, woraufhin Gott ihm seinen Arsch gezeigt hat. Das ist eine sehr lustige und unterschätzte Episode. Der Humor des Alten Testaments wird generell unterschätzt. Moses vertritt in der berühmten Szene ganz kurz eine gewissermaßen naturwissenschaftliche Einstellung und sagt: Ich möchte dich sehen, sonst glaube ich hier gar nichts. Darauf entgegnet ihm Gott etwas wie: Meinetwegen, das kannst du haben. Daraufhin zeigt er ihm, wie da im Hebräischen steht, seinen Arsch, seine Rückseite. Und es ist nicht der Rücken gemeint.
Anschließend ist Moses für eine Woche blind.
Stefan Klein: Cool.
Markus Gabriel: Danach fragt Gott: Möchtest du mich wirklich sehen? Und Moses entgegnet, dass ihm das reiche. Das ist eine meiner Lieblingsszenen.
Stefan Klein: Und da ist vor allem eine tiefe Weisheit in dieser Szene, denn im Grunde genommen heißt das ja: Es hat keinen Sinn, bestimmte Fragen zu stellen, sonst kriegst du den Arsch gezeigt.
Markus Gabriel: Richtig, ganz genau.
Stefan Klein: Genau das macht aber, um ein bisschen polemisch zu sein, die Philosophie Ihrer Bauart.
Markus Gabriel: Na, meiner auf gar keinen Fall. Einige mögen das machen. Ich selbst habe eine Auffassung von der Philosophie, die man aus heutiger Sicht sehr deflationär nennen könnte. Das heißt, ich glaube nicht, dass die Philosophie uns einen tiefen Einblick in das Universum verschafft, den andere nicht haben. Ich glaube nicht, dass der Physiker einen eigenen Einblick ins Universum und der Philosoph sozusagen einen etwas tieferen hat. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Philosophie zum Beispiel Aussagen belegen kann wie: Es gibt nicht nur das Universum, es gibt nicht nur die Natur. Oder dass man philosophisch die Existenz von Immateriellem beweisen kann.
Stefan Klein: Okay. Aber was wollen Sie damit sagen?
Markus Gabriel: Na, insofern gehen da schon Thesen mit einher. Die bescheidene These, dass die Philosophen einfach nur ein bisschen die Verwirrungen der Naturwissenschaftler aufklären, kann ich nicht vertreten. Das ist zwar auch eine ganz wichtige Funktion der Philosophie, aber darin erschöpft sie sich nicht.
Stefan Klein: Ich habe ja selbst ein längere Liebesbeziehung mit der Philosophie. Gerade deswegen weiß ich aber, dass Philosophen haufenweise Fragen stellen, die für den Arsch sind. Und die Frage nach der Zahl der Haare auf Caesars Kopf ist da noch eine relativ harmlose. Und das ist meine Kritik an ihr. Nun haben Sie haben ja gerade ein weiteres Fass aufgemacht, nämlich die Frage nach dem Materialismus. Die ist wiederum sehr interessant.
Markus Gabriel: Ich persönlich glaube, dass das mit dem Materialismus ein bisschen schief ist. Versuchen wir es mal mit einer richtigeren These: Es gibt nur dasjenige, von dem unsere beste zukünftige Naturwissenschaft zeigen kann, dass es existiert.
Stefan Klein: Hm.
Markus Gabriel: Naturwissenschaft meint hier also idealisierte Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft, die wir nicht haben, weil unsere jetzige Naturwissenschaft messy ist. Da geht alles durcheinander – je nachdem, wen man fragt. Von den Stringtheoretikern bekommt man andere Antworten als von den Quantenphysikern. Und die Commonsensical-Physiker grenzen sich beispielsweise von den theoretischen Physikern ab. Es ist also keineswegs so, als gäbe es da die Naturwissenschaftler, die alle ein gemeinsames Weltbild teilen. Da herrscht ein ähnliches Durcheinander wie in der Germanistik oder in der Soziologie.
Stefan Klein: Mit dem Unterschied allerdings, dass unser Sauhaufen gar nicht so schlimm ist, weil es in der Naturwissenschaft trotzdem Erkenntnisfortschritt gibt. Schließlich verfügen wir über eine empirische Methode, die uns selbst dann voranbringt, wenn wir eigentlich gar nicht so genau wissen, was wir tun. Ich finde diese Methode ganz toll – unter anderem deswegen, weil ihre eigenen Grenzen kennt. Darum bin ich Physiker geworden.
Man macht Versuche und bemüht sich erst gar nicht um die letzte Verallgemeinerung. Man sagt beispielsweise: Wenn ich ein Glas Wasser ganz, ganz ruhig halte, dann kann ich es auf minus drei Grad Celsius kühlen, ohne dass es gefriert. Das ist eine wahre Aussage. Sie betrifft aber nicht die Struktur der ganzen Welt, sondern nur ein bestimmtes Setting.
The Big Bang Theory und Einstein
Julika Jänicke: Wenn ich mal ganz laienhaft ein Beispiel aus The Big Bang Theory anführen darf: Da gibt es immer den Streit zwischen der theoretischen Physik, der angewandten Physik und den Ingenieuren. Der theoretische Physiker Dr. Sheldon Cooper bildet sich beispielsweise wahnsinnig viel darauf ein, eben genau keine Experimente zu machen, sondern gewissermaßen …
Markus Gabriel: … Gedankenexperimente.
Julika Jänicke: Damit ist der theoretische Physiker doch eigentlich viel näher am Philosophen.
Markus Gabriel: Genau. Er ist Metaphysiker. Ich würde sogar sagen, dass Einstein in seinen Grundzügen schlichtweg Metaphysiker ist.
Stefan Klein: Nein, nein, nein. Gerade auf Einstein trifft das nicht zu. Und wenn Sie den Beweis besichtigen wollen, dann fahren Sie einfach nach Potsdam und steigen dort auf den Einstein-Turm von Erich Mendelsohn, was übrigens auch r ein ästhetisches Erlebnis ist. Denn dieses Sonnenobservatorium wurde in den 20er-Jahren gebaut, um die Gültigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie zu testen. Am Anfang stand ein ganz präziser Gedanke: Wenn Einstein Recht hat, muss man eine bestimmte Ablenkung des Lichts beobachten können. Kann man sie nicht beobachten, dann ist das umso schlimmer für die Theorie.
Markus Gabriel: Das ist wahr.
Stefan Klein: Und da genau liegt der Unterschied. Das ist keine Metaphysik.
Markus Gabriel: Das möchte ich auch nicht bestreiten. Ich wollte nicht sagen, Einstein sei kein Physiker, sondern auch Metaphysiker. Er hat unter anderem die Bedeutung der Ausdrücke Raum und Zeit geändert, indem er uns gezeigt hat, dass wir darüber anders nachdenken können. Daraus folgte anschließend viel. Er hat auch eine Umstellung vorgenommen, die metaphysischer Natur ist. Er war also nicht einfach nur Physiker.
Stefan Klein: Okay, gut.
Markus Gabriel: Ich möchte damit sagen, dass es diese Grenze, obwohl die Vorstellung weit verbreitet ist, nicht gibt. Die Physik agiert ja nicht einfach nur lokal. Das tut sie zugegebenermaßen auch, und das ist auch überhaupt kein Streitgegenstand. Wenn ein Physiker etwas tut, tut er halt etwas. Aber dann stellt sich die Frage, was das bedeutet. Auch als Physiker muss man sich dazu äußern. Man erhebt ja nicht nur Daten, sondern hat eine Theorie.
Stefan Klein: Das ist ja richtig. Ich glaube auch, dass der Erkenntnisfortschritt in der Physik zum Beispiel von wilden Spekulationen getrieben ist. Und die Auseinandersetzung mit philosophischen Themen kann sehr hilfreich sein, um die Spekulation in Ganz zu bringen. Aber was immer dabei herauskommt, muss sich eben am Experiment messen.
Markus Gabriel: Ja, nehmen wir Newton. Ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass Newton den ersten großen Schritt dessen repräsentiert, was man würdigerweise die Physik nennt. Das wäre meine Auffassung. Vorher gab es sie nicht so richtig. Und was hat Newton gemacht? Newton war der Meinung, dass es einen absoluten Raum und eine absolute Zeit gibt, weil das Sensorien Gottes sind.
Stefan Klein: Genau.
Markus Gabriel: Das war für ihn sehr wichtig.
Stefan Klein: Schön und gut. Allerdings würde diese Meinung heute kein Physiker mehr vertreten.
Markus Gabriel: Genau. Weder sind Raum und Zeit absolut, noch sind sie Sensorien Gottes. Das ist klar…
Stefan Klein: … seit Einstein mit seiner Relativitätstheorie gezeigt hat, dass sie eben nicht absolut sind. Ich gebe Ihnen schon Recht: Es mag manchmal lange dauern, bis bestimmte Aussagen entkräftet werden. Aber es passiert. Und es haben viele Leute über Raum und Zeit nachgedacht, über die kein Mensch mehr redet. Wenn Einsteins Theorie nicht so verdammt gut gewesen wäre, würden wir heute auch nicht mehr über Einstein reden.
Die Gesetzmäßigkeiten der akademischen Welt
Markus Gabriel: In der Philosophie gibt es – unter anderem als Ergebnis von Gedankenexperimenten – durchaus Fortschritt. Ich bin davon überzeugt, dass die Philosophie genauso eine Wissenschaft ist wie jede andere und sehe überhaupt nicht, dass viele Philosophen sie nicht so betreiben würden. Auf eines können wir uns aber vielleicht einigen: In der Physik oder in den Naturwissenschaften allgemein ist es nicht so leicht wie in der Philosophie, in der Sache schlecht zu sein und trotzdem anerkannt zu werden. Das ist ein soziologisches Problem, und ich möchte auch gar nicht bestreiten, dass das so ist in der Philosophie. Da geht es etwa um die Berufbarkeit, um Karrierestrategien und Seilschaften.
Stefan Klein: Ich glaube, da haben Sie Recht. Bei uns geht es zumindest schneller, bis der Schwindel auffliegt.
Markus Gabriel: Ich glaube, dass die Philosophie genauso eine Wissenschaft ist wie alle anderen. Dass sie mehr tut, als nur die richtigen Fragen zu stellen. Dass sie uns zum Beispiel auch darauf hinweist, dass der Materialismus falsch ist. Dass sie sich neben den Naturwissenschaften auch mit den Sozial- und Geisteswissenschaften beschäftigt. Die Theologie oder die Germanistik sind für die Philosophie ebenso wichtig wie die Physik oder Neurobiologie. Aus philosophischer Perspektive ist das eine nicht weniger wert als das andere.
Stefan Klein: Ihr Buch über die Welt, die es angeblich gar nicht gibt, habe ich jedenfalls wirklich gerne gelesen, schon weil ich Popularisierungen mag und es Verve hat. Aber es gab viele Punkte, in denen ich Ihnen nicht folgen konnte. Beispielsweise beschreiben sie darin den Materialismus so, wie Sie es gerade getan haben, nämlich als die Behauptung, dass es in der Welt überhaupt nichts anderes gäbe als materielle Dinge. Aber wer sagt denn sowas? Das ist doch eine Schießbudenfigur, die Sie da aufbauen. Kein Mensch, der bei Sinn und Verstand ist, würde heute noch einen so primitiven Materialismus vertreten. Selbstverständlich gibt es zum Beispiel Staaten, Gedanken und Träume. Das bestreitet auch Stephen Hawking nicht, den Sie da als angeblich verblendetsten aller Physiker präsentieren. Was wirklich vielmals behauptet wird, ist, dass nur materielle Gegenstände ursächlich sind in der Welt. Das ist aber eine andere Behauptung. Wir treffen keine Aussage darüber, was es für Dinge in der Welt gibt, sondern über welche Theorien man sich Gedanken machen muss. Also machen Sie uns doch bitte nicht blöder, als wir sind!
Markus Gabriel: Ich würde aber auch den Satz bestreiten, dass nur materielle Dinge ursächlich sind.
Stefan Klein: Gut, das kann man, wie ich glaube, sogar mit Fug und Recht bestreiten. Ich bin mir da selbst nicht so sicher. Und darauf kann man dann eine interessante Materialismusdiskussion aufbauen. Aber zu sagen, dass diese bösen oder seelenlosen Naturwissenschaftler einem die Träume und Fußballsiege wegnehmen …
Markus Gabriel: … und die Staaten.
Stefan Klein: Na ja, ob das jetzt so schlimm ist.
Markus Gabriel: Das hängt vom Staat ab.
Stefan Klein: Wie auch immer, aber das fand ich insgesamt unfair. Und vor allem unrichtig.
Markus Gabriel: Ich würde zum Verhältnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaften abschließend sagen, dass sich beide nur zusammen wirklich klug machen. Wir müssten dann allerdings noch die anderen Geisteswissenschaften ins Boot holen. Ich glaube, die Philosophie ist weder eine Natur- noch eine Geisteswissenschaft, sondern einfach eine Wissenschaft. Sie verhält sich zu allen Wissenschaften so ähnlich wie die Mathematik zu den Naturwissenschaften. Es handelt sich einfach um die allgemeinste Wissenschaft. Daraus folgt nicht, dass sie die beste ist. Wo allerdings die anderen Wissenschaften etwas behaupten, was mit der philosophischen Einsicht auf ihrem höchsten Niveau inkompatibel ist, da greift sie ein. Und das passiert im Moment häufig, weil aus soziologischen Gründen in einer gewissen Öffentlichkeit den Naturwissenschaften etwas zugemutet wird, was sie nicht erfüllen können, nämlich die Religion zu ersetzen. Wir haben eine Auffassung von Aufklärung und Moderne, die es uns nahelegt, dass wir an die Stelle der Religion jetzt die Naturwissenschaft setzen sollen. Meiner Ansicht nach führt das zu heftigen politischen Problemen, die wir gerade in Form von Religionskriegen erleben. Das ist das Problem, das ich vor Augen habe. Das ist sozusagen der Gegner.
Stefan Klein: Dem kann ich erstaunlich weitgehend zustimmen. Die Religionskriege würde ich aber gerne ganz außen vor lassen, weil das in meinen Augen mit unserer augenblicklichen Debatte herzlich wenig zu tun hat. Die Naturwissenschaft als Religionsersatz – das sehe ich im Moment nicht, auch wenn man uns das gerne vorhält. Ich glaube, das ist eine weitgehend unbegründete Polemik. Schließlich übernimmt die Religion ganz andere Funktionen als die Naturwissenschaft, die überhaupt kein Religionsersatz sein kann und faktisch auch nicht ist.
Sehr schön finde ich aber die Parallele zwischen der Philosophie und der Mathematik als allgemeine Wissenschaften. Sie scheint mir auch sehr treffend. Die Philosophie trifft, genau wie die Mathematik, Aussagen über bestimmte logische Operationen, die gehen oder eben nicht gehen. Was uns meines Erachtens beide weiterbringt, ist eine gewisse Demut: Die Demut seitens der Naturwissenschaftler, vorsichtig mit den Schlüssen zu sein, die sie unter anderem öffentlich aus ihren Erkenntnissen ziehen. Und die Demut von Philosophen, sich mit metaphysischen Aussagen sehr zurückzuhalten und sich auf das zu beschränken, was Sie bereits gesagt haben, nämlich allgemeine Strukturen des Denkens zu untersuchen.
Markus Gabriel: Das würde ich exakt so unterschreiben.
Fotos: Benjamin Vieth
Stefan Klein
Stefan Klein, geboren 1965 in München, ist der erfolgreichste Wissenschaftsautor deutscher Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg und forschte auf dem Gebiet der theoretischen Biophysik. Seine vielfach ausgezeichneten Bestseller „Die Glücksformel“, „Alles Zufall“, „Zeit“, „Da Vincis Vermächtnis“ und „Der Sinn des Gebens“ machten ihn auch international bekannt. Stefan Klein lebt als freier Schriftsteller in Berlin. (Quelle: S.Fischer Verlage)
Foto: Alexander Labes
Ich frage mich, welchen Sinn es hat, eine solche Diskussion zu führen, und welchen, sie lesend zu verfolgen, wenn die Diskutanten in entscheidenden Punkten nicht wissen, wovon sie reden und deshalb Unsinn verbreiten. Welchen „Unsinn“? 1. „Newton war der Meinung, dass es einen absoluten Raum und eine absolute Zeit gibt, weil das Sensorien Gotte sind“. Mindestens drei Fehler finde ich in dieser Aussage von Markus Gabriel, der Stefan Klein („genau!“) zustimmt. Erstens: Newton war nicht „der Meinung“…“, sondern hat geometrisch bewiesen, dass es Raum und Zeit absolut (als Maßstäbe), aber auch, dass es sie relativ gibt (als Messwerte relativ zu den Maßstäben). Daraus folgt, zweitens, dass er nicht behauptet hat, es gebe diese Absoluta, „weil (!) das Sensorien Gottes sind“. Drittens: Newton hat nie behauptet, Raum und Zeit seien „Sensorien Gottes“. Was er gesagt hat, ist, dass man sie „tamquam“, d. h. „gewissermaßen“, „als ob“ … in diesem Sinne auffassen kann.
Ed Dellian, Berlin, Herausgeber von Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Felix Meiner Hamburg 1988, in vierter Auflage 2016 bei Academia Verlag Sankt Augustin; Herausgeber von Galileo Galilei., Discorsi, Felix Meiner Hamburg 2015.