Johannes Böhme über Erinnerung und Wunschdenken

„Die Wahrheit wird in Familienerzählungen fast unvermeidlich verzerrt, verschoben, manchmal gänzlich neu erfunden.“ Johannes Böhme hat sich auf die Suche nach der Wahrheit in seiner eigenen Familiengeschichte gemacht. Lange nach dem Tod seiner Großmutter las er die Liebesbriefe, die ein gewisser Hermann Bartens ihr aus dem Krieg geschrieben hatte. Der letzte Brief stammt aus Stalingrad im Januar 1943. Weshalb Recherchen zu dem, was die Verwandten im Krieg gemacht haben, eine frustrierende Angelegenheit sein können, aber dennoch notwendig sind, erzählt Böhme in seinem Essay. 

Johannes Böhme, Das Unglück schreitet schnell

Es gab am Anfang nur wenige überlieferte Details über den ersten Mann meiner Großmutter. Ich wusste nicht viel mehr, als dass er die große, nie entzauberte Liebe ihres Lebens war. Einige Eckdaten kannte ich ebenfalls: Dass er sie 1937 geheiratet hatte, in der kleinen mittelalterlichen Kirche von Groß-Hehlen. Dass er 1943 in Stalingrad verschollen war. Dass er Hermann geheißen hatte; Hermann Bartens. Und dass er zwei große Ordner Briefe an meine Großmutter hinterlassen hatte. Der Rest bestand aus Vermutungen, kleinen Erinnerungsfragmenten, Hinweisen, die aus Bemerkungen meiner Großmutter zusammengeklaubt worden waren. Das Meiste davon war, wie ich inzwischen weiß, falsch.

Wir haben in meiner Familie oft drüber geredet, dass man die Briefe, die Hermann Bartens meiner Großmutter geschrieben hatte, doch endlich einmal lesen müsste. Mehrere hundert hatte meine Oma aufbewahrt. Und nach ihrem Tod wanderten sie auf den Dachboden meiner Eltern. Immer kam etwas dazwischen – Arbeit, Urlaube, Geburtstage, der Garten, – immer war irgendetwas anderes wichtiger. Irgendwann, an einem Nachmittag im Spätsommer 2017 haben wir sie dann das erste Mal hervorgeholt. Wir fingen an zu lesen, ganz hinten im Ordner, kurz vor dem Ende, bei einem Brief, in dem Hermann sich darüber beschwerte wie hässlich er es fand, in der trockenen Steppe vor Stalingrad. Und irgendwie passierte dann etwas, das ganz oft passiert, wenn man unvorsichtigerweise in fremde Leben einliest: es fällt schwer aufzuhören.

Und damit begann die große Revidierung der Erinnerungen an diesen Mann: In meiner Familie hatte man immer vermutet, dass Hermann Bartens im Krieg in der SS gewesen war. Nein, war er nicht. Er sei Nazi durch und durch gewesen; nur im Bundesarchiv ließ sich keine NSDAP-Mitgliedsakte von ihm finden, obwohl die Akten mit dem Anfangsbuchstaben „B“, wie mir der freundliche Archivar mitteilte, sehr gut erhalten seien.

Er habe davon geträumt, nach dem Ende des Krieges in die Ukraine zu ziehen, auf einen Bauernhof, den er sich von denen nehmen wollte, die vertrieben oder ermordet worden waren. Aber in seinen Briefen fand sich kein solcher Herrenmenschentraum (was nicht heißt, dass er ihn nicht doch geträumt hat).

 

Johannes Böhme, Das Unglück schreitet schnell

Hat der Schnee bei Hermann Erinnerungen wachgerufen, an jenen Winter, acht Jahre zuvor, an den er – damals noch alleinstehender, manchmal etwas einsamer, frisch beförderter Feldwebel – so zarte Erinnerungen hatte?

 

Er sei eine Zeitlang in der SA gewesen – was immerhin der Wahrheit nahe kam: Tatsächlich hatte er sich 1928 als Berufssoldat in der Reichswehr verpflichtet. Im Winter 1933, kurz nach der Machtübernahme, wurde er für einige Wochen abgestellt, um als Ausbilder SA-Einheiten zu trainieren. Mitglied in der SA war er nie, auch wenn die Fotos aus jener Zeit auf eine Fraternisierung hindeuten, die weit über den professionellen Eifer eines Ausbilders hinauszugehen schien und eine gewisse Begeisterung verriet für das, was die Männer in den braunen Uniformen verkörperten: Auf den Fotos jener Zeit trug er Hakenkreuzbinde und den SA-Anzug.

Die Wahrheit wird in Familienerzählungen fast unvermeidlich verzerrt, verschoben, manchmal gänzlich neu erfunden. So klar der deutsche Blick, zumindest in den allermeisten Fällen, inzwischen auf die großen Linien des zweiten Weltkrieges ist, so verschwommen bleibt der Blick auf die eigene Familie.

Als Forscher der Universität Bielefeld 2018 eine Studie vorstellten, für die sie etwas mehr als 1000 Deutsche unterschiedlichen Alters nach der Familiengeschichte im dritten Reich befragten, bekam man einen allzu deutlichen Einblick in den Nebel der Familienerinnerungen, in dem die Meisten einfach das sahen, was sie gerne sehen wollten. Auf die Frage „Waren Vorfahren von ihnen unter den Tätern des Zweiten Weltkrieges?“ antworteten nur 12 Prozent, mit jener Antwort, die in der Mehrzahl der Fälle die einzig ehrliche gewesen wäre: dass sie es nicht wüssten. 69 Prozent behaupteten dagegen, dass es in ihren Familien keine Täter gegeben habe. Sie beantworteten sie mit reinem Wunschdenken; mit einer Gewissheit, die sie in den allermeisten Fällen nicht haben konnten.

Was sich zeigte, waren nicht nur die ganz und gar normalen Defekte des Gedächtnisses. Sondern noch etwas anderes: eine unangebrachte Nachsicht, eine Sanftheit des Blickes, eine Verweigerung, auch in meiner Generation, sobald es um die eigenen Großeltern ging.

Dabei hatte die Enkelgeneration Anlass zu großen Hoffnungen gegeben. Von ihr erwartete man, dass sie kühl abwägen würde. Dass sie Schuld benennen würde. Dass sie frei sein würde vom emotionalen Ballast. Als während der Wehrmachtsausstellung in den 1990ern „intergenerationelle Gespräche“ stattfanden, war den Organisatoren die vermeintliche Abgebrühtheit der Enkelgeneration fast etwas unheimlich. Sie bemerkten damals: „Insofern könnte man zufrieden sein, dass hier Jüngere nüchtern, kritisch und distanziert reagierten – regte sich nicht der Verdacht, dass sich hier auch Anzeichen fehlender Empathie und emotionaler Betroffenheit verrieten.“ Aber bereits während der Wehrmachtsausstellung traten bei den Enkeln alte, längst überwunden geglaubte Makel auf. Die Organisatoren der Mehrgenerationengespräche notierten damals über die Reaktion der Enkel: „Insgesamt erstaunte uns aber das Ausmaß an Ablehnung der Thesen der Ausstellung und ähnlicher wissenschaftlicher Urteile des Begleitprogramms.“

Womit konnte diese Ablehnung erklärt werden, wenn nicht mit der Tatsache, dass auch die dritte Generation sich schlicht weigerte das Bild ihrer Großeltern mit dem der Mörder in weißrussischen und ukrainischen Wäldern zusammenzubringen? Dass sie ein Mindestmaß an historischer Aufrichtigkeit gerade dort verweigerten, wo mit der Wehrmacht der Schritt ins Private, in die eigene Familiengeschichte hinein, getan wurde?

Vielleicht handelte es sich aber auch einfach um den Ausdruck einer gewissen intellektuellen Bequemlichkeit: Der Weg des geringsten Widerstandes war und ist es, die Ungewissheit mit einem Glaubensbekenntnis zu ersetzen. Einfacher allemal, als die tatsächliche faktische Unterdeterminiertheit auszuhalten.

 

Johannes Böhme, Das Unglück schreitet schnell

„Es gibt ein Foto von den beiden am Tag der Hochzeit. Er in Ausgehuniform, Waffenrock mit Portepee und Abzeichen auf der Brust, sie mit einem Kranz im Haar und einem etwas merkwürdigen weißen Schleier, der ihr wie zwei Zöpfe von den Ohren absteht.“

 

Recherchen zu dem, was die Verwandten im Krieg gemacht haben, können eine frustrierende Angelegenheit sein. Klarheit, in die eine wie die andere Richtung, ist in den meisten Fällen nicht zu erreichen. Täterschaft lässt sich, solange Opa kein ausgemachter Schlächter war, so gut wie nie beweisen. Aber je mehr Zeitzeugenberichte, Feldpostbriefe und militärische Unterlagen man liest, desto eher stellt sich zumindest eine Ahnung ein; dass gewisse oft wiederholte Beteuerungen Lügen waren, dass sie mehr wussten als sie später zugaben, dass sie gewisse, enthusiastisch verlebte Zeiten später verleugneten. Dass Dinge passierten, in ihrer direkten Umgebung, dass ein Massenmord stattfand vor ihren Augen, in dem weder Kleinkinder noch Greise geschont wurden und den sie schlechterdings nicht übersehen konnten.

Die Eltern meiner Oma lebten nur wenige Meter entfernt von den Bahngleisen in Celle, wo sie, wie alle im Viertel, etwas von den Zügen mitbekommen haben müssen, Viehwaggons voll mit abgemagerten Menschen, die auf dem Weg ins wenige Kilometer entfernte Konzentrationslager Bergen-Belsen an ihrer Kleingartenparzelle vorbeirollten. Mein Urgroßvater nahm ausgerechnet im Jahr 1942 seine Arbeit als Lokomotivführer wieder auf, wie ich in den Briefen von Hermann an meine Großmutter nachlesen konnte. („Seine Lokomotive war ihm doch auch stets was Hohes“, schrieb er ihr.) Was er in jenen Jahren in seinen Güterwaggons transportierte, hat er nie erzählt.

Beigetragen zum Phantasma der Unschuld – gerade bei Soldaten der Wehrmacht – hat auch die Fiktionalisierung des Krieges. Die Werke der deutschen Nachkriegsliteratur zum Beispiel, in denen Landser die Protagonisten sind, wurden fast ausschließlich in den letzten Kriegsmonaten angesiedelt, in die Zeit kurz vor oder während des militärischen Zusammenbruchs, in die Jahre 1944 und 1945. Die Männer mit denen die Leser sich identifizieren sollten, waren oft bereits Bekehrte, die den Nationalsozialismus als große Verirrung erkannt hatten. Es waren verbitterte, desillusionierte, junge Gestalten, die durch zerbombte Städte irrten und die vor allem: endlich klar sahen. In ihnen, den gnadenlos in der Endphase des Krieges verheizten, erkannten die Leser dankenswerter Weise nicht nur Täter sondern zu mindestens gleichen Teilen Opfer. Es war das Muster von Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, von Heinrich Bölls „Wo warst du Adam?“, von Erich Maria Remarques „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“. Es ist eine Konvention im fiktionalen Schreiben über die Wehrmacht, die bis heute dominiert: In letzter Zeit bedienten sich Arno Geigers „Unter der Drachenwand“ und Ralf Rothmanns „Im Frühling sterben“ eben dieses Musters.

 

Johannes Böhme, Das Unglück schreitet schnell

„Zunächst gab er sich noch Mühe, der Tristesse Ausdruck zu verleihen: ´Gestern hatten wir mal wieder schöne Stunden, den ganzen Tag herrlichsten Sonnenschein. Heute ist es schon wieder vollkommen anders. Aus dem Wetterloch bläst es kalt und rau und wirft dicke Regentropfen gegen die Scheiben.`“

 

Was gleichzeitig auffällig unergründet geblieben ist in der Belletristik der Nachkriegszeit, die meine Schullektüre dominierte, ist ausgerechnet die Innenperspektive derer, die am Anfang von Krieg und Holocaust standen – und die das Ende vor Ruinen oft gar nicht mehr erlebt haben. Jene Männer also, die bis in den Winter 1941/42 vor Kriegsenthusiasmus, Kriegerstolz, Überlegenheitsglauben, Hochmut und militärischem Pflichtgefühl nur so überquollen – und von denen sich ein guter Teil nie ganz von diesen Gefühlen verabschiedet hat. Der überwältigende Teil der Wehrmachtssoldaten hat den Krieg gegen die Sowjetunion trotz erheblicher materieller Unterlegenheit gerade deshalb so lange aufrechterhalten, weil sie an ihn mit aller Kraft geglaubt haben.

Hermann Bartens schrieb im August 1942, aus der Steppe vor Stalingrad, an meine Großmutter: „Nun sieht man stündlich dem Ernste der Jetztzeit ins Auge. Alle Minuten gingen unsere, dem Russen Tod und Verderben bringenden, Flieger über uns hinweg. In letzter Stunde war der Russe aber auch mit seinen Aeroplänen auf unserer Seite. Es erfüllte ein ständiges Dröhnen und Platzen von Bomben die Nacht. Der Russe ist sehr hartnäckig auf der Erde und in der Luft. Dennoch wird er den stärkeren Schlägen unserer Soldaten nicht standhalten können. Es wird an dem feigen Mute der Bolschewisten ein Ende sein.“ Er hat diese Haltung, diesen Glauben an die eigene Überlegenheit nie zurückgenommen, auch dann nicht, als er im Kessel von Stalingrad bereits mehrere Wochen lang kaum etwas zu Essen hatte. Die Einsicht Teil eines verbrecherischen Unternehmens gewesen zu sein, war von ihm, wie von vielen anderen, nicht zu bekommen.

Ihre Weigerung lebt ausgerechnet in der Leichtgläubigkeit der Enkel fort. In ihrer Unfähigkeit das Schweigen als etwas anderes als eine Entlastung zu deuten. In ihrem Mangel an Fantasie. Darin, dass sie die Zärtlichkeit ihrer Großväter als hinreichenden Beweis dafür nahmen, dass diese zu gewissen unaussprechlichen Dingen nie in der Lage gewesen seien.


 

Johannes Böhme hat die Merkwürdigkeit seiner Großmutter nie durchschaut, ihre Marotten fand er anstrengend, ihre Ängste irrational. Lange nach ihrem Tod liest er die Liebesbriefe, die ein gewisser Hermann Bartens aus dem Krieg geschrieben hat. Der letzte Brief stammt aus Stalingrad im Januar 1943. Mit den Briefen begibt er sich auf eine Reise in die Vergangenheit, folgt Bartens Spuren durch verwüstete Landschaften im Süden Russlands. Voller Poesie erzählt Johannes Böhme von der Suche nach Hermann Bartens, dem Lächeln seiner Großmutter, einer verschwundenen Katze und von den Spuren, die Gewalt hinterlässt.

Johannes Böhme

Johannes Böhme

Johannes Böhme, Jahrgang 1987, im Kreis Pinneberg aufgewachsen, was fast schon Hamburg ist, aber auch nur fast. In Maastricht am Liberal Arts College Politik und Philosophie studiert, Auslandssemester an der University of California, Berkeley. Master in Politischer Theorie und Ideengeschichte in Cambridge. Von Januar 2015 bis Juni 2016 Teilnehmer des 36. Lehrgangs der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Seit September 2016 Freier Journalist. Pauschalist bei brand eins, Autor u.a. für Die Zeit, Süddeutsche Zeitung Magazin und Geo.

Foto: © Jacob Schnetz

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