Majgull Axelsson: „Es war möglich, die Welt zu verändern!“

„In Schweden waren wir, im Gegensatz zu Deutschland, immer gut darin, die unangenehmen Teile unserer Vergangenheit zu verbergen. Wir fürchten sehr unsere eigene Schuld. Deshalb gab es eigentlich nie eine wirkliche Diskussion darüber, was uns dazu brachte, ein Jahrzehnt ums andere Menschen mit geistiger Behinderung in Anstalten zu sperren. Wovor hatten wir so große Angst? Warum mussten wir sie unsichtbar werden lassen?“ Majgull Axelsson über ein Thema, das sie seit über fünfzig Jahren umtreibt und dem sie nun ihren Roman „Dein Leben und meins“ widmet. 

Axelsson_Dein Leben und meins_Ullstein_resonanzboden

Majgull Axelsson. Portraitfoto: (c) Cato Lein

 

Die Arbeit an diesem Buch begann schon lange bevor ich überhaupt zu glauben wagte, dass ich eine Schriftstellerin werden könnte.

Als Schriftstellerin ist man gezwungen, sich in Geduld zu üben. Man weiß, bestimmte Bücher müssen geschrieben werden, denn sie liegen ungeschrieben im Hinterkopf und beschweren sich, aber gleichzeitig weiß man, dass es nicht immer so einfach ist, dem Inhalt die richtige Form zu geben. Das kann tapfere Jahrzehnte dauern, bis man sich traut, die Aufgabe in Angriff zu nehmen.

So geschehen mit Dein Leben und meins. Es dauerte fast fünfzig Jahre, bis ich loslegte. Die Arbeit an diesem Buch begann nämlich schon lange bevor ich überhaupt zu glauben wagte, dass ich eine Schriftstellerin werden könnte, in dem Jahr, das so oft für uns Ende der 40er-Jahre geborenen als magisch bezeichnet wird. 1968. In diesem Jahr beschlossen wir, unsere Anwesenheit auf diesem Planeten deutlich zu markieren. Die Demonstrationen schwappten in Wellen von Paris aus über ganz Europa und erreichten auch uns am Rande des Kontinents. In Stockholm besetzten Studenten ihr eigenes Studentenzentrum (was eigentlich in sich schon sehr merkwürdig war) und es gelang ihnen, den damaligen Bildungsminister Olof Palme dorthin einzuladen, um allgemein für das Elend des Kapitalismus beschimpft zu werden. Aber: Nicht alle in meiner Generation waren Studenten. Ich selbst war beispielsweise einige Jahre zuvor von der Schule geflogen, was mich jedoch nicht störte. Trotzdem war ich Journalistin bei einer richtigen Zeitung in einer mittelgroßen Stadt wie Norrköping geworden. Und da ich zu diesem Zeitpunkt bereits fast ein ganzes Jahr als Journalistin gearbeitet hatte, fühlte ich mich unendlich routiniert …

Dann bekam ich eines Tages den Auftrag, über die Einweihung von etwas zu schreiben, das sich FUBs Tageszentrum nannte. Bevor ich mich auf den Weg machte, checkte ich schnell die Fakten: FUB war die Abkürzung für Föreningen Utvecklingsstörda Barn (Verein entwicklungsgestörter Kinder) und ein Tageszentrum war offensichtlich ein Ort, an den entwicklungsgestörte Kinder und Jugendliche tagsüber gehen konnten, um Freunde zu treffen und alle möglichen Arten von Förderung zu bekommen. Aha. Also fuhr ich dorthin, zog meinen Notizblock heraus und begann mich mit den Leuten zu unterhalten. Unter ihnen war ein Mann mittleren Alters mit einem Sohn, der nur wenige Jahre jünger war als ich. Der Junge hatte Down Syndrom. Der Vater erzählte mir, dass er und seine Frau sich geweigert hatten, den Sohn in einer Institution aufwachsen zu lassen, wie es die Ärzte ihnen empfohlen hatten, als der Junge geboren wurde, aber sich machten sich Sorgen, weil ihr Sohn so allein war. Er saß Tag für Tag zu Hause, Monat für Monat, Jahr für Jahr, fuhr niemals allein mit der Straßenbahn, war nie draußen gewesen und hatte immer allein gespielt. Der Junge selbst sagte nichts, er war so schüchtern, dass er mir nur einen kurzen Blick zuwarf, um sich dann schnell hinter dem Rücken seines Vaters zu verstecken. Mir fiel auf, dass die Kleidung des Jungen ziemlich schäbig aussah. Er war gekleidet wie ein Skifahrer aus den 40er-Jahren mit Filzjacke und Wollsocken, Stiefel und Schirmmütze. Vollkommen unmodern. Kein junger Mann, der selbst hätte entscheiden können, was er anzog, hätte sich im Winter 1968 für diese Ausstattung entschieden. Ich selbst fand mich äußerst schick im Mini und Kaninchenpelz (auch wenn ich zugeben muss, dass ich an den Knien fror). Ich war damals noch zu jung, um zu erkennen, dass die Menschen meistens in der Mode verhaftet bleiben, die aktuell war, als sie selbst jung waren. Viele Jahre später konnte ich das schließlich auch mir selbst gegenüber zugeben. Wenn die Eltern des Jungen der Mode der 40er verhaftet geblieben waren, so war ich das der Mode der 60er.

Tuberkulose und andere ansteckende Krankheiten verbreiteten sich über die endlosen Flure, Menschen wurde eingesperrt oder an ihren Betten festgeschnallt, weil niemand begriff, dass Verzweiflung manchmal wie Raserei aussehen kann und weil Männer aus dem Militär als geeignete Wärter angesehen und mit Schlagstöcken ausgestattet wurden.

Wie auch immer: Ich schrieb meinen Artikel über das Tageszentrum des FUB und schrieb später häufiger über die Reformen, die inzwischen im Namen der geistig Behinderten durchgeführt wurden. Norrköping bekam eine Spielothek, in der die Eltern pädagogische Spielsachen ausleihen und lernen konnten, wie man mit Hilfe von Spielen gewisse Fähigkeiten entwickeln konnte. Sonderschulen wurden für alle entwicklungsgehemmten Kinder geöffnet, selbst für die ohne Sprache, und gleichzeitig begann man darüber zu diskutieren, ob die düstere, geschlossene Anstalt Värnhem nicht aufgegeben werden sollte und durch ein offenes Heim zu ersetzen wäre, in dem alle Klienten kommen und gehen konnten, wie sie wollten. Gleichzeitig begann ich zusammen mit einem anderen Journalisten der Zeitung über einen Arzt an der Geburtsklinik von Norrköping zu schreiben, der üblicherweise alle Kinder mit der kleinsten Behinderung als Idioten abstempelte (was schon zu dieser Zeit eine ziemlich empörende Bezeichnung war) und jeweils empfahl, sie in eine Anstalt zu geben. Empörte Eltern ließen die Telefondrähte der Zeitung heiß laufen, so wichtig war es ihnen, über die Kränkungen zu berichten, denen sie von diesem Arzt ausgesetzt gewesen waren.

Es passierte also etwas. Die ganze Zeit. Aber man hatte ja auch noch ein Leben außerhalb der Arbeit, und eines Samstagabend im Sommer zog ich mir ein Minikleid an und machte mich bereit, auszugehen und mich zu amüsieren. Als ich in die Straßenbahn einstieg, entdeckte ich ihn fast sofort, und er sah mich. Unsere Blicke begegneten sich, wir erkannten uns wieder, nickten uns jedoch nur zu und murmelten ein kurzes Hallo. Ich ging ein paar Reihen weiter nach hinten und ließ mich auf einen leeren Platz sinken. Was für eine Veränderung! Da saß dieser schüchterne Junge mit dem Down Syndrom in der ersten Reihe und fuhr ganz allein mit der Straßenbahn, ohne Vater oder Mutter in der Nähe. Außerdem war er schick und modern gekleidet, sah aus wie alle Jungs in dem Alter, die an einem Samstagabend ausgehen und sich amüsieren wollten. Vermutlich war er auf dem Weg zu irgendeinem Fest, dass der FUB organisiert hatte … Er war frei! Nach nur sechs Monaten. Er konnte so leben, wie er wollte! Es war möglich, die Welt zu verändern!

Für viele muss das wie eine Befreiung gewesen sein: Jetzt musste man sich Kinder mit geistiger Behinderung nicht mehr als lebendige Menschen vorstellen, jetzt konnte man sie in unreflektierte Objekte verwandeln.

Der Jubel an diesem Abend hat mich nie verlassen, aber auch nicht die Trauer über das, was vor dieser Zeit passiert ist. In den Jahren 1920 bis 1970 war Schweden das Land der riesigen Institutionen für diejenigen, die mit einer geistigen Behinderung geboren worden waren, und in diesen riesigen Institutionen erging es den Menschen furchtbar schlecht. Tuberkulose und andere ansteckende Krankheiten verbreiteten sich über die endlosen Flure, Menschen wurde eingesperrt oder an ihren Betten festgeschnallt, weil niemand begriff, dass Verzweiflung manchmal wie Raserei aussehen kann und weil Männer aus dem Militär als geeignete Wärter angesehen und mit Schlagstöcken ausgestattet wurden, die anzuwenden sie sich nicht scheuten. Außerdem – und das ist ein Skandal, den wir immer noch nicht richtig verwunden haben – wurden Menschen, die weder Ja noch Nein sagen konnten, einem gigantischen medizinischen Experiment ausgesetzt, dem sogenannten Kariesexperiment in der Anstalt Vipeholm in Lund. Es wurde 1948 ins Leben gerufen (nur drei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz) und beinhaltete, dass man vier Jahre lang die Insassen mit einer besonders klebrigen Sorte Bonbons fütterte, um zu erforschen, ob es wirklich stimmte, dass Zucker Karies verursachte. Erraten Sie, wie es gelaufen ist? Die Zähne eines großen Teils der Patienten in Vipeholm waren für den Rest ihres Lebens zerstört, während der Rest des schwedischen Volkes ihre Wanderung zu besserer Zahngesundheit antreten konnte.

In Schweden waren wir, im Gegensatz zu Deutschland, immer gut darin, die unangenehmen Teile unserer Vergangenheit zu verbergen. Wir fürchten sehr unsere eigene Schuld. Deshalb gab es eigentlich nie eine wirkliche Diskussion darüber, was uns dazu brachte, ein Jahrzehnt ums andere Menschen mit geistiger Behinderung in Anstalten zu sperren. Wovor hatten wir so große Angst? Warum mussten wir sie unsichtbar werden lassen? Eigentlich wissen wir das selbst nicht. Vielleicht war es die Rassenbiologie, die unter den Ärzten wie auch in den politischen Kreisen kursierte, wo entschieden wurde, was mit Menschen geschehen sollte, die nicht wie wir andere waren. Für viele muss das wie eine Befreiung gewesen sein: Jetzt musste man sich Kinder mit geistiger Behinderung nicht mehr als lebendige Menschen vorstellen, jetzt konnte man sie in unreflektierte Objekte verwandeln, in Wesen, von denen man sich einreden konnte, dass sie gar keine echten Beziehungen zu anderen hatten, nicht einmal zu ihren Eltern. Jetzt ging es darum, sie wegzugeben, sie zu vergessen und sich auf die richtigen Kinder zu konzentrieren. Die normalen Kinder. 1A-Kinder. Und vielleicht war es kein Zufall, dass diese Gedanken gerade in der Zeit der Hochindustrialisierung auftauchten, einer Zeit, in der wird nicht nur lernten, Waren auf die effektivste Art und Weise zu produzieren, sondern auch ein Alltagsleben mit ganz und gar rationalen Vorzeichen zu leben. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass das, was damals mit den Entwicklungsretardierten passierte, mich über das Böse dieser Zeit hat nachdenken lassen und mich außerdem dazu brachte, einzusehen, dass alle Zeiten eine Form des Bösen in sich tragen. Das Problem ist nur, dass man das Böse erst erkennt, wenn es zu spät ist. Vielleicht sollten wir deshalb versuchen, unseren Blick bewusst für das zu öffnen, was hier und heute passiert.

Was mich betrifft, so kann ich das nur mit Fiktion und Erzählungen tun. Und so wurde die Geschichte von Märit und ihren Brüdern geboren, die zu Mein Leben und deins wurde.

Der Text wurde von Christel Hildebrandt aus dem Schwedischen ins Deutsche Übersetzt.


Das Buch 

Majgull Axelsson_Dein Leben und meins_UllsteinMärit hat Norrköping über 50 Jahre nicht betreten – und keine Sekunde hat sie den Ort, an dem sie in den 60er Jahren ihre Kindheit verbracht hat, vermisst. An ihrem 70. Geburtstag kehrt Märit nun in ihre Heimatstadt zurück. Hier wurde damals ihr geistig behinderter Bruder Lars in ein Heim gegeben und kam grausam zu Tode. Nie wurde darüber gesprochen. Doch Märit will nicht länger schweigen. Sie muss sich ihrer Vergangenheit stellen – und die Bewohner ihrer alten Heimat dazu bringen, es ihr gleichzutun.

„Dein Leben und meins“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage 

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Majgull Axelsson

Majgull Axelsson gehört zu den derzeit erfolgreichsten Autorinnen Schwedens. Ihren Durchbruch hatte sie 1997 mit dem Roman Die Aprilhexe, für den ihr der renommierte August-Preis der schwedischen Verlegervereinigung verliehen wurde. Weitere Romane von ihr wurden ins Deutsche übersetzt. Als Journalistin hat sich Majgull Axelsson schon immer für gesellschaftliche Randgruppen interessiert und ihnen in ihren Büchern eine Stimme verliehen.

Foto: © Lein Cato

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