Martina Sahler: Das Wissen der Welt

Heute fällt es uns leicht, auf früheres Wissen zurückzugreifen. Dagegen galt es als absolute Neuheit, als Denis Diderot im 18. Jahrhundert die Summe des europäischen Wissens in 35 Bänden seiner Enzyklopädie zusammentrug. In „Die Zarin und der Philosoph“ widmet Martina Sahler sich der Epoche der Aufklärung und beleuchtet die Rolle Katharina der Großen als deren russische Vorreiterin und Mäzenin Diderots. Weshalb die beiden jedoch alles andere als ein Dream-Team waren, erzählt uns die Autorin in ihrem Recherche-Bericht.

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Denis Diderot (c) Gemälde von Louis-Michel van Loo, 1767 & Katharina die Große (c) Künstler unbekannt

 

Diderot fiel nicht wie andere Untergebene auf die Knie bei ihrem Anblick, sondern schüttelte ihr wie einem Pferdekutscher die Hand.

 

„Damit unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern gleichzeitig auch tugendhafter und glücklicher werden“: Der rastlose Philosoph Denis Diderot verfolgte ehrgeizige Ziele, als er 1747 begann, die Summe des europäischen Wissens zu sammeln und in Form einer Enzyklopädie zu veröffentlichen. Die Entdeckung dieses Werkes gehört zu den Highlights der Recherche zu meinem neuen Roman um die Historie von St. Petersburg. Während ich im ersten Band dieser Reihe (Die Stadt des Zaren) von Peter dem Großen und der Gründung der Stadt erzähle, stelle ich in Die Zarin und der Philosoph Katharina die Große zur Zeit der Aufklärung in den Mittelpunkt.

In unserem digitalen Zeitalter stellt es uns nicht vor Probleme, auf das Wissen von gestern und heute zurückzugreifen. Anders im 18. Jahrhundert, als sich Diderot in Paris daran wagte, die Erkenntnisse seiner Zeit in 35 Bänden zusammenzutragen, und damit sozusagen den historischen Vorfahren von Wikipedia erschuf.

Die ersten Bände der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers erschienen im Jahr 1751 und erweckten nicht nur die Aufmerksamkeit aller aufgeklärten Herrscher des 18. Jahrhunderts, sondern stießen auch auf ein breites Interesse in der Bevölkerung. Zur damaligen Zeit war die Veröffentlichung von enormer geistesgeschichtlicher Bedeutung, sie war das Hauptwerk der Epoche.

Ähnlich wie in der heutigen Wikipedia, gestalteten das Lexikon zahlreiche Autoren rund um die beiden Herausgeber, Organisatoren und geistigen Köpfe Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert. Zu den Verfassern gehörten zum Beispiel auch die prominenten Aufklärer Montesquieu und Rousseau. Einzigartig aber war, dass nicht nur Intellektuelle und Professoren ihr Wissen teilten, sondern auch Handwerker. Wer könnte besser die Funktionsweise einer Uhr erklären als der Uhrmacher? Wer die Vermessung der Welt besser darlegen als ein Kartograph?

Die Förderung der Bildung des Bürgertums gehört zum wesentlichen Merkmal der Aufklärung. Katharina II. in Russland verstand sich, wie ich in meinem Roman zeige, als eine Vorreiterin dieser Bewegung, die Licht auf den Kontinent bringen sollte. Sie reformierte das Schulsystem in Russland und förderte insbesondere junge Frauen. Das ehemalige Smolny-Kloster, das in meinem Roman die Hauptfigur Sonja besucht, wurde frühzeitig als Mädchenschule genutzt.

Katharina unternahm mehrere Versuche, Diderot zu sich nach St. Petersburg einzuladen. Aber erst, als dem Philosophen die finanziellen Mittel ausgingen und Katharina ihm Unterstützung zusagte, trat er die Reise nach Russland an.

Das Treffen war für beide Seiten enttäuschend. Diderot war entsetzt, mit welcher Hartnäckigkeit die Zarin die Leibeigenschaft verteidigte, die in völligem Widerspruch zu einer aufgeklärten Welt stand, und Katharina fühlte sich zunehmend provoziert von Diderots Einmischung in ihre Politik und nicht zuletzt auch von seinem saloppen Verhalten. Diderot fiel nicht wie andere Untergebene auf die Knie bei ihrem Anblick, sondern schüttelte ihr wie einem Pferdekutscher die Hand. Gemeinsam war ihnen aber der Wille, diese Enzyklopädie zu vollenden und zu verbreiten, weil sie erstmals die Vernunft und wissenschaftliche Methoden über den Glauben und Aberglauben stellte.

Katharina zeigte sich als überaus spendierfreudige Sponsorin, zumal Diderot verkündete, mit seinem Lebenswerk wolle er „die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse sammeln und sie den nach uns kommenden Menschen überliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei“. Ein buntes Sammelsurium entstand: Der Artikel über Absolute Monarchie stand gleichrangig neben Salzsteuer, Vaterland neben Genuss,  Empfindsamkeit neben Fanatismus, Aberglaube neben Staatsbürger, Korn neben Krieg.

Denis Diderot ist zwar nicht der titelgebende Philosoph meines Romans, aber seine philosophische Sicht auf die Herrscher seiner Zeit, auf Recht und Unrecht hat mich beim Entwickeln der Figuren und beim Ausarbeiten des Romans nachhaltig inspiriert. Den realen Diderot verbindet mit dem vor mir erdachten Stephan Mervier, den Friedrich der Große als Spion in den Winterpalast schickt, der Wunsch nach Veränderung hin zu Freiheit und Gleichheit. Sie bringen die Saat aus, die im weiteren Verlauf der russischen Geschichte keimen sollte, wie ich auch in den kommenden Romanen um die wechselvolle Historie der Stadt St. Petersburg zeigen werde.


 

Die junge Katharina krönt sich nach einem Putsch selbst zur Zarin. Sie sieht sich als Nachfolgerin von Peter dem Großen und will Russland nach Westen öffnen. Doch die Welt hält den Atem an, kann man der Deutschen auf dem Zarenthron trauen? Preußens König Friedrich II. schickt einen Philosophen nach Petersburg, um die Pläne der neuen Herrscherin auszuspähen. Stephan Mervier ist beeindruckt von Katharina, von ihrer Klugheit, ihrem Charisma, aber Russlands Rückständigkeit und das Elend der Leibeigenen machen ihn wütend. Dabei wächst der Widerstand im Winterpalast längst heran. Eine enge Vertraute Katharinas kämpft auf Seiten der Unterdrückten. Stephan verliebt sich in die mutige Rebellin, die in großer Gefahr schwebt. Denn die Zarin fördert zwar Fortschritt, Bildung und die Wissenschaften, aber ihre Herrschaft ist absolut, und sie setzt ihre Macht mit äußerster Härte durch.

Martina Sahler

Martina Sahler

Martina Sahler erfüllt sich mit ihrem Roman „Die Stadt des Zaren“ den persönlichen Traum, die Gründungsgeschichte ihrer Lieblingsstadt Sankt Petersburg zu erzählen. Mit ihren bisherigen historischen Serien hat sie viele begeisterte Leser gewonnen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

Foto: © Franz Hamm

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