Ruth Hogan: „Es war die ganze Sache mit dem Tod und dem Sterben.“

Morbid, makaber, gruselig, unheimlich – für viele Menschen ist der Friedhof ein Schauplatz düsterer Horrorgeschichten. Für Ruth Hogan ist er the place to be. An kaum einem anderen Ort fühlt sie sich so wohl wie auf dem Friedhof – und das schon seit ihrer Kindheit. Hier beschreibt die Autorin von „Vielleicht tanzen wir morgen“, welcher besondere Zauber für Sie vom Ort der Toten ausgeht.

Friedhof Ruth Hogan Ullstein

 

Ich war schon immer für einen guten Friedhof zu haben. Alles begann, als ich noch ein kleines Mädchen war. Das erste Auto meines Vaters war ein weißer Morris 1000 Traveller, und wir hatten die Angewohnheit, sonntagnachmittags eine Ausfahrt zu machen – Mum und Dad, meine Schwester und ich, Grandma Violet und Grandad Charlie. Charlie saß immer auf dem Beifahrersitz neben Dad, und wann immer wir an einem Friedhof vorbeikamen, kurbelte er das Fenster herunter und rief: „Irgendwelche Beschwerden?“ Da er nie eine Antwort erhielt, sagte er immer, dass die Toten wohl ein glücklicher Haufen sein müssten.

Ich erinnere mich, dass ein Teil der Anziehungskraft daher rührte, dass wir nicht dort hätten sein dürfen.

Ich denke also, dass es damit seinen Anfang nahm. Damit und mit der Tatsache, dass Friedhöfe ein bisschen tabu waren. Man kam vielleicht noch damit durch, über einen Kirchhof zu laufen, ohne gleich als seltsam zu gelten, aber Friedhöfe waren eine ganz andere Geschichte und sind es für manche noch immer. Morbid, makaber, gruselig, unheimlich sind Ausdrücke, die oft verwendet werden, um sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Aber für mich stellten sie sich nie so dar.

Unseren örtlichen viktorianischen Friedhof habe ich schon immer geliebt. Wir hingen dort als Kinder herum, obwohl wir eigentlich nicht durften. Es war uns zwar erlaubt, in den Park zu gehen, der auf einer Seite an den Friedhof grenzte, aber nicht auf den Friedhof selbst. Meine Schwester nahm mich immer dorthin mit, als sie fünfzehn und ich zwölf war, damit sie sich heimlich mit ihrem Freund treffen konnte. Wir packten unsere Tennisschläger ein und gaben vor, für Wimbledon zu trainieren, aber es war nicht die Liebe zum Sport, die meine Schwester im Sinn hatte. Sie zog den Friedhof dem Park vor, da es dort weniger Leute gab, die ihr endloses jugendliches Rumgeknutsche hätten sehen können.

Dieser Friedhof ist mein Zufluchtsort.

Ich durfte mir also die Zeit damit vertreiben, alleine über den Friedhof zu spazieren, was ich durchaus gerne tat. Ich erinnere mich, dass ein Teil der Anziehungskraft daher rührte, dass wir nicht dort hätten sein dürfen – der Reiz des Verbotenen. Und es war nicht einfach nur der Ort, es war die ganze Sache mit dem Tod und dem Sterben. Man sprach nicht darüber. Schon gar nicht vor Kindern. Mir ist schon früh klar geworden, dass die interessantesten Dinge genau die sind, über die Erwachsene nicht vor Kindern sprechen. Großvater Charlie starb, als ich sieben Jahre alt war, und ich erinnere mich, dass ich äußerst niedergeschlagen darüber war, nicht zu seiner Beerdigung gehen zu dürfen. Damals machte man das einfach nicht, Kinder auf Beerdigungen gehen lassen, aber dass ich davon ausgeschlossen wurde, stachelte meine Neugierde erst recht an.

Als Erwachsene war ich dann endlich in der Lage, meiner Leidenschaft für Friedhöfe nachzugehen. Vor ein paar Jahren habe ich mir zum Geburtstag von meinem Mann eine Reise zum Londoner Highgate Cemetery gewünscht, und Père Lachaise in Paris steht als nächstes auf meiner Wunschliste. Als wir in das Haus zogen, in dem wir noch immer wohnen, war einer der Gründe, die aus meiner Sicht für einen Kauf sprachen (obwohl ich bezweifle, dass das auch für meinen Mann gilt), die Nähe des Hauses zum Friedhof, und kürzlich wurde ich zu meiner großen Freude eingeladen, den Vorsitz des Friedhofs-Freundeskreises zu übernehmen.

Im Laufe der Jahre habe ich mit meiner Mutter auf dem Friedhof viele Picknicks genossen und stundenlange Spaziergänge mit meinen Findelhunden auf seinen sich friedvoll dahinschlängelnden Wegen gemacht, um sie wieder zu Kräften zu bringen. Dieser Friedhof ist mein Zufluchtsort. Er schenkt mir eine Seelenruhe, von der ich sicher bin, dass auch meine Hunde sie spüren und vieleicht sogar teilen können.

Wann immer ich spazieren gehe, schreibe ich gedanklich, und ein Friedhof ist sowohl für Plots als auch für Figuren ein fruchtbarer Boden, der meine Vorstellungskraft stets aufs Neue anregt. Jedes Grab hat eine Geschichte zu erzählen. Die knappen Angaben auf einem Grabstein sind so viel mehr als Namen und Daten. Sie sind der Abriss eines ganzen Lebens. Und überhaupt, die Namen – diese wunderbaren, wundersamen und manchmal geradezu zwielichtigen Namen. Ich habe von diversen Schriftstellern gehört, dass sie Friedhöfe als Quelle für die Namen ihrer Figuren nutzen.   

Jedes Grab hat eine Geschichte zu erzählen.

Diesen Orten, an denen wir unsere Toten begraben, wohnt ein ganz eigener Zauber inne, mit ihren hoch aufragenden Bäumen, ihren imposanten Grabmälern (die Engel sind mir die liebsten) und ihrer reichen Tierwelt. Der Friedhof hier vor Ort beherbergt Füchse, Dachse, Eichhörnchen, Spechte und den ein oder anderen Muntjak. Aber am liebsten sind mir die Krähen. Ich liebe es, wenn sie auf dem Gras herumstolzieren als seien sie die Piraten der Lüfte, und ich stelle mir die Bäume, in denen sie hausen, gerne als Masten ihrer Schiffe vor. Es sind intelligente und neugierige Vögel. Irgendwann fing ich an, sie mit Hundekuchen zu füttern, während ich über den Friedhof spazierte. Eine der Krähen folgt mir jetzt immer auf Schritt und Tritt und wartet auf ihren Kuchen. Der Friedhof rühmt sich außerdem eines raren und schönen Erdbeerbaums, an dem im Dezember wunderbare rosarote Beeren hängen, die aussehen, als wären sie aus Milchglas. Und im Winter liebe ich Friedhöfe am meisten; glänzend unter einer dünnen Frostschicht oder besser noch eingehüllt in eine Decke aus reinem weißen Schnee. Zauberhaft!

 

Dieser Text erschien erstmalig im englischen Original im Gloss Magazine. 


Das Buch

Maschas einziges Gefühl ist die Wassertemperatur beim morgendlichen Schwimmen. Seit dem Tod ihres Sohnes lebt sie wie unter Wasser. Erst die Begegnung mit der obdachlosen Sally Red Shoes rüttelt sie wieder wach. Sally hat alles verloren bis auf ihre Menschlichkeit. Und sie schärft Mascha ein: „Wenn die Musik für jemanden, den man liebt, endet, hört man nicht auf zu tanzen. Man tanzt für denjenigen mit.“ Als Mascha bei einem harmlosen Zusammenstoß den „Olympioniken“aus dem Schwimmbad näher kennenlernt, beginnt sie, jede Minute ihres Lebens zu genießen. Bis eines Tages die Vergangenheit an Maschas Tür klopft.

„Vielleicht tanzen wir morgen“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage

 

 

Ruth Hogan

Ruth Hogan

Ruth Hogan ist selbst begeisterte Sammlerin von Fundstücken. Sie lebt mit Mann und drei Hunden in einem etwas chaotischen viktorianischen Haus in Bedford, England. Ein schwerer Autounfall und eine Krebserkrankung brachten sie zum Schreiben. Die schlaflosen Nächte hat sie am Schreibtisch verbracht, das Ergebnis ist ihr erster Roman über das Finden von Dingen und Geschichten.

Foto: © Ben Crocker

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