Als Antonia Baum vor 20 Jahren bei ihrer Mutter eine Ausgabe von Benoîte Groults Salz auf unserer Haut entdeckte, war sie schockiert. Wieso war die Frau auf dem Cover nackt? Wer hatte warum Salz auf der Haut? Und warum las ihre Mutter etwas derartig Obszönes? Heute weiß sie, dass Groult in ihrem Roman das Bild einer freien, selbständigen Frau zeichnete und deshalb als Galionsfigur des Feminismus gilt. Wie sich die Geschichte der Pariser Intellektuellen George und dem bretonischen Fischer Gauvain aus heutiger Sicht liest und wie sich das Schreiben über die weibliche Sexualität verändert hat, schildert Antonia Baum im Nachwort der Neuausgabe des Klassikers von 1988.

„Salz auf unserer Haut“ (links aus dem Jahr 1988, rechts in der aktuellen Ausgabe) (c) Droemer Knaur/Ullstein
Eine ganz normale Girl-meets-Boy-Sache
Bei uns zu Hause, in diesem Akademikerhaushalt des oberen Mittelstands irgendwo in der westdeutschen Provinz, der sich aus einem berufstätigen Vater, einer ihren Beruf nicht ausübenden Mutter und vier Kinder zusammensetzte und dessen benachbarte Haushalte sich ebenfalls als Akademikerhaushalte des gehobenen Mittelstands, bestehend aus einem berufstätigen Vater, einer ihren Beruf nicht ausübenden Mutter und einigen Kindern, beschreiben ließen – in diesem Zuhause, bei uns, lag irgendwann Mitte der 1990er Jahre ein Buch auf dem Couchtisch, das ich sofort besorgniserregend fand. Darauf zu sehen war der Akt einer sitzenden Frau mit dunklen, offenen Haaren, die mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken legte und wirkte, als habe sie sich selbst vollkommen vergessen. Dabei stützte sie sich mit dem Arm auf dem Boden ab, wodurch sie ihre Brüste exponierte. All das wäre für die etwa zwölf Jahre alte Betrachterin, die ich damals war, vielleicht noch okay gewesen, aber zusammen mit dem irgendwie sinnlich-sexuell anmutenden Titel in weißen Großbuchstaben ergab sich ein bedrohliches Gesamtbild. Da stand: „Salz auf unserer Haut“. Wer hatte warum Salz auf seiner Haut? Das hieß ja, dass nicht nur die nackte Frau Salz auf ihrer Haut hatte, sondern mit ihr noch jemand, und der Botschaft des Frauenakts nach zu urteilen vermutlich nicht ich oder eines meiner Geschwister, oder mein Vater, denn der arbeitete ja die meiste Zeit, sondern ein anderer, ein fremder Mann. Wer war das und warum waren die Beteiligten nackt, fragte ich mich, denn sie mussten schließlich nackt sein, sonst konnte ja das Salz nicht auf ihre Haut kommen etc.
Wer hatte warum Salz auf seiner Haut?
Ich machte mir also eine Menge Gedanken, denn ich wusste, dass es meine Mutter war, die dieses Buch las, und ich wusste außerdem, dass sie auf mich oft keinen besonders glücklichen Eindruck machte und dass das etwas mit der Ehe, die sie führte, zu tun hatte. Ich aber wollte, dass sie sich auf keinen Fall vergaß, denn das hätte ja geheißen, dass sie uns vergaß. Nein, ich wollte, dass sie bei uns war, bei uns und meinem Vater, ich wollte, dass „uns“ wir bedeutete, für immer, und nicht sie und irgendein anderer Mann. In der naturgemäß konservativen Vorstellung eines zwölfjährigen Mädchens war sie Ehefrau und Mutter, sie sollte es bleiben, und dieses Buch, das ahnte ich merkwürdigerweise ziemlich zielsicher, war da kein guter Ratgeber. Ich schlich eine Weile darum herum, irgendwann schlug ich es auf, heimlich natürlich, ich las ein bisschen darin, ich verstand nicht viel, aber doch so viel, dass es um Sex ging, um Sex mit einem LIEBHABER, und ich fand es unmöglich. Solche Bücher sollte meine Mutter nicht lesen.
Erst heute, etwas mehr als zwanzig Jahre später, begegnete mir der Roman wieder, und ich las, welche Geschichte Benoîte Groult meiner Mutter damals erzählt hatte, und das ist, so könnte man bei oberflächlicher Betrachtung und aus heutiger Sicht als Mensch, der sich für aufgeklärt, modern und feministisch hält, zunächst meinen, eine ganz normale Girl-meets-Boy-Sache: Die Pariser Intellektuelle George beginnt Anfang der 1950er Jahre eine leidenschaftliche Beziehung zu dem bretonischen Fischer Gauvain, die sie über Jahrzehnte und zwei Ehen hinweg aufrechterhält, ohne dass für sie eine Ehe mit Gauvain je in Frage käme. Bei der Verbindung von George und Gauvain geht es nicht um gemeinsame Kinder, nicht um bürgerliche Versorgungsansprüche oder Besitz, nicht um die Bewältigung eines gemeinsam gelebten Alltags. Es geht nur und ausschließlich um die Liebe, die beide trotz des Klassenunterschieds füreinander empfinden, und um die körperliche Anziehung, die sie aufeinander ausüben, was konkret bedeutet: Es geht um Sex, viel Sex, ausschweifend, seitenweise und in expliziter Schilderung.
Als der Roman 1988 in Frankreich erschien, waren die überwiegend männlichen Kritiker entsetzt: Ein Rezensent des Nouvel Observateur vermutete unglaublicherweise, Groult, die übrigens schon 65 Jahre alt war, als sie Salz auf unserer Haut schrieb, sei „ungenügend gevögelt“, andere taten den Roman als Frauen-Porno ab oder weigerten sich, „aus Anstand“, daraus zu zitieren. Als das Buch dann ein Jahr später auch in Deutschland herauskam, waren die Reaktionen nicht ganz so entsetzt, möglicherweise, weil das die Franzosen schon übernommen hatten, kamen aber nie ohne den Hinweis darauf aus, was für eine Unglaublichkeit Groult da mit ihrem Roman abgeliefert habe („Paris ist schockiert“). Noch viel unglaublicher aber sei, dass „deutsche Frauen“ dieses Buch wie verrückt kauften: „Frauen geben plötzlich zu – unverhüllt: die Lust auf den Mann“ (Bunte, November 1989). Tatsächlich wurde Salz auf unserer Haut in Deutschland zehn Mal so oft verkauft wie in Frankreich und stand zwei Jahre lang auf Platz eins der Spiegel-Beststellerliste, was daran liegen könnte, dass im Westdeutschland der späten 1980er Jahre die Konstellation Haushalt mit berufstätigem Mann plus keinen Beruf ausübende Frau, die sich um die Familie kümmert, die Regel war und innerhalb dieser Konstellation viele Frauen sehr empfänglich für die Geschichte eines selbstbestimmten Frauenlebens mit aufregendem Sex waren – so erzählte es mir zumindest meine Mutter, als ich sie kürzlich fragte.
Es geht um Sex, viel Sex, ausschweifend, seitenweise und in expliziter Schilderung.
Zum Verkaufserfolg von Salz auf unserer Haut in Deutschland passt, dass Groult, als sie 2016 im Alter von 96 Jahren starb, hier überwiegend als die Verfasserin des „Erotik-Blockbusters der 80er Jahre“ in Erinnerung gerufen wurde und weniger als die prominente feministische Figur, die sie in Frankreich war und als die sie sich einsetzte für eine gender-gerechtere Sprache, für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dabei erzählen die posthume Kopf-tätschelnde Trivialisierung von Salz auf unserer Haut nach Groults Tod, indem man es zum Kitsch oder Erotik-Blockbuster degradierte, eigentlich die gleiche Geschichte wie das Entsetzen zum Erscheinen Buchs, und in dieser Geschichte geht es erstens um die totale Nichtzurkenntnisnahme der Lebenswirklichkeit vieler Frauen damals (und teilweise heute), und zweitens um das totale Nichterkennen dessen, was für einen Roman Groult da eigentlich geschrieben hat, wobei diese Rezeptionsgeschichte selbstverständlich wieder einmal die alte Geschichte der Banalisierung der Frau an sich erzählt.
Was aber erzählt Benoîte Groult? Was ist an diesem Roman, der, entgegen der trivialisierenden Lesart, auch regelmäßig als feministischer Klassiker apostrophiert wird, feministisch? Und was hat das mit uns heute, also mit der sogenannten Gegenwart, zu tun?
Dazu zunächst zwei Anmerkungen. Erstens: Ja, natürlich, Groults Roman könnte man als klassischen heterosexuellen White-Feminism bezeichnen. Es geht um eine privilegierte, weiße, heterosexuelle Frau, die sich ohne schlechtes Gewissen sämtliche Freiheiten nimmt. Was daraus folgt, weiß ich auch nicht. Vielleicht einfach nur, dass sich „der Feminismus“ (DEN ES, WIE WIR INZWISCHEN ALLE WISSEN, NICHT GIBT) glücklicherweise weiterentwickelt hat und sich also inzwischen auch für die Verschränkungen von Rassismus und Misogynie interessiert. Allerdings: was für eine merkwürdige Idee von den Bedingungen, unter denen Literatur entsteht, läge dieser an sich berechtigten White-Feminism-Feststellung zugrunde, wenn sie zum Vorwurf würde? Hallihallo, liebe Benoîte Groult aus dem Jahr 1988, hier spricht das Jahr 2019. Wir sind im feministischen Diskurs inzwischen leider schon ein bisschen weiter, können Sie bitte etwas anderes schreiben, ganz egal, ob das nun die Geschichte wäre, die Sie erzählen wollen oder müssen, weil Sie sie so, oder so ähnlich erlebt haben, und ganz egal, ob Salz auf unserer Haut literarisch was taugt oder nicht. Justieren Sie doch bitte Ihren Blickwinkel noch mal neu, denn sonst könnte es hier etwas Ärger geben, also, bitte, seien Sie so gut und nehmen Sie ein bisschen Rücksicht. Und darauf würde Benoîte Groult möglicherweise antworten: Rücksicht? George darf keine Rücksicht nehmen, das ist doch ihre Kernkompetenz!
Was ist an diesem Roman, der, entgegen der trivialisierenden Lesart, auch regelmäßig als feministischer Klassiker apostrophiert wird, feministisch?
Groult erzählte mit Salz auf ihrer Haut auch ihre Geschichte, wie sie erst viele Jahre später bekannt machte, ein literarisches Verfahren, das die Voraussetzung unzähliger Romane war (und weiterhin ist), und ihr nun vorzuwerfen, sie habe da aber ein völlig unbewusstes White-Feminism-Buch geschrieben, würde bedeuten, ihr die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie einst lebte, vorzuwerfen – ganz abgesehen davon, dass die Themen, die Salz auf unserer Haut verhandelt, eben noch immer ziemlich aktuell sind (dazu gleich). Und ganz abgesehen davon außerdem, dass die Art, wie Groult diese Geschichte erzählt, nämlich so leicht, so klug, so selbstironisch, unbedingt lesenswert ist.
Die zweite Anmerkung betrifft das Thema Kitsch, und hier muss man tatsächlich sagen, dass es in dem Roman Stellen gibt, die auf die Leserin von heute ein bisschen outdated wirken könnten: George will die Hoden von Gauvain „knuddeln“, sie fragt Gauvain, ob er „das gleiche Modell“ (seinen Penis) nicht eine Nummer kleiner habe, und wenig später wird Georges „weibliche Scham“ „zu einem Ozean, in dem man versinkt und stirbt“. Man liest das und schämt sich und ist damit auch eigentlich sofort bei einem der zentralen Themen von Groult angekommen: Es geht um die Frage, wie man gut über Sex schreiben kann, und vor allem darum, dass und wie man es als Frau tut. „Ich weiß, daß mir Lächerlichkeit auflauert, daß meine erlesenen Gefühle der Banalität nicht entkommen können und daß jedes Wort nur darauf wartet, mich zu verraten, jedes Wort: jämmerlich oder vulgär, fad oder grotesk, wenn nicht gar abstoßend“, erklärt sich die Erzählerin im Vorwort, um dann festzustellen, dass insbesondere das „Vokabular der weiblichen Lust“ „bestürzend armselig“ sei, selbst „bei den größten Autoren“.
Selbstverständlich hat die Erzählerin mit dieser Analyse völlig recht, was daran liegt, dass es in der Literatur (und nicht nur da) über lange Zeit hinweg und bis vor etwa fünf Minuten Männer waren, die für die Beschreibung weiblicher Körper und was mit ihnen angestellt wurde, zuständig waren, und es sich bei diesen Beschreibungen immer auch um Männerphantasien handelte. Indem Groult eine selbstbestimmte Frau genussvoll Sex haben und ihn beschreiben ließ, schlug sie gewissermaßen drei Fliegen mit einer Klappe: Sie ermächtigte eine Frau zur Erzählerin ihrer eigenen Lust, sie fand Worte, um das tabuisierte weibliche Geschlechtsorgan zu beschreiben, und sie zeigte eine Frau, die Sex hatte, weil er ihr Spaß machte und nicht, weil er von ihr erwartet wurde.
Sie zeigte eine Frau, die Sex hatte, weil er ihr Spaß machte und nicht, weil er von ihr erwartet wurde.
In einem Interview aus dem Jahr 1998 erklärte Groult, dass sie noch immer völlig fassungslos darüber sei, was Sigmund Freud, die weibliche Sexualität betreffend, alles von sich gegeben habe, etwa, dass Frauen grundsätzlich eine schwache Libido hätten und es ihr einziges Verlangen sei, Männern Freude zu bereiten (folgerichtig lässt Groult ihre Protagonistin George dann auch erkennen, dass ihre Beziehung zu Gauvain sie von Freude befreit habe). Der weibliche Körper, so Groult weiter, sei zu ihrer Zeit etwas Schreckliches gewesen, das man verstecken musste, weswegen sie 30 Jahre alt wurde, ohne je ein Wort über ihre Geschlechtsorgane verloren zu haben. In Salz auf unserer Haut lässt sie die Erzählerin ausführlich darüber nachdenken und zeichnet dabei ein sehr skeptisches, distanziertes Verhältnis: George findet „ihr Organ“ nicht wirklich hübsch, versucht es immer zu verbergen, indem sie „sorgfältig die Beine schloss“ und hat kein Wort dafür, das sie aus Scham nicht in Anführungszeichen setzen würde („Muschi“, „Möse“). Die Männer-Beschreibungen, die George in der erotischen Literatur findet („geistlose Spalte“, „eierstöckiger Wahnwitz“), machen es auch nicht besser, aber immerhin, George versucht sich von ihrer Scham zu befreien, sie sucht nach einer mal mehr, mal weniger gelungenen Sprache („Anemone“), auch auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen, und zwar, wie eingangs erwähnt, mit Ansage. Das Problem mit der Lächerlichkeit allerdings ist nicht allein die Schuld der Autorin – dabei geht es vor allem um Geschmacksfragen –, sondern liegt in der Natur der Sache: Wenn Frauen versuchen, sich abseits männlich geprägter Bilder von Weiblichkeit zu entwerfen, dann betreten sie damit immer sprachliches Neuland, das sich immer entlang der Grenzen des Körpers entwickelt und somit immer auch eine Einladung zum Voyeurismus ist, woraus sich, ob man will oder nicht, ein Machtgefälle ergibt, das es einfach macht, Frauen auf den für sie vorgesehenen Platz zu verweisen (in diesem Fall: „Frauen-Porno“, bzw. Kitsch). Das heißt: Für Groult (und alle Autorinnen, die den gleichen Versuch unternahmen) und ihr Vorhaben war der Mut zur Peinlichkeit allererste Voraussetzung, weil sie, anders als ihre männlichen Kollegen, nicht auf allgemein akzeptierte Beschreibungs-Codes und einen Kanon mit tausend Vorbildern zurückgreifen konnte.
„Es ist ein Erfolg der Emanzipationsbewegung, daß wir das Recht bekamen, über unsere Körper zu sprechen“, erklärte Groult zehn Jahre nach Erscheinen von Salz auf unserer Haut, wobei es tatsächlich allein sie war, die sich dieses Recht erteilte, und die Aufregung, die darauf folgte, vor allem zeigte, wie wenig selbstverständlich das, was man für selbstverständlich halten könnte, damals war. In Hinblick auf die Rezeption ihres Romans schrieb die Autorin in Meine Befreiung, sie sei auf so viel Scheinheiligkeit nicht gefasst gewesen: „Laut zu verkünden, man sei empört über ein Liebesabenteuer, bei dem weder Perverses noch Lasterhaftes, noch Folter vorkommt, nichts als eine stinknormale Beziehung, das beweist doch, dass man einer Romanschriftstellerin nicht die gleiche Freiheit oder das gleiche Vokabular genehmigt wie einem Mann.“
Nun könnte man als der aufgeklärte, moderne Mensch, für den man sich gern hält, vielleicht meinen, all das – also die fehlende Sprache für den weiblichen Körper und die Erzählung weiblicher Lust aus weiblicher Perspektive – sei heute, dreißig Jahre nach Erscheinen von Salz auf unserer Haut keine große Sache mehr. Aber wenn man sich die in letzter Zeit veröffentlichten Bücher und den aktuellen feministischen Diskurs ansieht, kommt man zu einem anderen Ergebnis: Noch immer geht es um die Beschreibung der Vulva und ihre Befreiung von Scham und Ekel (2018 erschien in Deutschland das Buch Viva la Vagina), und das Gleiche gilt für die Menstruation, die auch Groult in ihrem Roman thematisiert. Noch immer geht es um den Versuch, Sex zu beschreiben, der so ist, wie Frauen ihn wollen und nicht, wie Männer sich vorstellen, dass Frauen ihn wollen könnten, noch immer geht es um den Versuch, eine eigene Sprache zu finden (dafür nur zwei aktuelle Beispiele: M von Anna Gien und Marlene Stark, Sexuell verfügbar von Caroline Rosales). All jene Themen sind also noch immer präsent, was keine Überraschung ist, wenn man bedenkt, wie kurz der Zeitraum ist, seit sie zum Thema gemacht werden. Der Unterschied ist nur, dass sich heute, anders als bei Veröffentlichung von Salz auf unserer Haut niemand mehr darüber aufregt, woraus aber eben überhaupt nicht folgt, dass diese Themen erledigt wären.
Noch immer geht es um die Beschreibung der Vulva und ihre Befreiung von Scham und Ekel, und das Gleiche gilt für die Menstruation (…)
Und damit kommen wir zu der nächsten große Frage, die Groult in ihrem Roman aufwirft und um die es insbesondere in Deutschland noch immer geht: Wie schafft man es, eine Mutter und die Frau eines Mannes zu sein, ohne sich zu verhalten, wie sich Mütter und Frauen von Männern typischerweise verhalten, wenn sie Mütter und Frauen von Männern werden? Wie schafft man es, innerhalb dieser klassischen Konstellation ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben zu führen?
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Groult diese Frage beantwortet, indem sie mit George eine Protagonistin erschaffen hat, die genau das einfach lebt: Sie sucht sich einen Liebhaber aus, sieht ihn trotz Ehe und fester Beziehungen immer wieder, sie genießt die Beziehung zu Gauvain ohne schlechtes Gewissen, weder ihren Ehemännern noch ihrem Kind gegenüber (das interessanterweise in dem Roman kaum eine Rolle spielt, und es ist bestimmt zulässig, das als Statement zu lesen: Es geht nicht um George als Mutter, sondern um George als Frau). Groult lässt Gauvain und nicht George stärker darunter leiden, dass diese außereheliche Beziehung auf seltene Treffen beschränkt bleibt, und es ist ebenfalls Gauvain, der George heiraten möchte, nicht umgekehrt, wie es das geschlechterspezifische Stereotyp eigentlich vorsehen würde. Denn George sieht in der Tatsache, dass sie und Gauvain nicht verheiratet sind, die entscheidende Bedingung dafür, dass sie sich über Jahre hinweg so aufrichtig und leidenschaftlich lieben. Ob er wisse, was die beste Möglichkeit sei, um ihre Beziehung zu beenden, fragt George Gauvais einmal und sagt dann: „Wenn wir zusammen leben würden, endgültig (…).“
Tatsächlich kommt die Institution der Ehe bei Georges Ehe-Beobachtungen, die sich durch das gesamte Buch hindurch ziehen, überhaupt nicht gut weg, ja, man kann sie als eine Art Anti-Ehe-Aktivistin bezeichnen: Die Ehe ist für sie eine bequeme und „kuschlige Falle“, die die „Kluft zwischen den Geschlechtern“ nur weiter vertieft, in der Frauen einsam werden und ihr Unglück demütig und mit großer Leidensbereitschaft hinnehmen, ohne sich jemals entfalten zu können und ohne, dass man ihnen die Fürsorge für Mann und Kinder danken würde. In ihrer Autobiographie schrieb Groult die Ehe betreffend, dass es mit der Freiheit natürlich schwierig werde, wenn der „Unterdrücker“ gleichzeitig der Mann sei, den man liebe, außerdem der Vater der eigenen Kinder und in der Regel auch derjenige, der das Geld verdiene, was aber viele Frauen nicht daran hindere zu heiraten. Übertragen auf heutige Verhältnisse, könnte man diese Analyse für antiquiert halten, aber das stimmt leider überhaupt nicht: Sobald Kinder da sind, ist es in Deutschland regelmäßig die Frau, die beruflich zurücktritt (Teilzeit) und vor allem für die Familienarbeit zuständig ist, während der Mann das Geld verdient – eine Konstellation, die durch den Steuervorteil des Ehegatten-Splitting staatlich subventioniert wird. Die Folge ist ökonomische Abhängigkeit, was sich hervorragend an einer Studie der OECD aus dem Jahr 2017 ablesen lässt: In Deutschland tragen Frauen 22 Prozent zum Familieneinkommen bei.
Wie schafft man es, innerhalb dieser klassischen Konstellation ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben zu führen?
Auch Groult hat geheiratet (insgesamt vier Mal), George ebenfalls (zwei Mal). Und das Bild der selbstbestimmten, freien Frau, das in Salz auf unserer Haut entworfen wird, ist folgerichtig auch nur scheinbar ein ungebrochenes. Bemerkenswert ist, dass George sich nur auf die Ehe oder eheähnliche Beziehungen einlässt, wenn der jeweilige Mann aus ihrem akademischen Milieu kommt, und bemerkenswert ist außerdem, dass George sich innerhalb dieser Beziehungen immer wieder zu der Frau entwickelt, die sie eigentlich auf keinen Fall sein will, nämlich ein passives, schmerzerfülltes „dummes Huhn“, wie sie es formuliert. „Am Tag, an dem ich mir darüber klar wurde, daß ich fünf Jahre lang keinen anderen Mann angeschaut hatte als ausgerechnet den, der mir ständig Schmerz zufügte – eine Geisteshaltung, deren Banalität die Opfer, hauptsächlich die weiblichen, keineswegs zu entmutigen scheint –, war die Befreiung überwältigend und die Rekonvaleszenz genußvoll“, beschreibt George das Ende ihrer Ehe. Kurz nach dieser Befreiung beginnt sie eine Beziehung mit Sydney, einem Kollegen, der Literaturgeschichte unterrichtet, und stellt erschreckt fest, dass sie im Begriff ist, die Machtverhältnisse ihrer vorherigen Ehe wiederherzustellen: „Nach einem Jahr an Sydneys Seite war meine Redezeit um die Hälfte geschrumpft und meine Autorität total im Eimer. Bei Diskussionen im Kollegenkreis überließ ich ihm die Initiative des Themas, er unterbrach mich immer häufiger, um mir seinen Standpunkt unterzujubeln, und immer seltener hatte ich das letzte Wort.“ George erkennt diese Gefahr, sie erkennt ihre „Neigung“, sich dem „Lebensstil des anderen zu fügen“, die sie als Reflex, als einen „alte(n), überwundene(n) Erziehungsschaden“ bezeichnet, und dabei handelt es sich im Übrigen um einen weiterhin ziemlich stabilen Erziehungsschaden, mit dem Mädchen und Frauen bis heute zu tun haben. Jedenfalls schafft es George, sich räumlich von Sydney zu trennen, für den sie Zuneigung empfindet und mit dem sie die gleichen Interessen und ein Leben teilt, mit dem sie aber nur ganz normal-langweiligen Ehe-Sex hat, der mit dem leidenschaftlichen Gauvain-Sex nichts zu tun hat. George ist also eine Figur, deren Freiheit immer wieder in Gefahr ist, und diese Feststellung führt zu der zweiten Bedingung der selbstbestimmten, freien Beziehung, die sie mit Gauvain führt: dem Klassenunterschied.
Zwar ist George von Beginn an vollkommen verrückt nach Gauvain, aber es kommt für sie eben auch nie in Frage, ihn zu heiraten. Weil sie weiß, dass es das Ende ihrer Liebe bedeuten würde, aber auch und ganz wesentlich, weil Gauvains soziale Herkunft nicht zu ihrer passt. So sehr sie es genießt, mit ihm Sex zu haben, so wenig kann sie über seine Sprache (flucht viel), seine Kleidung (Blousons mit Glanzeffekt), seine schlechten Witze, seine Geschenke (Kissen bestickt mit den Sternzeichen der beiden) und sein Unverständnis gegenüber Kunst und Literatur hinwegsehen. Die beiden, so George, trenne alles, und auch, wenn sie sich gelegentlich wünscht, dass das anders wäre und er verstehen würde, was sie mit diesen Büchern die ganze Zeit will, hat diese Einsicht für George auch etwas sehr Befreiendes. Denn sie betritt den Schauplatz eben nicht als potentielle Fünfzigerjahre-Ehefrau, die sich an die Konventionen von Anbahnung und Führung einer ehelichen Schicksalsgemeinschaft halten muss, innerhalb der es zwangsläufig (und bis heute) irgendwann um Macht geht, nämlich um die Verteilung von Zeit, Geld und Unabhängigkeit – eine Rechnung, die damals (und bis heute) regelmäßig zu Gunsten der Männer ausfiel. George kann Gauvain als freie, unabhängige Frau begegnen, weil sie nicht seine Frau ist, die sie nicht sein will, weil sie die habituellen Unterschiede zu groß findet. Und gleichzeitig sind es genau diese Unterschiede, die ihn für sie so anziehend machen: „(Ich) wollte, daß er bei seinem Beruf blieb, daß er seinen Akzent, seine Kraft und seine Inkompetenz bewahrte. Wusste ich denn, ob ich ihn als Angestellten verkleidet (…) überhaupt noch lieben würde? Würde mir nicht der Glanz des Meeres in seinen Augen fehlen?“
Was ist so besonders an dieser ganz normalen Girl-meets-Boy-Sache, also an einer Frau, die gerne Sex hat, ihren Körper mag und die sich Egoismus erlaubt?
Jene „Inkompetenz“, als die George Gauvains herkunftsbedingte Unterlegenheit beschreibt, kann man als weitere Bedingung dafür verstehen, dass George sich in der Beziehung zu Gauvain nicht für Konventionen interessiert und außerdem nicht die klassische Frauenrolle der leidenden Geliebten einnimmt. Es ist eher Gauvain, der diesen Part übernimmt. Dagegen ist George die fortwährend Überlegene, nicht zuletzt, weil sie ein höheres kulturelles Kapital hat, ein Machtgefälle, das besonders deutlich wird, wenn sie ihn beschreibt: ihn, den „verwundbaren und verkappt leidenschaftlichen“ Fischer, der voller „Moralempfinden und Komplexe“ stecke. George fühlt sich in der Beziehung zu Gauvain sicher, autonom, machtvoll und ja, auch überlegen, so überlegen, dass sie ihrer für eine klassische Mädchensozialisation typischen Neigung, sich den Wünschen des Mannes zu fügen und unglücklich zu werden, nicht nachgibt. Und es ist interessant, sich in diesem Zusammenhang einmal daran zu erinnern, dass Frauen sich bei der Partnerwahl den Status betreffend tendenziell immer eher nach oben orientiert haben (bis heute, übrigens), und möglicherweise ist Groults Entscheidung, einmal die umgedrehte Konstellation zu erzählen, eine Antwort auf genau diesen gesellschaftlichen Zustand der „kuschligen Falle“. Eine Art Experiment, um zu zeigen, welche Freiheiten umgekehrte Verhältnisse für Frauen bedeuten können. In Georges Fall heißt das auch, dass sie sich während des Zusammenseins mit Gauvain über die Konventionen ihres sozialen Milieus hinwegsetzen kann: „Ich trage Kleider, die ich nach meiner Rückkehr sorgfältig werde verstecken müssen. Ich trage ein weiches Satinnachthemd (…) wie ich es im Zivilleben nie gekauft hätte.“ Denn Gauvain betrachtet sie weder mit Freud, noch mit bildungsbürgerlichen Geschmacksregeln im Hinterkopf, und das betrifft selbstverständlich auch den Sex, den die beiden miteinander haben. Und insofern ist Salz auf unserer Haut eigentlich so etwas wie eine pragmatische Sozialutopie: Freiheit für Frauen ist möglich, Liebe über soziale Differenzen hinweg auch, sie sind hier sogar die Bedingung der freien Frau Und das heißt: Ja, man kann sie leben, diese shakespearehafte Idee der Liebe nur der Liebe wegen – allerdings nur, solange man nicht versucht, zusammen einen bürgerlichen Weg zu gehen. Was für die Liebenden konkret bedeutet: weder Kinder, noch Hochzeit.
Nun ist es so, dass Geschichten, in denen besonders intensiv geliebt wird, für Frauen üblicherweise mit dem Tod enden (Emma Bovary, Anna Karenina, Justine und Julia, zum Beispiel), vermutlich historisch dadurch erklärbar, dass man irgendwie verhindern wollte, dass Frauen auf die Idee kommen könnten, sich selbst und die für sie vorgesehene Rolle zu vergessen (ein bisschen so wie ich, die nicht wollte, dass ihre Mutter Salz auf unserer Haut liest). Folgerichtig hat Benoîte Groult nicht George, sondern Gauvain sterben lassen, ein Ende auf das sie großen Wert legte. „Ich bin sicher, dass die Leser George viel herzergreifender gefunden hätten, wenn sie sich einer langen, schmerzlichen Psychoanalyse hätte unterziehen müssen, oder wenn sie unterwegs zu Gauvain bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre. Da hätten wir die schöne Geschichte einer tragischen Leidenschaft (…).“ Groult aber sei es leid gewesen, eine weitere unglückliche, an der Liebe verrückt gewordene Frauenfigur zu erzählen. Sie wollte eine Frau zeigen, die auch ohne ihren Liebhaber weiterlebt und zwar gerne, eine Frau also, die auch unabhängig von einem Mann und ganz für sich existiert.
Viele Menschen in Deutschland wollen sich in Hinblick auf die Geschlechtergerechtigkeit gern als modern und gleich sehen, weil das angenehm ist, während sie diesem gewählten Selbstbild faktisch aber gar nicht entsprechen.
Was soll daran so besonders sein, das ist doch selbstverständlich, schießt es mir da durch jenen Kopf, den ich für aufgeklärt, modern und feministisch halten will, während ich das schreibe. Was ist so besonders an dieser ganz normalen Girl-meets-Boy-Sache, also an einer Frau, die gerne Sex hat, ihren Körper mag und die sich Egoismus erlaubt? Was ist so besonders an einer Frau, die unabhängig und auch ohne Mann vollständig ist? Die Frage beruht auf einer Verwechslung: denn daran sollte vielleicht nichts besonders sein, daran ist aber noch immer eine ganze Menge besonders. Die Frankfurter Soziologin Ewa Palenga-Möllenbeck nannte diese Verwechslung kürzlich in einem Interview das Ergebnis einer rein rhetorischen Modernisierung: Viele Menschen in Deutschland wollen sich in Hinblick auf die Geschlechtergerechtigkeit gern als modern und gleich sehen, weil das angenehm ist, während sie diesem gewählten Selbstbild faktisch aber gar nicht entsprechen. Und wahrscheinlich ist das mit ein Grund dafür, dass Salz auf unserer Haut noch immer so gut zu unserer Gegenwart passt.
Meine Mutter hat sich übrigens, kurz nachdem ich den Roman zum ersten Mal auf unserem Wohnzimmertisch entdeckte, tatsächlich getrennt. Ich lag also mit meiner Vermutung nicht ganz falsch, wofür natürlich der Roman nichts kann, der war wohl eher so etwas wie eine begleitende Lektüre. Ich bin froh und dankbar, dass ich ihn jetzt, fast zwanzig Jahre später, gelesen habe. Wegen meiner Mutter und weil ich glaube, sie dadurch ein bisschen besser verstanden zu haben. Aber auch meinetwegen, weil dieses kluge, scharfsichtige Buch, das viel klüger und scharfsichtiger ist, als es ihm lange offiziell erlaubt war zu sein, mir durch die Vergangenheit einen Blick auf die Zeit, in der ich jetzt lebe, ermöglicht hat, einen Blick, der mich daran erinnert, wie sehr – ENTSCHULDIGUNG – Freiheit Arbeit ist, immer wieder von vorn.
Die Neuausgabe des Romans erscheint am 26.07. bei Ullstein.