Wie entsteht der erste Satz eines Kriminalromans? Stefan Ulrich braucht dafür erst einmal nur eine Stimmung, „die emporsteigt aus Erinnerungen und Phantastereien, Erlebtem und Erlesenem.“ Aber wie gelingt es, die im Urlaub eingefangene Stimmung zuhause in der Münchener Dachstube am Leben zu halten? In seinem Essay erzählt Stefan Ulrich von seinem Leben als Autor, Journalist und Familienvater.

Stefan Ulrich
Am Anfang ist weder das Wort noch die Tat. Bei mir nicht. Am Anfang ist nur eine Stimmung, die emporsteigt aus Erinnerungen und Phantastereien, Erlebtem und Erlesenem, Geträumtem und Erträumtem. Die gewittrig aufgeladene Luft der Maremma, vermischt mit dem Anblick einer Abteiruine zwischen Ginstergestrüpp und wilden Gräsern voller schwirrender Insekten. Die schwül-schrillen Nächte im römischen Feierviertel Testaccio oder ein leerer Sommermorgen auf dem Monte Parioli mit seinen verträumten Palazzi, vor denen ein Hausmeister mit hypnotischer Langsamkeit imaginäre Blätter vom Gehsteig fegt. Der Duft gebackener Stockfischfilets aus einer Osteria. Die Festigkeit des Sandes unter den Füßen auf dem Streifen des Strandes, den das Meer mit seinen längsten Wellen gerade beleckt. Es sind Stimmungen, die aus Italien aufsteigen, warum auch immer.
Die Protagonisten kenne ich bereits recht gut, weil sie Teile von mir in sich tragen, auch wenn sie ein anderes Leben führen.
Dann kommt ein Leitmotiv hinzu, das plötzlich da ist. Die Angst – bei meinem Krimi „Die Morde von Morcone“. Schönheit – beim Nachfolger „In Schönheit sterben“. Nun ziehen Figuren herauf, zögernd noch, wie Schauspieler, die am Rand der Bühne auf den Einsatz warten. Die Protagonisten kenne ich bereits recht gut, weil sie Teile von mir in sich tragen, auch wenn sie ein anderes Leben führen. Der Täter löst sich aus dem Bühnenhintergrund, gewinnt Statur und Eigenleben. Opfer steigen aus den Kellern des Theaters, anklagend, noch ohne den Grund für ihr Sterben zu verstehen. Komparsen treten auf, liebenswürdige und abstoßende Gestalten, Egozentriker, Samariterinnen, Liebhaberinnen, Köche. Handlungsstränge knüpfen sich. Ich lese viel, diskutiere mit meiner Frau, meinen Kindern, Freunden, dem Programmleiter vom Verlag, meiner Agentin, lasse sie prüfen, was glaubwürdig, was möglich ist, so wie man eine Suppe kosten lässt. Fehlt noch Salz? Oder ist sie schon zu scharf? Noch mehr einkochen lassen? Oder eher strecken? Ich reise an die Schauplätze der Geschichte – ein Hügelstädtchen in der Toskana, eine Trattoria in Rom. Mache Notizen, spreche ins Diktiergerät, fotografiere.
Gibt es genügend falsche Fährten?
Dann wird es ernst. Der Plot muss durchgearbeitet werden wie ein Teig, der wieder und wieder geknetet wird. Sind die Motive von Tätern und Opfern stark genug? Tragen die Nebenrollen? Wird die Botschaft klar, die aus dem Buch hervorgehen soll? Gibt es genügend falsche Fährten? Und versteckte Hinweise, die auf die Lösung des Falles hindeuten?
Erst jetzt kommen die Wörter. Es geht ans Schreiben. Zwei frühere Bücher habe ich nebenher verfasst, neben meiner Arbeit für die Süddeutsche Zeitung. Abends und nachts, an Wochenenden, im Urlaub. Das ging – an die Substanz. Daher versuche ich inzwischen, mir für jedes Buch einen unbezahlten Urlaub bei der Zeitung zu nehmen. Und dann ist plötzlich der Tag x da, von dem ich lange geträumt habe. Das ein- oder zweimonatige Sabbatical beginnt, ich bin frei, mich ganz auf mein Buch zu konzentrieren. Leben als Schriftsteller! Ich ziehe mich in einen Sarazenenturm über der Küste der toskanischen Maremma zurück. Dort stehe ich morgens um fünf Uhr dreißig auf, trinke einen doppelten Espresso und gehe eine halbe Stunde schwimmen. Um sieben Uhr sitze ich am Schreibtisch in dem kreisrunden Zimmer im Obergeschoss des Turmes und blicke hinaus aufs Meer und die Hügel. Dann lasse ich die Wörter fließen, von sechs Uhr bis ein Uhr mittags, stur wie ein Maultier, das um einen Brunnen stapft, um Eimer mit Wasser zu heben. Oder wie Thomas Mann und Steven King, leuchtende Vorbilder im Schreiben und in der Kunst der Selbstdisziplin.
… statt nun diszipliniert jeden Tag sechs Stunden zu schreiben, gebe ich mich haltlos jeder Ablenkung hin.
Nur: Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ich schreibe nicht in einem toskanischen Turmzimmer, sondern in einer Münchner Dachstube. Da das Fenster nach Süden ausgerichtet ist, habe ich ein Rollo aus Bambusstäben heruntergelassen, um nicht geblendet zu werden. So ähnelt meine Kammer eher einer Höhle, immerhin ist es ruhig hier. Doch statt nun diszipliniert jeden Tag sechs Stunden zu schreiben, gebe ich mich haltlos jeder Ablenkung hin. Die Hortensien im Garten müssten gedüngt werden. Den Speicher sollte ich aufräumen. Danach meine Eltern anrufen. Oder die Mails bearbeiten, die auch im unbezahlten Urlaub herein träufeln. Ich sortiere die Socken im Schrank, erprobe Rezepte fürs Mittagessen, lese die Zeitung. Danach gehe ich erst mal eine Runde Joggen.
Es gibt in dieser unrühmlichen Phase, die ich bei jedem Buch durchlebe, immer etwas, das dringlicher erscheint als das Schreiben. Stunden und Tage verrinnen, die erste Woche. Statt acht Normseiten muss ich nun zehn pro Tag schaffen, um das Manuskript pünktlich fertigzubekommen. Und dann geschieht ein Wunder, das ich mir selbst nicht erklären kann. Plötzlich sitze ich am Schreibtisch und tippe tatsächlich den ersten Satz in die Tastatur: „Die Männer schwitzten unter ihren Motorradhelmen.“ War gar nicht so schwer.
Ich sitze im Kopf meines Mörders, betrachte die Welt mit den Augen meiner Ermittler, ärgere und freue mich mit ihnen und spüre etwas von der Angst, die sie durchleben.
Danach beginnen die Wörter zu fließen, Satz reiht sich an Satz wie die Katarakte eines Flusses. Wenn es gut läuft, vergesse ich alles um mich herum, tauche ein in die Tuffsteinhöhlen der Maremma oder die kopfsteingepflasterten Gassen Roms. Ich sitze im Kopf meines Mörders, betrachte die Welt mit den Augen meiner Ermittler, ärgere und freue mich mit ihnen und spüre etwas von der Angst, die sie durchleben. Am meisten Spaß macht mir das Schreiben der Dialoge. Und die Beschreibung von Stimmungen, von Atmosphäre, von Menschen und Dingen. Als Student habe ich einmal gelesen, Aufgabe der Literatur sei es, „den Stein steinig zu machen“. Dieser Auftrag begleitet mich beim Schreiben immer. Schwierig finde ich es dagegen, hart am Plot zu bleiben, an der Kerngeschichte, und nicht in Nebenwege, Sackgassen und Pfade abzuschweifen, die im Nichts enden. Ich vernarre mich in eine Figur, die für die Geschichte nicht viel bringt. Bin fasziniert von einem Schauplatz, der im Plot fehl am Platz ist. Lasse eine historische Begebenheit aufleben, die den Krimi überfrachtet. Oft will ich das nicht wahrhaben, werde aber von meinen Probelesern ertappt. Zähneknirschend streiche ich dann und straffe, oder ändere den Plot.
Wenn ich das Geschriebene am nächsten Tag durchlese, bekomme ich geistigen Muskelkater.
Manchmal stehe ich jetzt beim ersten Gesang der Amseln auf und tippe schon um sechs in die Tastatur. Das ist mir die liebste Zeit, das ganze Haus liegt noch in Träumen. Aber auch die Nacht mag ich zum Schreiben, besonders im Winter, wenn draußen die Kälte klirrt. Je weiter das Buch voran kommt, desto mehr zieht es mich in sich hinein. Die Figuren werden eigensinnig, agieren anders, als ich das plante. Manchmal hüpfen jetzt die Wörter wie von selbst über den Bildschirm. Es ist so ein Gefühl wie es sich bei Joggern nach 20, 30 Minuten einstellen kann. Der Flow. Ein leicht berauschtes Glück, das im Hier und Jetzt verweilt und alles mühelos erscheinen lässt. Bisweilen reißt er mich fort, der Flow, gerne nachts, nach einem Glas Rotwein. Dann schreibe ich schneller, als ich die Sache durchdenke. Wenn ich das Geschriebene am nächsten Tag durchlese, bekomme ich geistigen Muskelkater. Kopfschüttelnd mache ich mich daran, die Seiten hart zu überarbeiten. Und dennoch habe ich beim Bücherschreiben immer das Gefühl, genau das zu tun, was ich im Leben tun möchte.
Das Buch
Der Münchner Rechtsanwalt Robert Lichtenwald verkauft seine Kanzlei, um in sein Landhaus in der Toskana zu ziehen und dort ein freies, unbeschwertes Leben zu genießen. Als seine Freundin, die temperamentvolle Journalistin Giada Bianchi, plötzlich verschwindet, befürchtet er das Schlimmste. Die Suche nach ihr führt Lichtenwald nach Rom und auf die Spur eines mysteriösen Verbrechens: Ein reicher Kunstsammler ist in seiner Wohnung verstümmelt und getötet worden. Dem Gerücht nach war er im Besitz der einzigen noch existenten antiken Statue des Adonis. Hat Giadas Verschwinden mit dem Mord zu tun? Und wie steht das grausige Schicksal der jungen Römerin Donatella Fortunata damit in Verbindung? Die Recherche zieht Lichtenwald immer tiefer hinein in die morbiden Geheimnisse der schönheitsverliebten Stadt.
„In Schönheit sterben“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage.