Homophobie in der Provinz Ein Herz, verschlossen wie eine Auster
Diese Geschichte, geschrieben von dem mittlerweile 22-jährigen Édouard Louis, ist schrecklich. Und grausam. Weil man weiß, dass sie autobiografisch ist, dass die Leiden des heranwachsenden Eddy authentisch sind, ist sie umso schwerer zu ertragen.
Man wüsste gern, was die beiden Peiniger heute sagen würden, wenn ihnen "Das Ende von Eddy" in die Hände fiele. Der Große mit den roten Haaren und der Kleine mit dem krummen Rücken. Die Eddy damals, in der Schule, über eine lange Zeit brutal in den Bauch traten, die ihn bespuckt und angerotzt haben und ihn zwangen, den Rotz aufzulecken - alles heimlich, versteht sich. Eddy hat sich gefügt, er wurde Komplize der Gewalt, die ihm angetan worden ist. Warum? Weil seine Mitschüler entdeckt hatten, dass er schwul ist, weil er gehänselt und beschimpft wurde und nicht noch mehr Aufsehen erregen wollte. Lieber still leiden, als sich als Opfer zu outen: die Schwuchtel, die geschlagen wird. Damit wäre er quasi der Doppel-Loser.
Der Debütroman des jungen Autors, der eigentlich Eddy Bellegueule heißt, aber seinen Namen änderte, wurde in Frankreich letztes Jahr zum Bestseller. Der Autor bekam dafür einen Preis, der besonderes Engagement gegen Homophobie honoriert. Das Buch schockiert, weil hier jemand völlig unverblümt und mit sprachlicher Wucht von einer Kindheit erzählt, die scheinbar ausweglos ist. In der es unmöglich ist, anders zu sein als die anderen, und die Entdeckung der eigenen Homosexualität einer Katastrophe gleich kommt. Besser krank sein als schwul, besser Alkoholiker, Arbeitsloser oder was auch immer.
Sex im Holzschuppen
Erstaunlich, wie viel Hass dem jungen Eddy, der eine hohe Stimme und einen komischen Gang hat, entgegen schlägt. Die Leute aus dem Dorf in der Picardie, wo das Buch spielt, sind überwiegend Arbeiter, sie haben kaum eine Chance, sind abgehängt, und umso mehr treten sie auf den ein, der ihrer Meinung nach noch weiter unten steht, weil er keine "Eier in der Hose" hat. Dass radikale Homophobie häufig mit der ängstlichen Abwehr eigener homosexueller Neigungen zu tun hat, ist als Phänomen hinreichend bekannt. Nur ein paar Jungs im Roman trauen sich, in einem Holzschuppen Sex miteinander zu haben, unter ihnen Eddy. Sie nennen ihr heimliches Spiel "Mann und Frau". Irgendwann fliegt die Sache auf. Und wieder einmal bleibt die Schande an dem Paria hängen - Eddy. Er wird beschimpft, und die Ordnung ist wiederhergestellt.
Die Geschlechterrollen sind in diesem Ort, der auf den ersten Blick total aus der Zeit gefallen wirkt, klar verteilt: Echte Kerle sind hart im Nehmen, prügeln sich, baggern Frauen an, saufen ("Der ist ja hackebreit, voll wie ein Eimer, dicht wie ein U-Boot."). Sie gehen früh von der Schule ab, um als Arbeiter in der Fabrik des Dorfes anzufangen, die Messingteile herstellt. Die Frauen werden Verkäuferinnen, Friseurinnen oder Altenpflegerinnen, irgendwann bekommen sie möglichst viele Kinder, sonst gelten sie als Lesben oder frigide. Sie lassen ihre Männer machen, weil Männer nun mal so sind, wie sie sind.
Auch Eddys Eltern und seine Geschwister passen in dieses Raster. Der Vater, Fabrikarbeiter, verliert irgendwann seinen Job, die Mutter arbeitet zeitweise als Altenpflegerin. Die Armut macht beide unduldsam und hart. An manchen Tagen ist überhaupt nichts mehr zu essen da, und Eddys Mutter verkündet: "Heute Abend essen wir Milch." Für Sozialromantik im Sinne von "arm, aber das Herz auf dem rechten Fleck" ist da kein Platz. Das Herz bleibt in dieser düsteren Welt verschlossen wie eine Auster.
Herzerreißende Entschlossenheit
Ein Verleger, dem Édouard Louis sein Manuskript geschickt hatte, lehnte eine Veröffentlichung mit der Begründung ab, der Text sei zu karikaturistisch, und man würde die Geschichte keine Sekunde glauben. Der Autor wiederum hielt in einem Interview dagegen, die Verleger im entfernten Paris hätten keine Vorstellung davon, wie es im dörflichen Nordfrankreich zugeht. Als Leser hat man tatsächlich mitunter Schwierigkeiten, sich auf diesen etwas holzschnittartig wirkenden Kosmos einzulassen - mag er auch authentisch sein.
Trotzdem ist dieser Roman stark, weil die Hauptfigur von herzzerreißender Entschlossenheit ist. Eddy, der sich quält, um so etwas zu sein wie ein "echter Kerl". Der sich mit einem Mädchen anfreundet, sie auf dem Schulhof in aller Öffentlichkeit ewig lange auf den Mund küsst, damit endlich Schluss ist mit dem "Tussi"-Gerede. Der schließlich vor seiner Familie die Flucht ergreift, das Dorf verlässt und aufs Internat geht. Paradoxerweise wünscht sich Eddys Vater nichts mehr als den sozialen Aufstieg seines Sohnes, der einmal viel Geld verdienen soll, obwohl er andererseits "die Bürger" abgrundtief hasst.
Nach eigenem Bekunden hat Édouard Louis 15 oder 16 Fassungen gebraucht, um die richtige Tonalität für seinen Roman zu finden. Er schneidet die Sprache der Arbeiterklasse, also auch die seiner Familie (kursiv gedruckt und in der Übersetzung hervorragend getroffen) gegen die Hochsprache, die seine eigene geworden ist. Man muss sich am Anfang an die vielen Cuts gewöhnen, aber es gelingt Louis bestens, den Proleten-Jargon seiner Kindheit wieder aufleben zu lassen.
Darüber hinaus schafft Édouard Louis Szenen von brutaler Erniedrigung und finsterem Sadismus, von denen manche an den Skandalautor Jean Genet erinnern - nur dass es bei Louis, anders als bei Genet, keine Ästhetisierung der Gewalt gibt. Seltsamerweise existiert für die Männer in Eddys Dorf das Wort "Brutalität" überhaupt nicht, sie ist etwas völlig Selbstverständliches, so wie Fernsehen gucken, Pastis saufen oder vögeln. Édouard Louis hat alles getan, um sich aus dieser Welt der falschen Selbstverständlichkeiten zu befreien. Heute studiert er in Paris Soziologie.

Édouard Louis:
Das Ende von Eddy
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
S. Fischer Verlag; 206 Seiten; 18,99 Euro.
