Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2016
Literatur als Häschenschule
Tag eins des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt. Dort lesen Autoren vor einer gestrengen Jury, ganz so, als säßen sie in der Schule. Damit macht sich die Literaturkritik lächerlich.
Der wichtigste Literaturwettbewerb im deutschsprachigen Raum beginnt. Das Wettlesen von Klagenfurt, der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2016, die 40. Tage der deutschsprachigen Literatur. Drei Tage lang wird gelesen. Wenn das Wetter gut ist, springt bestimmt jemand in den See, wie es die Klagenfurt-Folklore so will, ein paar der Debütanten werden sich etwas verloren fühlen, und wenn sie am Morgen verkatert aufwachen, doch das Gefühl haben, nun zur Literatur zu gehören. Die österreichische Autorin Stefanie Sargnagel ist der Star in diesem Jahr, ansonsten ist bemerkenswert, dass nur zehn der 14 Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum kommen - die anderen sind aus England, Israel, Serbien und der Türkei. Das könnte interessant sein.
Wenn da nicht die Jury wäre.
Womit nichts gegen die sieben Kritikerinnen und Kritiker sowie den Professor gesagt sein soll, die sich in den kommenden Tagen Lesungen anhören, darüber reden und am Ende die Gewinnerin oder den Gewinner küren werden. Alles honorige Leute, die von der Liebe zum geschriebenen Wort leben. Das Prinzip ist das Problem in Klagenfurt. Wie Schüler müssen die Autorinnen und Autoren vortreten und ihren Text lesen, um dann schweigend zu ertragen, was die eigentlichen Herrinnen und Herren des Verfahrens über diesen Text zu sagen haben. Literatur als Häschenschule.
Mit Reich-Ranicki und Raddatz wurde es niemals langweilig
Diese Inszenierung mag einmal ihre Berechtigung gehabt haben. Die Sitzungen der berühmten Gruppe 47 etwa funktionierten ganz ähnlich. Allerdings ging es damals darum, den Sprachschutt des Dritten Reichs wegzuräumen und zu versuchen, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust neu anzufangen, eine neue Sprache zu finden. Darüber wurde hart gestritten - was trotzdem unerträglich sein konnte, wie man in Jörg Magenaus schönem Buch über die Reise der Gruppe 47 nach Princeton nachlesen kann.
Auch als sich Großkritiker wie Marcel Reich-Ranicki oder Fritz J. Raddatz in Stars verwandelten, gab es die Wichtigkeit der Kritik noch - und wenn es auch nur daran lag, dass es mit ihnen niemals langweilig wurde.
Aber heute?
Der Glaube an die Wichtigkeit der Literaturkritik, der in Klagenfurt Jahr für Jahr aufgeführt wird und der die ganze Veranstaltung zusammenhält, ist absurd, bizarr und aus der Zeit gefallen. Das kann man gut finden oder schlecht finden, aber wer den Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit zu ignorieren versucht, macht sich schlicht lächerlich. Die Literaturkritik hat sich in Tausende von Stimmen aufgelöst, ein paar schreiben für Zeitungen, ein paar für Blogs, ein paar für Literaturzeitschriften, ein paar haben Lesekreise, ein paar schreiben bei Amazon die Kritikabteilung voll, viele nehmen sich untereinander wahr und vernetzen sich.
Verstaubte Inszenierung
Es gibt die Literaturinstitute in Leipzig und Hildesheim, wo sich gegenseitig vorgelesen und das Gelesene kritisiert wird. Und die Facebook-Literaturkritik ist längst ein ganz eigenes Genre geworden. Das literarische Leben ist vermutlich, wenn man es als das Verhältnis von Lesenden und Schreibenden versteht, so lebendig wie zuletzt Anfang des 19. Jahrhunderts.
In der verstaubten Inszenierung des Klagenfurter Wettbewerbs findet sich nichts davon. Hier wird immer noch behauptet, eine Handvoll Professoren und Kritiker könnten sich wie Oberlehrer hinstellen und dem zum Schweigen verdammten Autoren erklären, was ein gutes Buch oder ein gelungener Text ist. Was für eine Hybris.
Womit nichts gegen das Format gesagt sein soll. Das Fernsehen ist voll von Sendeformaten, in denen junge Leute sich kreativ betätigen, und dann von einer Gruppe von Fachleuten beurteilt werden. Aber jede Castingshow-Jury, von "Germany's Next Topmodel" bis zu "Kids Voice", erledigt diesen Job besser als es die Klagenfurter Jury vermag.
Hier geht es nicht darum, Autorinnen und Autoren zu helfen, eine Stimme zu finden - wobei sich einwenden ließe, in den anderen Castingshows ginge es ja auch nicht darum, Sänger auszubilden oder Models auf eine Karriere vorzubereiten. Stimmt. Aber die Sendungen tun wenigstens so. Das ist die Geschichte, bei der alle mitspielen. Die Geschichte in Klagenfurt ist eine andere. Hier wird gelesen, um weiter das Primat der Kritik zu behaupten. Dabei hat sie ihre Relevanz verloren.