Kriminalliteratur wurde von den DDR-Mächtigen nicht gern gesehen. Verbrechen gab es trotzdem. Krimi-Autor Max Annas hat nun einen Kommissar erfunden, der dort gegen Widerstände ermittelt.
DDR-Ermittler (im "Polizeiruf 110"): "Warten und verfolgen. Verfolgen und warten"
Foto: rbb/ MDR/ DRA/ picture alliance
Der Detektiv als Jedermann: Oberleutnant Otto Castorp ist kein von persönlichen Dämonen gepeinigter Trinker, kein Rebell oder cooler Karrierecop, kein "Bad Lieutenant" und schon gar kein eigenbrötlerisches Genie - um einige der gängigsten Typen im zeitgenössischen Kriminalroman zu nennen. Er ist einfach Polizist, Anfang 30, verheiratet, zwei Kinder.
Einzig die Affäre mit einer Buchhändlerin fällt ein wenig aus dem Rahmen, aber sie ist so wenig amour fou, dass das Bild des biederen Bürgers dadurch nicht korrigiert wird. Man darf sich Otto Castorp als Durchschnittsdeutschen vorstellen, als Ottonormalpolizisten - nur dass er eben nicht westlich, sondern östlich der Grenze zwischen den beiden Deutschlands lebt und ermittelt.
"Morduntersuchungskommission", Max Annas' fünfter Roman, spielt im Jahr 1983, in der DDR, zwischen Jena und Gera und Winzerla, wo es einige Jahre später mit dem NSU anfing.
Reales Vorbild: der Tod eines Vertragsarbeiters
Annas macht mit seiner Geschichte, dem Auftakt einer Reihe, auf eine Lücke aufmerksam: Aktuelle Kriminalromane, die in der DDR angesiedelt sind, gibt es bislang ähnlich wenige, wie es Möglichkeiten gibt, nachzuvollziehen, wie es eigentlich um die Kriminalliteratur der DDR bestellt war. Viel wird es da wohl nicht zu entdecken geben, das Genre war von den Machthabern eher ungern gesehen; schließlich konnte es Verbrechen, vor allem aus ideologischen Motiven, nur im Westen geben, als Folge der Verfehlungen des Kapitalismus. Nur logisch also, dass einer der bekannteren Krimiautoren der DDR, Werner Toelcke, zumeist nicht in Leipzig oder Dresden morden ließ, sondern in Westdeutschland.
Anzeige
Titel: Morduntersuchungskommission: Roman (Die Morduntersuchungskommission-Reihe, Band 1)
Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier
"Sieh mal: Die Menschen im Sozialismus sind ja nicht besser an sich. Sie haben nur bessere Bedingungen. Aber es wird nie passieren, dass es auch der Letzte kapiert", sagt Ottos Bruder Bodo, der Stasi-Karrierist. Ein Versuch, Otto zu erklären, warum es richtig war, die aktuelle Ermittlung der Morduntersuchungskommission (MUK) zu stoppen - und ihn davon abzuhalten, weiterhin auf eigene Faust zu ermitteln.
Der Fall, um den es geht, hat ein reales Vorbild; Annas verlegt allerdings Zeit und Ort. Im Juni 1986 wurde der Vertragsarbeiter - so bezeichnete man in der DDR Menschen aus den sogenannten sozialistischen Bruderländern, die für ein paar Jahre in Ostdeutschland niedere Arbeiten verrichten mussten - Manuel Diogo aus Mosambik am Rand der Bahnstrecke zwischen Ost-Berlin und Dessau tot aufgefunden, die Leichenteile über Kilometer entlang der Gleise verteilt. Ein Hassverbrechen, begangen von Neonazis, das zwar teilweise aufgeklärt wurde, aber erst nach dem Ende der DDR an die Öffentlichkeit gelangte.
Was es nicht geben darf, das gibt es auch nicht, das war Staatsmaxime. Und Neonazis durfte es ebenso wenig geben wie die alltäglichen rassistischen Beschimpfungen und Angriffe, denen die Arbeiter aus Vietnam, Mosambik oder Kuba ausgesetzt waren, die ohnehin unter erbärmlichen Bedingungen leben mussten.
Die langsame Verwandlung der Hauptfigur fasziniert
Max Annas erzählt von einem Erwachen, von einem Menschen, der beginnt, etwas von sich selbst und seiner Verantwortung zu ahnen, der sich den klebrigen Schlaf aus den Augen reibt, um endlich wirklich hinzuschauen, was in dem Land vor sich geht, in dem er für Recht und Ordnung sorgen soll. Für Otto Castorp wird der Fall des ermordeten Mosambikaners, der im Roman Teo Macamo heißt, alles verändern. Der Polizist, für den ein Mord bislang eine Störung in einem an für sich funktionierenden System war, beginnt zu begreifen, dass Verbrechen eben keine Abweichungen sind, sondern Symptome eines zutiefst kaputten Systems.
Max Annas: Neuanfang mit DDR-Krimireihe
Foto: Michele Corleone/ Rowohlt
"Morduntersuchungskommission" fügt sich einerseits perfekt in Annas' bisheriges Werk ein: Immer wieder beleuchtet der 1963 geborene Autor die zerstörerische Kraft restriktiver Gesellschaften. Zunächst in den Südafrika-Thrillern "Die Farm" und "Die Mauer", später in dem Berlin-Roman "Illegal" und zuletzt in der Dystopie "Finsterwalde".
Andererseits ist "MUK" auch ein Neuanfang für Annas: Setzte er in seinen bisherigen Romanen starke Akzente auf Action und Spannung - für "Die Farm" etwa bediente er sich bei John Carpenters Kinoklassiker "Assault - Anschlag bei Nacht" -, so nimmt er jetzt das Tempo raus, nimmt sich enorm viel Zeit, den Alltag seines Polizisten zu schildern und ihn bei seinen zähen, einsamen Ermittlungen zu beobachten: "Warten und verfolgen. Verfolgen und warten."
Annas fokussiert seine Geschichte ganz auf Otto Castorp, verzichtet auf psychologische Deutungen und historisch-politische Einordnungen. So ist ihm ein Roman von enormer Dichte gelungen, der sich fast wie ein Bericht liest und seine Faszination weniger aus dem Fall und seiner Aufklärung gewinnt, sondern aus der langsamen Verwandlung seiner Hauptfigur - und den detailreichen, authentischen Schilderungen des Lebens in der DDR der frühen Achtzigerjahre. Annas, der viele Jahre lang immer wieder in die DDR gereist war, schreibt über diese Zeit, ohne die üblichen Narrative "Unrechtsstaat" oder "Ostalgie" zu bedienen.
"Morduntersuchungskommission" ist ein unaufgeregter, sich nicht empörender Roman, der gerade durch seine Zurückhaltung den Leser dazu zwingt, seine eigene Haltung zu den Geschehnissen zu suchen. Und ohne sie jemals wortwörtlich zu stellen, wirft Annas die Frage auf, inwieweit die verordnete Ignoranz gegenüber rassistischen und neonazistischen Tendenzen in der DDR die heutige fremdenfeindliche Gewalt in Ostdeutschland befeuert.