Ein Thriller-Bestsellerautor mit Minderwertigkeitskomplex, aber sonst ganz nett? Von wegen. Joyce Carol Oates hat einen Roman über einen zunehmend verrückten Schriftsteller geschrieben - der ein reales Vorbild hat.
Ein bisschen zu populär sind viele ihrer Romane und vielleicht allzu nah am Trivialen gebaut, dazu kommt ein Hang zur expliziten Darstellung von Sex und Gewalt. Oates ist eine Vielschreiberin, die mit ihren mehr als 50 Romanen und Erzählungen sowie Hunderten Kurzgeschichten und Essays ohnehin überholte, aber immer noch stehende Mauern zwischen sogenannter ernster Literatur und Genreunterhaltung einreißt.
So dürfte es auch kein Zufall sein, dass eines der wenigen Interviews, die Oates 2015 anlässlich der US-Veröffentlichung von "Pik-Bube" gab, beim ehemals für Katzencontent und Krawallvideos bekannten Onlineportal Buzzfeed veröffentlicht wurde. Hier verrät sie den wahren, absurden Hintergrund von "Pik-Bube" - vor Jahren wurde Oates von einer älteren Frau bezichtigt, bei ihr eingebrochen zu sein und ihre Story-Ideen gestohlen zu haben.
Authorin Joyce Carol Oates
Foto: Thos Robinson/ Getty Images for The New Yorker
Und damit verlassen wir die Realität und treten ein in die Spiegelwelt. "Pik-Bube" ist ein Roman wie eine Referenzspirale, die sich immer weiter verdichtet und verdreht, bis sie irgendwann zu einer Schlinge wird, in der sich Leser, Autorin und Figuren gleichermaßen verfangen.
"Stephen King für den Bildungsbürger"
Oates beginnt ihr metafiktionales Spiel mit einem Schriftsteller von anspruchslosen, aber sich bestens verkaufenden Thrillern, die ihm ein Leben ohne materielle Sorgen ermöglichen, inklusive Riesenhaus in New Jersey, erwachsenen Kindern an Eliteunis - und einem kleinen Minderwertigkeitskomplex: "Die intellektuellen Literatursnobs, die über die Beschränkungen des Genres spotten, würden es schwer haben, selbst einen erfolgreichen Krimi zu schreiben", lässt Oates ihren erfundenen Schriftstellerkollegen Andrew J. Rush sagen.
Noch mehr als lästernde (oder, schlimmer, ihn ignorierende) Kritiker nervt Rush der Spitzname, den ihm seine Romane eingebracht haben: " Stephen King für den Bildungsbürger" (im Original treffender: "the gentleman's Stephen King").
Um Stephen King dreht sich sehr viel in Oates Roman. Zum einen gibt es irgendwann den (zunächst erfolglosen) Versuch einer Kontaktaufnahme zwischen Rush und seinem berühmteren Kollegen, zum anderen stellt sich heraus, dass King genau wie Rush (und wiederum Oates und King in der Realität) des Ideendiebstahls bezichtigt wurde.
Noch entscheidender: Die gesamte Anlage von "Pik-Bube" ist eine Art Pastiche von Kings Roman "Stark - The Dark Half", in dem das Horrorliteratur schreibende Alter Ego eines erfolglosen Schriftstellers ein mörderisches Eigenleben entwickelt. Wozu man wissen sollte, dass King früher selbst unter Pseudonym schrieb (als Richard Bachmann) und Oates viele ihrer Psychothriller als Rosamond Smith und Lauren Kelly veröffentlichte.
Rushs Pseudonym heißt Pik-Bube und was er unter diesem schreibt, ist nun wirklich nicht gentlemanlike, ein Grund, warum nicht einmal seine Familie von seinem Nebenjob weiß. Krude Horrostorys fabriziert dieser Pik-Bube, eine Mischung aus der Misogynität Mickey Spillanes, den Gewaltexzessen Clive Barkers und - na klar - Stephen King.
Ist der nette Andy nur Fassade?
Storys, die aber auch sein eigenes Leben spiegeln, und so erfahren wir nach und nach und fast nebenbei, dass der nette Andy, dessen größter Spleen es zunächst zu sein scheint, Birkenstocks zum Brooks-Brothers-Anzug zu tragen, nicht ganz so harmlos ist: Von Gewaltausbrüchen in der Schule ist die Rede, von einem Bruder, der unter mysteriösen Umständen umgekommen ist, dazu von heftigen Eifersuchtsattacken.
Sollte der wohltemperierte Andy Rush nur eine Fassade sein? Und der wüste Pik-Bube seinem wahren Naturell entsprechen? Dafür spricht, dass Rush immer unkontrollierter trinkt und zunehmend aggressiv auf sein Umfeld reagiert. Sein Sinn für die Realität trübt sich, sein Leben verwandelt sich in einen Edgar Allan Poeschen Albtraum inklusive einer schwarzen Katze, die ihn zu verfolgen scheint. Und dann greift Rush zur Axt - womit wir am Ende doch wieder bei Stephen King wären.
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Joyce Carol Oates hat einmal gesagt, dass es für sie eine Befreiung sei, unter Pseudonym zu schreiben, weil neue Kreativität daraus entstehen könne, wenn man sich von den Bürden seiner schriftstellerischen Identität und den daran geknüpften Lesererwartungen befreie. Dass auch Gefahren damit verbunden sein können, demonstriert sie mit diesem Roman. Er funktioniert als Gedankenspiel über das Verhältnis von Fiktion und Realität, wie auch als kurzweilige literarische Schnitzeljagd durch die Konventionen des Horrorgenres.