Archiv des Themenkreises ›Buchbuch‹


100-Seiten-Bücher – Teil 121
Simone de Beauvoir: »Mißverständnisse an der Moskwa« (1965/1992)

München, 21. Juni 2018, 14:12 | von Josik

So geht diese superste kleine Erzählung los: »Sie blickte von ihrem Buch auf. Wie langweilig, diese alte Leier über die Unzulänglichkeit, zu kommunizieren! Wenn einem was daran liegt, schafft man es schon recht und schlecht. Nicht mit jedem, zugegeben, aber mit zwei oder drei Personen.«

Die zwei Hauptpersonen hier heißen Nicole und André und sind ein französisches Intellektuellenpaar Anfang sechzig, man muss sich beim Lesen also wirklich krass anstrengen, in diesen beiden Personen zwei fiktionale literarische Figuren zu sehen und nicht ein Abziehbild von de Beauvoir und Sartre, und wem das gelingt, congrats!

Nicole und André reisen in die Sowjetunion, es handelt sich mithin um Science-Fiction, denn die Reise findet ausdrücklich erst im Jahre 1966 statt, de Beauvoir hat diese Erzählung aber bereits im Jahre 1965 verfasst. Mit Mascha fahren Nicole und André dann ein bisschen im Land herum, nach Wladimir, nach Leningrad, nach Pskow usw.

Die Gespräche zwischen André und Mascha drehen sich meist um Politik, um die Chinesen und so, dabei werden sehr authentische und zeitlos gültige Dialoge gehalten: »›Wie sieht dieses Jahr die Lage im Kulturbereich aus?‹ ›Wie immer, wir kämpfen‹ […]. ›Und ihr gewinnt?‹ ›Manchmal.‹«

Eines Abends saufen sich im Restaurant Baku alle ein bisschen dezent zu, und nachdem sie ausgeschlafen haben, kommt es zum Showdown: André sagt nämlich, dass sie ja nun zehn Tage länger als ursprünglich geplant in Moskau bleiben, Nicole aber ist außer sich, dass er mir ihr nicht darüber geredet hat. André hingegen ist sich tausendprozentig sicher, dass sie die Zehntageverlängerung gemeinschaftlich ausgemacht haben, nach dem kleinen Besäufnis im Baku. Nicole hinwiederum ist sich tausendprozentig sicher, dass er mit ihr darüber nicht geredet hat.

So schaukelt sich das ganze also krass hoch, Nicole zischt ab und säuft ein bisschen dezent weiter, es ist überhaupt sehr herrlich, wie dezent in dieser Erzählung in Mengen gesoffen wird, und es wird einem sehr gut das Gefühl vermittelt, dass man eigentlich erst dann intellektuell sein kann, wenn man ein bisschen dezent zugesoffen ist.

Nicole bekommt mittlerweile echte Hassattacken auf André, und André denkt den unfassbaren Satz: »[S]ie hat mich nie in Liebe geliebt«, und man wünscht den beiden so sehr, dass sie wieder zusammenkommen, dass sie sich wieder vertragen, dass sie sich wieder versöhnen. Ob sie das am Ende tun? Es wird spannend, bleiben Sie dran!

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Simone de Beauvoir: Mißverständnisse an der Moskwa. Eine Erzählung. Deutsch von Judith Klein. Mit einem Nachwort von Judith Klein. Reinbek: Rowohlt 1996. S. 3–82 (= 80 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Ohne Titel

Frankfurt/M., 19. Juni 2018, 00:14 | von Charlemagne

Samstags stand ich auf der Konstablerwache in Frankfurt am Main mitten auf dem Erzeugermarkt am Apfelweinstand von Günther Sattler aus dem Odenwald und blickte, übertrieben blumig formuliert, auf das wochenendliche Treiben.

Da Woche um Woche die gleichen Stände ihre Zelte auf dem Markt aufschlagen, sieht man auch Woche um Woche die gleichen Gesichter. Unzählige Wochenmarktbekanntschaften habe ich schon geschlossen, alles Personen, deren Name ich zwar nicht kenne, die mir aber trotzdem schon – in dieser Reihenfolge – ihre Eintracht-Dauerkarte, ein frisch geschmiertes Wurstbrot und, neulich, sogar Pizzabrötchen belegt mit Hackfleisch aus der Tupperbox angeboten haben. Meine Ausflüge auf den Wochenmarkt sind einfach unfassbar aufregend, hehe.

Eigentlich war es auch wieder Zeit, sich zu wundern, was eigentlich der Apfelweinpoet so treibt und wo er bleibt, doch stattdessen sah ich einen anderen Schriftsteller über den Markt laufen, waahristen Joachim Bessing, seineszeichens ehemaliger Quartettspieler und heute ausgesprochen beeindruckend behaarte Erscheinung. Darüber hinaus auch Autor des schönsten deutschsprachigen Buchs, das ich in den letzten Jahren so gelesen habe, »untitled«. Damals nach der Lektüre, ich las das Buch in der Wüste Namibias, flog ich erst mal weiter nach Australien, kaufte den titelstiftenden Duft und setzt mich aber auf kein Fahrrad.

»untitled« also. Fast noch besser aber ist sein Blog auf waahr.de, auf dem man ihm seit gut zwei Jahren dabei zuschauen kann, wie er langsam aber sicher Frankfurter wird, und das haut mich, als Frankfurter Wahlverwandter, natürlich um; diese Parallelität der Initiationsrituale, vom Vogelfutterkauf bei der Samenhandlung Andreas (neben dem Bürstenhaus!) bis hin zum karnivoren Selbstmordversuch beim Apfelwein Wagner – been there, done that, sehr zum Wohle!

Da lief er nun, in Jeansjacke gekleidet und mit Einkaufstüte behangen. Fast hätte ich ihm hinterhergerufen, Herr Bessing, hier!, aber ich weiß gar nicht, was ich dann weiter hätte sagen sollen. Vielleicht hätte ich ihn zum Apfelwein eingeladen und gefragt, was er samstags so auf dem Wochenmarkt kauft, so als neue Wochenmarktbekanntschaft. Seinen Vornamen immerhin kenne ich ja schon. Und dann, Eintracht-Dauerkarte, Wurstbrot, Tupperbox.
 


Literatur

München, 1. Mai 2018, 22:00 | von Josik

Es wäre doch schön, wenn der Luchterhand Verlag bei allen künftigen Auflagen des Bestsellers »Leere Herzen« von Juli Zeh aufs Cover jenes Zitat setzen würde, das gerade zu diesem Roman abgeliefert wurde:

»Gut, das ist Literatur, damit muss man wohl leben.«
Sahra Wagenknecht

 


Leo

Frankfurt/M., 13. Februar 2018, 19:05 | von Charlemagne

Neulich saß ich bei Jens Becker in der gleichnamigen Apfelweinhandlung zum samstäglichen Frühschoppen. In Frankfurt kann man an vielen Orten Apfelwein trinken, doch nirgends sitzt man so schön und schmeckt es so gut wie bei JB.

Apfelwein trinkt man, so lernt man das als zugezogener Wahlfrankfurter recht schnell, am besten aus einem 0,3 gerippten Schoppenglas, es liegt gut in der Hand und bricht die bei Sonnenschein darauf einfallenden Sonnenstrahlen auf ideale, das heißt jedes Gespräch beim Apfelwein völlig überflüssig machende, Art und Weise etc. Es gibt Schriftsteller, die beschreiben das alles noch viel besser, aber die sind dann auch nicht zugezogen.

Nachdem es samstags in der Apfelweinhandlung nicht nur Apfelwein, den es hier ohnehin täglich und in beeindruckender Vielfalt, sondern auch »Weck und Worscht« gibt, hatte ich, neben meinem Apfelwein, auch eine Rindswurst von Gref-Völsings und ein Wasserweck vom Bäcker HansS auf dem Pappestreifen, der als ideale Erfindung für den Wurstverzehr außer Haus anerkannt werden muss, vor mir.

Ab und zu verknoten sich meine Gedanken etwas beim Apfelwein und gerade wieder. Wurstverzehr, meine Güte. Es musste am leeren Glas liegen, so ließ sich die restliche Wurst nicht verzehren. Das war ja fast schon wie in »Jetzt«, Bohrer-Bernhard-Rindswurst usw. usf.

Da Jens Becker der großzügigste Gastgeber ist, den ich kenne, steht samstags in der Apfelweinhandlung immer ein offener Bembel zum Nachschenken. Der Bembel, das hatte ich bisher noch gar nicht erwähnt, ist der ideale Aufbewahrungsort für den Apfelwein auf seiner Strecke vom Fass ins Gerippte. Aufgrund der bereits erwähnten Großzügigkeit und der Tatsache, dass beim Apfelwein häufig nachgeschenkt wird, hat der Bembel immer eine anständige Größe. Es empfiehlt sich also durchaus, zum Einschenken kurz aufzustehen und dabei vorsichtig nachzuschauen, ob der Apfelweinpoet, wie ich Andreas Maier seit Jahren aufgrund seiner Texte zum Thema anerkennend und ehrfurchtsvoll nenne, zufällig im Laden ist, häufig ist er’s nämlich tatsächlich.

Natürlich kam er auch an diesem Samstag genau in diesem Moment zur Tür herein, ich hatte ihn soeben wieder heraufbeschworen. Seit Jahren gibt es in Frankfurter Apfelweinwirtschaften und an Apfelweinständen auf Frankfurter Wochenmärkten diesen einen magischen Moment, an dem sofort klar ist, dass die einzige logische Möglichkeit des weiteren Verlaufs das plötzliche Erscheinen von Andreas Maier ist.

Da stand ich also, mit dem Bembel in der Hand und dem Rücken zum Apfelweinpoeten, und überlegte kurz, wie ich diese Situation jetzt bloß bestmöglich auflösen sollte. Ich beschloss also, zunächst einzuschenken, den Bembel daraufhin abzustellen und mich schließlich vorsichtig wieder hinzusetzen. Doch irgendwie hatte er es geschafft, in genau diesem Moment hinter mir zu stehen und, um mich nicht zu erschrecken, mit der kurzen Ansage »Leo« auf seine aktuelle Position im Raum aufmerksam zu machen.

»Leo«. Ich war zunächst gar nicht sicher, ob es am Apfelwein lag oder ob er das tatsächlich gesagt hatte. Seit Ewigkeiten hatte ich den Begriff nicht mehr gehört, zuletzt hatte das Philipp Lahm im EM-Halbfinale 2008 gerufen und schon das war anachronistisch gewesen. Musste erst mal den Bembel abstellen und mich langsam wieder hinsetzen. Geistesabwesend-glücklich dachte ich an unzählige lang zurückliegende Nachmittage auf dem Bolzplatz und aß den Rest meiner Rindswurst.
 


Einzelheiten

München, 13. Februar 2018, 15:33 | von Josik

Ok, also ich lese ja gerade diesen wunderbaren orangefarbenen Suhrkamp-Band aus dem Jahr 1980, »Leo Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel«, und Helmut Dubiel stellt da die ganze Zeit interessante Fragen, und Leo Löwenthal gibt sehr interessante Antworten, aber dann, auf Seite 66, gibt es eine Stelle, von der ich und alle anderen sagen, dass wir da vor lauter Euphorie und Begeisterung geradezu Purzelbäume schlagen, denn der Interviewte, also Leo Löwenthal, erzählt zuerst noch ganz gemächlich

»von Horkheimers Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphiloso­phie, die als Buch 1930 erschienen. Da habe ich auf seinen Wunsch eifrig mitgeholfen. Überhaupt ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Geschichte mit dem Institut meine editorischen Aktivitäten. Ein großer Teil der Arbeit im Institut war 1929 – wie soll man sagen – strategischer Planung gewidmet. Wir waren erfolgreich, Horkheimer wurde Professor und Direktor des Instituts. Soll ich Einzelheiten erzählen?«,

und hierauf antwortet der Interviewer, also Helmut Dubiel, unfassbarerweise:

»Nein.«

 


Listen-Archäologie (Teil 14):
Market Wizards

Hamburg, 11. Februar 2018, 23:17 | von Dique

Jack D. Schwager hatte irgendwann die hervorragende Idee, die besten Trader der USA zu interviewen. Erschienen sind die Gespräche dann in dem Band »Market Wizards«. Er enthält 17 Interviews mit heute weitbekannten Tradinghelden wie Paul Tudor Jones, Bruce Kovner und Michael Steinhardt. Es gibt jeweils einen kurzen Pro- und Epilog.

Der Tradingstil der Interviewten, grob zusammengefasst, besteht aus Disziplin und striktem Risikomanagement. Schwager fragt die Market Wizards auch gern mal nach prägenden Lektüren, und es zeigen sich Muster: Neben den Büchern von und über Jesse Livermore (»How to Trade in Stocks« von ihm selbst und »Reminiscences of a Stock Operator« von Edwin Lefevre) – einer der oder vielleicht sogar der erste Day-Trader a.k.a. The Boy Plunger – wird häufig ein alter Ziegelstein aus dem 19. Jahrhun­dert genannt, der den wunderschönen Titel »Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds« trägt. Dieses Buch, geschrieben von dem schottischen Journalisten Charles Mackay, ist 1841 erschienen, und es ist alles dabei: Alchemie und Kreuzzüge, Tulpenmanie und Südseeblase. Die Crypto-Currency-Manie kannte Mackay natürlich noch nicht, gewundert hätte er sich nicht.

Die »Market Wizards« wurden für Schwager zum großen Erfolg. Im Abstand von jeweils ein paar Jahren brachte er dann immer neue Bücher mit aktuellen Top-Tradern als Interviewpartnern heraus: »New Market Wizards«, »Stock Market Wizards« und »Hedge Fund Market Wizards«. Alle sind gleichermaßen großer Fun. In unserer Serie »Listen-Archäologie« folgt nun eine chronologische Übersicht mit den insgesamt 64 Interviewpart­nern, eine note to self, da ich selbst oft verwechsle, welcher Trader für welches Buch interviewt wurde.

Die Trader in den späteren Büchern kannten natürlich die vorherigen Titel. Für einige war es neben einer großen Ehre sogar das Ziel, einmal für eines der Bücher von Schwager interviewt zu werden. Mark Minervini, der Trendfolgegott aus dem Band »Stock Market Wizards«, gibt das explizit in seinem Interview bekannt.

Mit Ausnahme von Linda Bradford Raschke und Dana Galante fehlen unter den Top-Tradern übrigens bedrohlich die Frauen, die Quote bei 64 Inter­views liegt bei gerade mal 3%.

But here we go, meet the Market Wizards, as interviewed by Jack D. Schwager!

Market Wizards:
Interviews with Top Traders (1989)

  • Michael Marcus: Blighting Never Strikes Twice
  • Bruce Kovner: The World Trader
  • Richard Dennis: A Legend Retires
  • Paul Tudor Jones: The Art of Aggressive Trading
  • Gary Bielfeldt: Yes, They Do Trade T-Bonds in Peoria
  • Ed Seykota: Everybody Gets What They Want
  • Larry Hite: Respecting Risk
  • Michael Steinhardt: The Concept of Variant Perception
  • William O’Neil: The Art of Stock Selection
  • David Ryan: Stock Investment as a Treasure Hunt
  • Marty Schwartz: Champion Trader
  • James B. Rogers, Jr.: Buying Value and Selling Hysteria
  • Mark Weinstein: High-Percentage Trader
  • Brian Gelber: Broker Turned Trader
  • Tom Baldwin: The Fearless Pit Trader
  • Tony Saliba: »One-Lot« Triumphs
  • Dr. Van K. Tharp: The Psychology of Trading (kein Trader, sondern ein Psychologe, der viele Trader betreut)

The New Market Wizards:
Conversations with America’s Top Traders (1992)

  • Bill Lipschutz: The Sultan of Currencies
  • Randy McKay: Veteran Trader
  • William Eckhardt: The Mathematician
  • Monroe Trout: The Best Return That Low Risk Can Buy
  • Al Weiss: The Human Chart Encyclopaedia
  • Stanley Druckenmiller: The Art of Top-Down Investing
  • Richard Driehaus: The Art of Bottom-Up Investing
  • Gil Blake: The Master of Consistency
  • Victor Sperandeo: Markets Grow Old Too
  • Tom Basso: Mr. Serenity
  • Linda Bradford Raschke: Reading the Music of the Markets
  • Mark Ritchie: God in the Pits
  • Joe Richie: The Intuitive Theoretician
  • Blair Hull: Getting the Edge
  • Jeff Yass: The Mathematician of Strategy
  • Charles Faulkner: The Mind of an Achiever
  • Robert Krausz: The Role of the Subconscious

The Stock Market Wizards:
Interviews with America’s Top Stock Traders (2001)

  • Stuart Walton: Back from the Abyss
  • Michael Lauer: The Wisdom of Value, the Folly of Fad
  • Steve Watson: Dialling for Dollars
  • Dana Galante: Against the Current
  • Mark D. Cook: Harvesting S&P Profits
  • Alphonse »Buddy« Fletcher Jr.: Win-Win Investing
  • Ahmet Okumus: From Istanbul to Wall Street Bull
  • Mark Minervini: Stock Around the Clock
  • Steve Lescarbeau: The Ultimate Trading System
  • Michael Masters: Swimming Through the Markets
  • John Bender: Questioning the Obvious
  • Claudio Guazzoni: Eliminating the Downside
  • David Shaw: The Quantitative Edge
  • Steve Cohen: The Trading Room
  • Arik Kiev, M.D.: The Mind of a Winner (wieder ein Psychologe)

Hedge Fund Market Wizards:
How Winning Traders Win (2012)

  • Colm O’Shea: Knowing When It’s Raining
  • Ray Dalio: The Man Who Loves Mistakes
  • Larry Benedict: Beyond Three Strikes
  • Scott Ramsey: Low-Risk Futures Trader
  • Jaffray Woodriff: The Third Way
  • Edward Thorp: The Innovator
  • Jamie Mai: Seeking Asymmetry
  • Michael Platt: The Art and Science of Risk Control
  • Steve Clark: Do More of What Works and Less of What Doesn’t
  • Martin Taylor: The Tsar Has No Cloths
  • Tom Claugus: A Change of Plans
  • Joe Vidich: Harvesting Losses
  • Kevin Daly: Who Is Warren Buffett?
  • Jimmy Balodimas: Stepping in Front of Freight Trains
  • Joel Greenblatt: The Magic Formula

 


Abenteuer mit Koni

Moskau, 10. Juli 2017, 21:59 | von Josik

Wir hatten uns an der Metrostation Baumanskaja mit Baumanski verabredet, dessen Nom de guerre ja von eben jenem revolutionären Bauman inspiriert ist, nach dem hier im Moskauer Osten viele Dinge benannt sind, etwa auch der Bauman-Garten, und in den gingen wir dann. Baumanski war ziemlich überrascht, dort einen Basler Springbrunnen vorzufinden, den die Stadt Basel den Moskauern geschenkt hatte. Dann aber, wie immer wenn man sich mit Baumanski trifft, kam die Rede irgendwie wieder ziemlich schnell auf Koni und auf die Frage, ob man ein literaturwissenschaftliches Instrumentarium entwickeln könnte, das die literarische Qualität von Schriftstellern direkt proportional zu ihrer persönlichen Hundeliebe misst. Der Gedankengang ist so:

Putins (1999 geborene und 2014 verstorbene) Hündin hieß Koni. Im Februar 2004 schenkte Putin dann dem damaligen österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil und seiner Gattin Margot Klestil-Löffler zwei von Konis Kindern, nämlich Olga und Orchidea. Völkerverständigung at her best! Margot Klestil-Löfflers Landsfrau Elfriede Jelinek veröffentlichte auf ihrer Homepage zwei schöne Texte über ihre (am 17. Juni 2006 verstorbene) Hündin Floppy. Karl Kraus schreibt in der Fackel Nr. 376 auf Seite 25: »Woodie, ein kleiner Hund mit langen Haaren, den ich persönlich gekannt habe, er lachte, wenn die Menschen zu ihm sprachen, und weinte, weil er mit ihnen nicht sprechen konnte, und sein Blick war für sich und sie der Dank der Kreatur: ist von einem Automobil getötet worden.« In der Fackel Nr. 454 auf Seite 63 veröffentlicht Karl Kraus das berühmte Gedicht: »Als Bobby starb (22. Februar 1917)«, das mit den Worten beginnt: »Der große Hund ist tot.« In Kraus’ letztem Lebensjahr war sein Lieblingshund Rover, ein schwarzer Neufundländer, den er Sidonie Nádherný geschenkt hat (Rover, Sandy, Flock und Pyri waren ein »Hundeviergespann«). 1991 erschien bei de Gruyter eine Studie mit dem Untertitel »Zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen«. Auch die Hundeliebe Schopenhauers, des bedeutendsten philosophischen Literaten aller Zeiten, ist sprichwörtlich. Friedrich Theodor Vischer hat den Hunden in seiner 600-seitigen Novelle »Auch Einer« ein Denkmal gesetzt. Salomon Maimon brachte seine Lieblingshündin Belline in die Berliner Salons mit und wollte ihr seine Bibliothek vermachen. Praktisch alle der erwähnten Personen sind superste Schriftsteller, und sie alle zeichnen sich durch ihre Hundeliebe aus – aber wie bringt man das theoretisch zusammen?

Darüber diskutierten wir endlos, und über dieser Diskussion waren wir mittlerweile aus dem Bauman-Garten heraus- und vor dem Club-Café Koni in der Novaya Basmannaya angekommen, das nur einen Knochenwurf entfernt liegt. Das Club-Café Koni war allerdings nicht nach Putins verstorbener Labradorhündin benannt, sondern nach dem Juristen Anatolij Fjodorowitsch Koni, der selber ein großer Hundefreund war, wie man gut an dem Foto sehen kann, das in Sergej Vysockijs Koni-Biografie aus dem Jahr 1988 zwischen den Seiten 64 und 65 abgebildet ist und auf dem Koni sich zusammen mit dem Hund Mirsa hat ablichten lassen. Leider hatte das Club-Café Koni geschlossen.

Man konnte aber durch die Fensterscheiben des Club-Cafés Koni kucken und erkennen, dass es innen sehr gut aussah, auf einem der Tische stand sogar eine noch nicht vollständig ausgelöffelte Tasse Tee. Wir aßen schnell woanders zu Mittag, und zwar auf der Terrasse eines nahen ukrainischen Restaurants. Und fuhren dann schließlich mit einem Yandex-Taxi zum weltweit einzigen Koni-Denkmal, vor der soziologischen Fakultät der Lomonossow-Universität.

Wir ließen das Taxi etwas zu früh halten, um der grässlichen russischen Popmusik zu entfliehen, die im Taxi lief und die gefährliche Ohrwurmqualitäten hatte. In einem Fußgängertunnel kauften wir ein paar frische Erdbeeren und aßen sie alle auf, während wir in die Richtung gingen, wo wir das Koni-Denkmal vermuteten, bis wir plötzlich da waren. Koni wurde in seinem Denkmal allerdings ohne Hund gebildhauert (dafür aber mit einem Gesetzbuch).

So verging dieser herrliche Tag, mein letzter vor der Rückreise nach München. Am nächsten Vormittag gab’s noch Frühstück bei Paco zuhause, und weil Paco zum Frühstück immer leise Ö1 hört, hörte auch ich leise Ö1 mit. Unmittelbar nachdem Paco das Internetradio angeknipst hatte, hörten wir als erstes einen merkwürdigen Satz, der ungefähr wie folgt lautete: »Ich finde Bürgerkrieg gut.« Ich nahm mir vor, zuhause noch mal nachzuhören, worum es hier eigentlich ging, habe das dann aber natürlich nicht getan.

Paco bestellte mir ein Yandex-Taxi, das mich zum Edward-Snowden-Flughafen Scheremetjewo bringen sollte. Fünf Minuten später stand das Taxi vor der Tür. Der Taxifahrer war anfangs leicht überfordert und meinte, er sei bisher noch nie nach Scheremetjewo gefahren, dafür brauche man eigentlich erfahrene Chauffeure, aber er habe die Anfrage ja nicht ablehnen können. Ich sagte in bestem Merkel-Russisch: »Успеем« (»Wir schaffen das«), da war er irgendwie beruhigt. Er fragte mich, ob ich Radiomusik wünsche, ich sagte: »Как хотите« (»Wie Sie mögen«). Er sagte, er möge lieber Ruhe, also lauschten wir weder schlimmem russischem Ohrwurmpop noch Ö1, womit ich als Bürgerkriegsgegner sehr einverstanden war, ich finde Bürgerkrieg nämlich wirklich nicht gut.
 


Book-Release-Party »Abenteuer im Kaffeehaus«, Setlist und Fotoreportage

Moskau, 21. April 2017, 09:47 | von Paco

Der Band ist am 24. März raus, die Book-Release-Lesung war am selben Tag, Leipziger Buchmesse:

Leipziger Lesung 'Abenteuer im Kaffeehaus', 24. März 2017

San Andi hat dazu eine kleine Fotoreportage gedreht, die man sich hier anschauen kann.

Die Setlist war wie folgt (die Seitenzahlen beziehen sich natürlich, sofern nicht anders angegeben, auf das Buch):

  • Dique: Die FAS und die Tauben, S. 46–48 (3:30 min.)
  • Dique: Im Apsley House, S. 141/142 (2:30 min.)
  • Paco: Christa Wolf und Leo Perutz, S. 152–154 (3 min.)
  • Paco (als Perutz-Zugabe): Mario Perutz, S. 178 (0:30 min.)
  • Dique: Turandot und die Sitznachbarin des Grauens, S. 155–157 (3 min.)
  • Paco: Die »Süddeutsche« vom 13./14. Februar 2010, S. 179–181 (4 min.)
  • Dique: Die Sportteil-Aussortierung, S. 193–195 (5 min.)
  • Paco: Nougattorte, Wirtschaftsteil, Runge, S. 203–205 (4 min.)
  • Dique: Der tausendste Buchladen, S. 215–218 (5 min.)
  • Paco: Einsteins Briefe, S. 151 (1 min.)
  • Dique: »Grete Minde«, S. 214 (2 min.)
  • Paco: MRR in der FAS, S. 227 (1 min.)
  • Dique: Café Fraunhuber, S. 228 (1 min.)
  • Dique: Room 59, der Saal des Gurkenmalers, S. 225/226 (2:30 min.)
  • Paco: Auszug aus der Master-Thesis von Maja Hoock (PDF), S. 59–62 (3 min.)
  • Briefwechsel mit Woodard mit verteilten Rollen, S. 278–281 (2:30 min.)
  • Dique: »Spiegel« lesen in Detroit, S. 273–276 (7 min.)

»Abenteuer im Kaffeehaus« ist gleichzeitig auch Band 1 unserer bei Ille & Riemer erscheinenden Reihe »Schriften des Umblätterers«, und nun machen wir uns mal an Band 2, bis später.
 


Am 24. März 2017 erscheint:
»Abenteuer im Kaffeehaus«

Leipzig, 19. März 2017, 18:45 | von Paco

In ein paar Tagen erscheint als erster Band der Reihe »Schriften des Umblätterers« beim Leipziger Verlag Ille & Riemer:

Abenteuer im Kaffeehaus (Cover)

 
André Seelmann (Dique)

Abenteuer im Kaffeehaus

Feuilletons aus dem Umblätterer
2007–2015

Mit einem Vorwort von Frank Fischer

Hrsg. von Frank Fischer, Andreas Vogel und Joseph Wälzholz

Im Anhang enthalten ist ein Briefwechsel mit David Woodard

Leipzig · Ille & Riemer · 2017
281 Seiten · 15,– €
ISBN 978-3-95420-018-4

Bestellen: Verlag | lehmanns.de | Amazon

 
Klappentext

Die wichtigsten Dinge der letzten zehn Jahre: »Spiegel« lesen und »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«. In Museen gehen, amerikanische TV-Serien schauen, das Gesamtwerk von Leo Perutz überdenken. Zwischendurch immer wieder ins Kaffeehaus, um ein bisschen was davon zu besprechen. Und damit alles schön ungenau bleibt, lieber rasch einen pindarischen Sprung zum nächsten Thema.

André Seelmann, geb. 1971 in Leipzig, war zwischen 2007 und 2015 Korrespondent des Kultur- und Freizeitjournals »Der Umblätterer« und berichtete aus London, Hamburg, Barcelona und São Paulo. Der vorliegende Band »Abenteuer im Kaffeehaus«, der seine Texte aus dieser Zeit versammelt, eröffnet die Reihe »Schriften des Umblätterers«.

 
Niemand erzählt so vom Feuilleton dieser Jahre wie der »Umblätterer«.
— Florian Kessler

 
Inhalt

Vorwort: Die Ungenauigkeit von Kaffeehausgesprächen … S. 7–11
Abenteuer im Kaffeehaus … S. 13–276
Anhang: Briefwechsel mit David Woodard … S. 278–281

 
Leseprobe und Cover

 
Book-Release-Lesung am 24. März 2017

Falls jemand zur Buchmesse oder einfach so in Leipzig ist und sich die Book-Release-Lesung anschauen möchte: Die findet am Freitag, 24. März, um 20:00 im schönen Kulturcafé Rumpelkammer statt (Dresdner Straße 25, 04103 Leipzig). Weitere Informationen bei Facebook und »Leipzig liest«.
 


Derrida

Lille, 15. September 2016, 22:44 | von Niwoabyl

Wie schon erwähnt lese ich gerade »Für immer in Honig« und habe eben Seite 600 erreicht. Vor zwei, drei Tagen war ich bei einem Kapitel angekommen, in dem zwei »Denker« vorkommen, und zwar tragen sie die Vornamen Jacques und Jürgen. Hahaha! (So hervorragend und empfehlenswert es ist, klingt »FiiH« leider ab und zu ein bisschen nach Jugendwerk, Dath kann oft nicht einfach aufhören, wenn’s gut und witzig ist, sondern muss immer wieder eins drauflegen, und dann kommt irgendwas Plumpes gegen Postmoderne und so.)

Das hat mich dann an Horzon erinnert, bei dem Derrida ja auch eine prominente Rolle spielt, direkt im ersten Kapitel vom »Weissen Buch«, als Haupterlebnis seiner Pariser Zeit (als PDF auf suhrkamp.de, S. 11–13). Und damit dachte ich dann wiederum sofort an Gespräche mit Österreichern, denen ich erklären musste, dass ich ja wirklich Franzose bin, aber mit Derrida nichts anfangen kann, und sie sagten, wie ist das möglich.

Da fiel mir auf: Ich habe eigentlich bislang überhaupt nur mit Deutschen und Österreichern über Derrida geredet (d. h., eigentlich sie von Derrida erzählen hören), und einmal vielleicht noch mit Amerikanern, aber auf jeden Fall nie mit Franzosen. Ich glaube, mein einziges Derrida-Gespräch auf Französisch fand 2003 statt, ich war gerade eben nach Paris gewechselt, als mir jemand erzählte, im Telefonbuch der ENSianer stehe Derridas private Telefonnummer (was auch stimmte, allerdings unter seinem bürgerlichen Namen Jackie Derrida). Sonst ging es irgendwie nie um ihn.

Als junge Studenten unterhielten wir uns über Foucault, wir lasen Deleuze und zitierten ihn nächtelang, wir führten Debatten über Strukturalismus in seiner Softcore- (Barthes) wie in seiner Hardcore-Prägung (Lévi-Strauss). Die ganz Philosophischen entdeckten auch Wittgenstein und Quine und die Sprachphilosophie für sich, die weniger Philosophischen versuchten es halt mit den politischen Autoren, alle mussten irgendwie für oder gegen Bourdieu sein. Wir waren also im Kopf Zeitgenossen unserer Lehrer.

Aber die eigentliche Postmoderne, Derrida und Lyotard, fand bei uns einfach nicht statt. Der vielleicht größte Star der Clique, der in Deutschland und den USA andauernd zitierte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Niemand las das oder wollte das lesen, das war kein Thema und gehörte schlicht und ergreifend nicht zum Kanon. Schwierigkeit könnte natürlich ein Grund sein, aber irgendwie auch nicht, denn einige – ich nicht – waren durchaus auch auf dem Weg zur Lacan-Kennerschaft, und unleserlicher kann selbst Derrida eigentlich nicht sein.