Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Interview-Raubkunst gestern und heute

Konstanz, 28. Juni 2011, 07:02 | von Marcuccio

Grüne, die sich schwarz ärgern, weil der »Focus« ein Interview mit Renate Künast geführt hat, um es dann doch nicht abzudrucken (via Bildblog): Das erinnert an einen prominenten früheren Fall von Interview-Raubkunst. Jetzt fast zehn Jahre her.

Damals hat der Interviewte zurückgezogen. Das ist ja der Normalfall. Gleichzeitig war die Sache durchtriebener. Denn was am 13. August 2001 an Interview-Camouflage geschah, dürfte in der jüngeren deutschen Pressegeschichte so auch nicht allzuoft passiert sein. Fast schon ein Stück Literaturgeschichte, wie es da im »Spiegel« (Nr. 33/2001, S. 104) unvermittelt lakonisch hieß:

»›Stern‹-Autor Arno Luik, 46, führte mit Walser am 25. Juli ein mehrstündiges Gespräch, der war mit der geschriebenen Fassung des Interviews aber nicht einverstanden, verweigerte seine Zustimmung und schickte dem SPIEGEL stattdessen den folgenden Text.«

Die einen haben eine Rufumleitung aufs Handy, die anderen eine Interviewumleitung zum »Spiegel«, hehe.

Der Text mit dem Titel »Streicheln und Kratzen« kam tatsächlich wie ein Interview daher. War in Wahrheit aber nur ein Interview-Homunculus: »ein Essay, der aussieht wie ein Interview, aber ein Selbstgespräch ist darüber, wie Interviews und öffentliche Meinungen entstehen«.

Bezeichnenderweise geht es damit los, dass Walser aus »mehreren« erst mal »neun Stunden« Gespräch macht. Devise: Die Verluste des Gegners maximieren. Den Interviewer wie in einem Schauprozess antreten lassen, kleinlaut antworten lassen:

Walser: (…) das Geredete haben Sie mir dann schriftlich geschickt, ich war nicht einverstanden – und zwar mit uns beiden nicht. Dann habe ich vorgeschlagen, dass ich ein Interview schreibe. Stimmt das?

Luik: Das stimmt.

Walser: Also alles, was jetzt folgt, ist von mir geschrieben. Auch ihre Antworten.

Luik: So ist es.

Und dann folgen da wirklich neun Stunden »Stern«-Interview auf zwei Druckseiten »Spiegel«. Walser spielt Tom Kummer, nur umgekehrt (der Promi erfindet die Antworten des Journalisten) und natürlich Kummer-unlike mit diesem Lamento-Sound. Und dieser Verlust­rechnung:

»Herr Luik, ich habe in unserem Neun-Stunden-Gespräch gesagt, dass Sie sich informiert haben wie ganz selten ein Interview-Partner. Ich habe Ihre virtuosen Interviews mit Gore Vidal, Edmund Stoiber und anderen gelesen. Und nur darum habe ich nicht nach einer halben Stunde gesagt: Lassen wir’s, es hat keinen Sinn.«

Vielleicht ist es mit Walsers verschlepptem Interviewausstieg ein bisschen so wie mit der CDU und mit den Grünen. Wer für den Atomausstieg ist, kann heute selbstredend schwarz-rot-gelb votieren. Und wer fingierte Interviews lesen möchte, kann das natürlich auch bei Walser oder anderen tun. Aber am Ende – das lehrt der Erfolg der Grünen wie die Faszination für den Bad Boy Kummer – bleibt man vielleicht doch lieber beim Original?
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2010

Leipzig, 11. Januar 2011, 04:25 | von Paco

Und jährlich grüßt das Maulwurfstier. Heute zum *sechsten* Mal seit 2005, hier ist der Goldene Maulwurf 2010:

Der Goldene Maulwurf

Diesmal gab es noch bis kurz vor Schluss unüberbrückbare Differenzen. Unsere Top Ten ist ja nicht gerankt, sagen wir immer, trotzdem wird bis zum Schluss um die Platzierungen gefightet. Und hier war jetzt die Frage: Christopher Schmidt oder Mathieu von Rohr. Zwei vollkommen verschiedene Texte, und ein Kompromiss schien irgendwann nicht mehr möglich, zu sehr waren wir mit unseren jeweiligen Argumenten verschmolzen.

Es gab nur einen Ausweg: Die Entscheidung, die dann auch von allen akzeptiert wurde, fiel beim Tischfußball (ein Wegweiser auch für künftige Entscheidungen anderer Jurys!), selbstverständlich unter Ausschluss von Mittelreihenschüssen. Und das Christopher-Schmidt-Team siegte mit 10:7 gegen eine kämpferische Mathieu-von-Rohr-Seleção.

Schmidt hat den Goldpokal auch völlig zu Recht verdient, die Kaffee­hausfähigkeit seines von uns hier gefeierten Artikels ist wirklich be­achtlich. Noch Monate nach der Veröffentlichung haben wir Freunde, Bekannte und Fremde in shock and awe davon reden hören.

Und hier sind sie alle, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2010:

1. Christopher Schmidt (SZ)
2. Mathieu von Rohr (Spiegel)
3. Stefan Niggemeier (FAS)
4. Simone Meier (Tages-Anzeiger)
5. Jakob Augstein (WAMS)
6. Iris Radisch (Zeit)
7. Nils Minkmar (FAZ)
8. Michael Angele (Freitag)
9. Renate Meinhof (SZ)
10. Philipp Oehmke (Spiegel)

Auch der 2010er war wieder ein superster Jahrgang des deutschen Feuilletons. In den 10 Mini-Laudationes stehen nur einige Gründe dafür. Diese lassen sich wie die Jahrgänge 2005, 2006, 2007, 2008 und 2009 auch später noch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken.

Hä? Kein bester Text zur Sarrazin-Debatte? Den hätte es natürlich schon gegeben (evtl. Edo Reents‘ Buchmessenverfolgung?). Und kein Peter-Richter-Text diesmal? Auch das wäre möglich gewesen, big time sogar, wie immer (z. B. »Die Schlacht der großen Vier«, FAZ vom 22. 6. 2010, da hat ein Event genau den einen Autor gefunden, der es adäquat abbilden kann).

Auch nicht dabei ist ein absolutes Highlight aus der Abteilung ›Kunst­markt‹, David Granns wahnhafte Reportage über den Fingerprint-Kunstauthentikator Peter Paul Biro im »New Yorker«. Aber diese Story ist über 120.000 Zeichen lang und steht damit außer Konkurrenz, ist eher Sachbuch als Feuilletonartikel. Und auch die Berichterstattung der deutschen Zeitungen über den Fälscherskandal um die so genann­te »Sammlung Jägers« war ja nicht schlecht und las sich insgesamt wie eine hochspannende, abenteuerlich-moralische Fortsetzungsge­schichte, siehe die Nr. 9 unserer Hitliste.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Das Consortium hat …

St. Moritz, 5. Januar 2011, 14:02 | von Paco

wieder da getagt, wo es schön ist. Noch die letzten Feuilletons des Jahres gelesen, dann hinaus auf den Hang.

Drei Bilder

Bei so viel Schönwetter stumpft ja eine Handykamera der ersten Ge­neration noch erkennbarer vor sich hin, der Meteoriteneinschlag auf Angie Merkels Loipe (Bild rechts) ist daher nur unzureichend zu erken­nen. Wobei ultraschlechte Handyfotos hier ja so was wie eine Tradition haben, siehe die Kaffeehäuser des Monats, hehe.

Die Ergebnisse unserer Après-Ski-Tagungen folgen dann hier wie geplant nächsten Dienstag, am 11. Januar: Der Goldene Maulwurf – Best of Feuilleton 2010.

Feuilletonistische Grüße,

i.A. Paco
–Consortium Feuilletonorum Insaniaeque–
 


Neue Erkenntnisse

Stanford, 3. Januar 2011, 11:30 | von Srifo

Endlich besteht die Möglichkeit, unsere Reduplikationssektion »Buchbuch« hintenrum etwas aufzubohren. Wenn es nämlich eine Sache gibt, die man von Jacques Derrida mitunter hätte lernen können, dann wohl die, dass übers Schreiben zu schreiben intellektuell ausgereizt und institutionell verkrustet ist.

Leider haben aber nur wenige die Fährten gewittert, die der Repräsentationsphilosoph sorgfältig dorthin gelegt hatte. Zum Beispiel ließ er sich für den Film »Ghost Dance« (in dem zwei wundersame Fräulein auf postmodernste Weise die Welt erkundschaften) klammheimlich nur vor einer verspiegelten Sitzecke im regnerischen New-Wave-Paris von 1983 aufnehmen. (Vielleicht liegt das aber auch daran, dass sich Derrida damals außer im Spiegelcafé höchstens noch in seinem gräulichen Büro im Pavillon Pasteur der ENS sehen lassen konnte. Das ist der zweite Schauplatz des Films, mit Pfeife und Telefonunterbrechung – »voilà, le téléphone, c’est le fantôme«. Bei YouTube in der schönen alten ZDF-Version.)

Wer da nur den ins Geistermedium Film gewölkten philosoph-spielenden Philosophen sah, lag prompt daneben. Hätte man im Café auf den Spiegel im Hintergrund geachtet – Rodolphe Gasché brauchte hier in den Staaten immerhin 3 weitere Jahre um vom »Tain of the Mirror« zu berichten – wäre fix klar gewesen, dass dieser nicht philosophiert. Glas mit aufgedampftem Silber denkt nicht.

Umso treffender ist es daher, dass Jürg Altwegg heuer mit kalter Schulter Benoît Peeters neue Derrida-Biografie rezensiert. Treffender, weil Altwegg sich im Gegensatz zu Peeters nicht darum bemüht, mit bewegenden Endnotizen das Buch oder die Materie zu umspielen, sondern schlicht schließt:

»… Nochmals gewinnt Peeters neue Erkenntnisse. Derridas Essgewohnheiten seien keineswegs so konservativ gewesen, wie er, Peeters, sich das gedacht hatte: ›Er war ein Feinschmecker und offen für kulinarische Abenteuer.‹ Derrida habe der Köchin seine Bücher geschenkt, ›die sie nicht immer zu verstehen vermochte‹. An der Biographie ihres Stammgasts wird sie sich freuen und ergötzen wie viele Leser, die – wie selbst sein wohlwollender Biograph – mit Derridas Werken ihre liebe Mühe haben.«

So ein einsichtenerstickender Ton findet sich ansonsten nur, wenn der »Hausmeister des deutschen Geistes« Rüdiger Safranski – »immer ein Lob wert« – rezensiert wird. Dem ist Unordentlichkeit das Schlimmste und sie muss ihm daher selbst umgemünzt in »gutes Barmixer­tum« (das Dieter Thomä 1994 ganz offiziell anerkannt hat) noch alle philosophische Aufgeräumtheit mit »überzuckerter Spätlese« à la heideggerienne verderben. Womit wir wieder am Ecktischchen im Paris der 80er wären.

Altwegg hat also in den Spiegel geschaut und bemerkt, dass Peeters wohl über Derridas Fährten drübergetrampelt ist, denn: Zusätzlich zu den 740 Seiten »Derrida« sind noch 247 Seiten unter dem Titel »Trois ans avec Derrida. Les carnets d’un biographe« erschienen, womit wir auch das Buchbuch hätten. Insgeheim ist Peeters also wohl Erz­derridist, der durchführt, was er verstanden hat: Über das eigene Beschreiben des Schreibesschreibers ein Schreiben zu schreiben.

Für den einen wie für den anderen metaphysischen Lichtanknipser liest sich da ebenso schön, womit Thomä schließlich seinen Besuch bei Hausmeister Safranski beendete, davongekommen mit einem blauen Auge der 80er:

»Der existentialitische Stiefbruder Heideggers, Jean-Paul Sartre, hat sich einmal schaudernd gefragt, ob ›die Menschen überhaupt nie ein anderes Leben haben als das, welches sie verdienen‹. Für Heideggers Leben gilt dies sicherlich; den Biographen aber, den er verdiente, hat er noch nicht gefunden.«

 


Listen-Archäologie (Teil 6):
Die Hitler-Titel des »Spiegel«

Berlin, 7. November 2010, 17:01 | von Marcuccio

Im letzten Raum der aktuellen Sonderausstellung des DHM haben sie eine ganze Wand mit »Spiegel«-Titeln tapeziert, sämtlichen bis 2009 publizierten 45 Heften mit Hitler auf dem Cover:

»Von dem ersten aus dem Jahr 1964 (›Anatomie eines Diktators‹) bis zu einem der aktuellsten von 2009 (›Die Komplizen‹) ist auch an ihnen der Wandel im Geschichtsbild zu erkennen.« (Spiegel 41/2010, S. 38)

Zum Teil entlarven sich die Titel auch selbst, wenn man sich mal an­schaut, wofür der berühmte »Teppichfresser« alles herhalten musste: Gefahren des Klonens? Hitler! (Nr. 10/1997)

Zwei Führer-Cover hintereinander gab’s trotz aller Dichte nur einmal, im Umfeld der Hitler-Tagebücher des »stern«: Nr. 18 (»Fund oder Fälschung?«) und 19/1983 (»Fälschung«).

Nr. 5/1964
Nr. 3/1966
Nr. 32/1966
Nr. 31/1967
Nr. 1/1969

Nr. 14/1973
Nr. 34/1977
Nr. 44/1979

Nr. 24/1981
Nr. 52/1982
Nr. 18/1983
Nr. 19/1983
Nr. 32/1986
Nr. 35/1987
Nr. 46/1988
Nr. 15/1989
Nr. 32/1989

Nr. 24/1991
Nr. 29/1992
Nr. 2/1994
Nr. 14/1995
Nr. 19/1995
Nr. 6/1996
Nr. 8/1996
Nr. 21/1996
Nr. 33/1996
Nr. 10/1997
Nr. 25/1997
Nr. 30/1997
Nr. 7/1998
Nr. 22/1998
Nr. 45/1998
Nr. 43/1999

Nr. 25/2000
Nr. 4/2001
Nr. 19/2001
Nr. 23/2002
Nr. 51/2002
Nr. 8/2004
Nr. 29/2004
Nr. 35/2004
Nr. 18/2005
Nr. 3/2008
Nr. 45/2008
Nr. 21/2009

(und Hitler-Titel Nr. 46, in der Ausstellung noch nicht mit dabei:)

Nr. 33/2010

Direkt über diese Titelbilder-Anordnung im DHM hätte man, wenn sie denn noch online wäre, die »Blattschuss«-Folge an die Wand beamen können, in der Oliver Gehrs die »Spiegel«-Verkaufskurve aufmalt und deren Peaks mit den Hitler-Titelbildern korreliert. (Diese Frage hatte ja damals auch das Hitler-Blog der taz umgetrieben.)

Außerdem aufschlussreich gewesen wäre eine Übersicht über alle einschlägigen Guido-Knopp-Sendetitel. Hitlers Hunde, Hitlers Blumen, Hitlers Witze usw. Auch da hatte man ja irgendwann den Überblick verloren.
 


»ALDI gibt bekannt …«

Konstanz, 4. August 2010, 01:35 | von Marcuccio

Nein, kein übliches Urnengrab im »Spiegel«-Register (»Gestorben«), sondern den Hamburgern in der aktuellen Ausgabe eine eigene Hausmitteilung wert. Und dazu gleich 11 Seiten Kulturgeschichte des »Ur-Discounters« zum Nachlesen, fast schon eine heimliche Titel­geschichte (die es in mageren Nachrichtenwochen wohl auch geworden wäre). Was für eine publizistische Bestattung von Theodor Paul (genannt Theo) Albrecht geht da zu Ende.

Wie erwartet fand sie sowohl auf den Wirtschafts- wie den Feuille­tonseiten statt, und sie muss so was wie der Alptraum aller Bild­redaktionen gewesen sein, denn es standen den meisten Medien ja nur zwei »Theo«-Bilder überhaupt zur Verfügung: wahlweise die beiden Brüder Albrecht sowie das 1970er-Jahre-Brustbild von Theo, von kurz nach der Entführung.

Heimlicher Höhepunkt natürlich die ganzseitige Todesanzeige im FAZ-Feuilleton vom Donnerstag. Die meines Wissens erste und einzige ALDI-Anzeige, die nicht mit den klassischen Worten »ALDI informiert«, sondern »ALDI gibt bekannt« begann – der Bedeutung des Ereignisses angemessen. Die Annonce war im übrigen nicht weniger informativ als die journalistische Berichterstattung insgesamt.

Die nämlich litt, wie immer bei ALDI-Themen, unter der kargen Nach­richtenlage. Gebot der Stunde war es also, wieder mal allerlei ALDI-Mythen aufleben zu lassen: vom symptomatischen Aufbrauchen des alten Briefpapiers (»x-te er Jahre nach der Postleitzahlen-Umstellung 1993 die alte Essener Nummer 4300 einfach aus«, so Hannes Hintermeier in der FAZ) bis zum Brüder-Antagonismus und dem ALDI-Limes, Sinnbild für die wahre deutsche Teilung in einen ärmeren, protestantisch-nüchternen Norden und einen reicheren, sinnenfreudi­geren Süden, ablesbar sowohl am Sortiment als auch an der Filial­gestaltung. Nur mentalitätsgeschichtlich hätten Sachsen und Teile von Thüringen unbedingt ALDI-Süd zugeschlagen werden müssen.

Neu für mich, das ALDI-Südstaatenkind, war übrigens Günter Fruhtrunk als ALDI-Tütendesigner (Nord).

Und noch was für den Korrekturkasten im nächsten »Spiegel« (damit er nicht wieder ausfallen muss wie zuletzt): Die ALDI-Europakarte auf S. 67 stimmt nicht ganz, ALDI-Suisse ist Expansionsgebiet von ALDI-Süd, nicht -Nord. Und weil wir grad dabei sind, noch eine Korinthe zur Titelgeschichte der vorvorletzten Ausgabe (Nr. 29, S. 61): »Über allen Gipfeln ist Ruh …« a.k.a. »Ein Gleiches« ist nicht wirklich ein »Alters­gedicht Goethes«, wie Susanne Beyer schreibt, der Dichter war da 31 Jahre und hatte noch 51 weitere zu leben, also na ja.


Maxim Biller: Der gebrauchte Jude

Saint-Jean-de-Luz, 28. Juli 2010, 10:43 | von Paco

Ein sehr lesefreundliches Buch, erzählt in 61 kurzen Snippets. Man muss nie mehr als zweimal umblättern bis zum nächsten Kapitel. Immer wenn ich zurückkam aus dem Wasser, vom Eisstand oder von einer Runde Beachvolleyball, lag das Buch noch aufgeschlagen da, und im Verlauf einer Strandwoche war ich dann durch.

Es ist jetzt zwar etwas angenässt und voller Sandkörner, aber ich werde versuchen es weiterzuverleihen, denn das Buch ist so ein unglaublicher Hammer. Besonders gelungen sind die Kapitel 4, 17, 34, 41 und 56.

Als nächstes wollte ich ein von Biller empfohlenes Thomas-Mann-Buch anfangen, da waren aber die Kapitel zu lang für den Strand, ich kann davon unter diesen Umständen nur abraten.

Glücklicherweise ist heute an den Kiosken des französischen Basken­landes der neue »Spiegel« eingetroffen, also werde ich erst mal die Aufmacherstrecke zu den »Afghan War Logs« lesen, die auch sehr lesefreundlich gestückelt ist.


Die FAS vom 4. Juli 2010:
Die Lyrik der Spionage

Leipzig, 5. Juli 2010, 19:47 | von Paco

Der Interviewmüller

Irgendwann nach Mitternacht habe ich noch schnell die letzte FAS weggekauft, kurz bevor sie aus dem Regal entfernt wurde. Als erstes dann das André-Müller-Interview mit Luc Bondy gelesen, und der legendäre Interviewmüller hat natürlich wieder ein paar komische Fragen gestellt, was ja immer noch sehr gut kommt.

»Spione wie wir«

Dann den sehr schön erzählten Artikel von Nils Minkmar über die »Lyrik der Spionage«, die Vexierhaftigkeit von Geheimdienstaktionen. Der Text beginnt mit der Operation Mincemeat, bei der 1943 die Leiche eines vermeintlichen Britenmajors von den Alliierten in spanischen Gewässern abgelegt wurde, mitsamt einer Aktentasche, in der sich so vertrauliche wie gefälschte Dokumente befanden, die dann planmäßig beim Feind landeten.

Bei der deutschen Abwehr wurde die Fälschung erkannt, aber Alexis von Roenne sprach sich wider besseren Wissens für die Authentizität der Dokumente aus, denn er arbeitete da schon im Sinne des antihitlerischen Widerstands, was aber die Briten ja nicht gewusst haben konnten usw. usw.

Nach diesem historischen Einstieg wird zu den aktuellen Ereignissen geschaltet, zu den enttarnten russischen Spionen, die gerade im Vorstadtamerika der Desperate Housewives ausgehoben wurden, was eventuell eben auch planmäßig geschah, im Zuge irgendeiner mehrdimensionalen Strategie, wie zu vermuten steht.

»Pastewka«-Bruder Hagen

Nach diesem für die frühesten Morgenstunden eher komplexen Artikel las ich dann noch das Interview mit Matthias Matschke, der den »Pastewka«-Bruder Hagen spielt. Es geht im Großen und Ganzen um den Unterschied zwischen Theater und TV etc. etc., und dann rekapituliert er da unter anderem sehr ausführlich die »Extras«-Folge mit Orlando Bloom, hab sofort Lust gekriegt, die Folge selbst noch mal anzuschauen.

Eine Ladung Žižek

Stattdessen las ich aber noch den Žižek-Artikel im neuen »Spiegel«. Der lustige slowenische Modephilosoph ist ja die Einladung an einen jeden Reporter, mit seinem Beschreibungspotenzial an die Grenzen zu gehen:

»Er hat einen S-Fehler, der Buchstabe klingt bei ihm wie eine Fahrradluftpumpe. Seine Vorträge beginnen meist mit ›Did you know …‹.«

Žižek: gääähn, ich weiß, aber ab und zu muss man sich mal wieder eine Ladung Žižek geben, und wenn das in Form dieses großartigen und hervorragenden »Spiegel«-Style-Artikels von Philipp Oehmke geschieht, umso besser:

»Mein Freund Peter, zum Beispiel, fucking Sloterdijk, ich mag ihn sehr, aber natürlich muss er in den Gulag. Aber er wird ein bisschen besser gestellt dort, vielleicht kann er Koch werden.«

Es herrscht also natürlich wieder das übliche Žižek-Anekdotentum, aber die ganze Žižekerei wurde mal in einen schön auserzählten Artikel gegossen. Ich hab dann noch ein wenig weiter im »Spiegel« gelesen, bis mich der Schlaf übermannte, heute vormittag konnte ich mich dann an nichts mehr erinnern und las den »Spiegel« also einfach noch mal von vorn.


Frühstücksrituale

Konstanz, 24. Mai 2010, 22:29 | von Marcuccio

»Darf man als Frau verlangen, die Tageszeitung beim Frühstück vor dem männlichen Partner zu lesen?« Das fragt allen Ernstes neulich eine Leserin in der »Weltwoche« (Nr. 18/2010). Und Kurt W. Zimmermann geht für seine Antwort den historisch-diplomatischen Weg:

»Aus Männersicht ist schon mal positiv, dass frau die Frage überhaupt stellt. Hier schwingt das kollektive historische Bewusstsein nach, dass Zeitungslesen bis Ende des 19. Jahr­hunderts Männersache war.« (Der Zeitungsphilister grüßt!)

Witzig anachronistisch an dem Frage-Antwort-Spiel ist, dass erst gar keiner der Beteiligten erwähnt, dass moderne Zeitungen heute in der Regel aus mehreren, ressortspezifischen Lagen bestehen – »Büchern«, die man durchaus gleichzeitig lesen und sich also auch teilen kann. Man kennt das ja aus den Rama-Frühstücksfamilien: Vater Politik, Sohn Sport, Tochter Lokales, Mutter Kultur. Oder so ähnlich.

Bei der »Frankfurter Rundschau« geht das natürlich nicht, da gibt es diese getrennten Lagen nicht mehr, seit sie vor jetzt genau 3 Jahren auf Tabloid-Format umgestellt wurde. Die FR kann man also nur noch so zum Lesen teilen, wie sich Paco und Millek mal brüderlich den »Spiegel« geteilt haben, ritsch-ratsch, und das ist ja nicht das Schlechteste.


Nachruf auf die »Datenautobahn«

Konstanz, 20. Mai 2010, 21:05 | von Marcuccio

Der Tod der Datenautobahn, das sehe ich erst jetzt, wo ich nochmal über den Rezensionsfriedhof einer Alt-FAZ gehe, wurde am 14. April auf der Rückseite des Jauer’schen Blogger-Dossiers annonciert. Viele Umblätterer waren an dem Tag eh verwirrt, weil die Rezensionsseite der FAZ (sonst Seite 2) erst Feuilletonseite 4 war, und so konnte man den Artikel mit der Überschrift »Wellenreiten auf den Lehrplan!« schon mal übersehen.

Oliver Jungen bespricht darin die »Metapher Internet«, also das gleichnamige Buch von Matthias Bickenbach und Harun Maye. Und er spricht sehr schön von den »Katachresen« unserer Digitalkultur, also Begriffen wie »Surfen«, »Navigation« oder »Netz«, die gar nicht mehr als Metaphern wahrgenommen werden:

»Erstaunlich ist, wie resolut die Auffassung des Internet der bereits in der Antike geprägten Verbindung von Wassermetaphorik und Informationsverarbeitung folgt. Schon die Kybernetik greift ja in ihrem Namen den Steuermann auf, und auch sonst hat sich das Begriffsfeld des ›Datenmeeres‹ und der ›Informationsflut‹ weitgehend durchgesetzt. Dagegen scheiterte der in den neunziger Jahren kurzzeitig populäre Begriff der ›Datenautobahn‹: Die darin enthaltene Zielorientierung scheint dem totalen Möglichkeitsraum Internet nicht angemessen, auch wenn sie über das Fließen des Verkehrs immer noch an das Bildfeld des Liquiden anschließbar ist.«

Genau mit solchen kleinen Nebenauskünften macht Feuilleton im Grunde immer den größten Spaß. Und es stimmt wirklich: Ein kurzer Klick zum Beispiel ins »Spiegel«-Archiv zeigt die Frequenz, mit der das Schlagwort »Datenautobahn(en)« in den einzelnen Jahrgängen vorkam:

Vorkommen der Datenautobahn(en) im SPIEGEL, 1991–2010

1995 der absolute Peak, um 2000 noch mal ein kleines Comeback, dann nach dem Platzen der Dotcom-Blase praktisch over and out. Erstgebrauch des Wortes war übrigens 1993 in einem »Spiegel«-Gespräch mit Bill Gates. Überschrift: »Wir bauen die Datenautobahn«.


Diagramm erstellt mit Create A Graph.
Datenerhebung über http://www.spiegel.de/suche/.