Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Feuilleton und Pornografie (Teil 4):
Ariadne von Schirach über die Generation Porno

London, 12. Juli 2008, 08:14 | von Paco

Buchstäblich aus dem Nichts kam der »Spiegel«-Essay einer bis dahin unbekannten Philosophiestudentin:

Ariadne von Schirach: Der Tanz um die Lust.
In: Der Spiegel 42/2005 (17. 10. 2005), S. 194-200.

Die These der Autorin lautet ungefähr so: Wenn sogar der niedliche Berlin-Mitte-Boy von nebenan (»stilecht mit Freitag-Umhängetasche«) ungeniert durch die Pornoabteilung einer Videothek surft, dann muss das etwas bedeuten. Nämlich: Porno ist überall, Porno ist gesellschaftsfähig.

Der Ariadne-v.-Schirach-Artikel mit dem wallend blonden Foto als Beweis der Autorschaft war ein Scoop für den »Spiegel«. Alle, wirklich alle wollten wissen, wer das ist – und was dieser Text eigentlich jetzt genau soll. Einordnungsversuch: Der Artikel und Schirachs daran anschließendes Buch »Der Tanz um die Lust« (Goldmann 2007) sind eine Art Porno-Edition von Illies‘ »Generation Golf«.

All die hoffnungsfrohen jungen Leute, die sich von einer ubiquitären Pornografie dominieren lassen, verlängern so ihre Jugend und zögern ihr endgültiges Erwachsenwerden hinaus. Wo Pornos sind, sind Singles, männliche vor allem, denn die sprichwörtlichen »Sexbomben mit Staatsexamen« sind schon noch an Bindung interessiert, befinden sich schon noch in Erwartung des Mr. Right und zeigen sich daher »ungehalten über mangelnde sexuelle Bereitschaft. Die Männer sind verunsichert und flüchten ins Internet.«

»Die Hinweise häufen sich. Rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung soll sich angeblich regelmäßig auf Sexseiten im Internet vergnügen. Es gibt Seiten, die ein komplettes Porno-Alphabet anbieten, jede nur erdenkliche Neigung, kunstvoll sortiert, der alte de Sade hätte seine helle Freude gehabt.«

Über Advanced Porn-Surfing hat übrigens Jens Friebe ein sehr schönes Lied geschrieben, es heißt »Gespenster«, stammt vom 2004er Album »Vorher Nachher Bilder« und wird hier später verhandelt.

Zurück zu Schirach. Ihr ist auf jeden Fall eine beeindruckende Phänomenologie der pornografisierten Gesellschaft gelungen. Der »Spiegel«-Text wird vor allem durch die unterhaltsame Beispielgebung getragen, angetreten ist »die Frau von der Triebabfuhr« (taz) aber auch, um irgendwie zu warnen: »Das Problem beginnt, wenn das pornografische Menschenbild zur Norm wird, und Gegenbilder fehlen«, sagte sie im SP*N-Interview. Wohin sie mit ihren Bedenken allerdings will, wird nicht so richtig deutlich.


Feuilleton und Pornografie (Teil 1):
Alexander Osang über Pornywood

London, 28. Juni 2008, 16:06 | von Paco

Hier werden ab heute (und danach in hoffentlich nicht allzu loser Folge) ein paar Standardartikel zum Thema vorgestellt, die man unbedingt gelesen haben muss. Damit es nicht zu lustig wird, starte ich mit diesem Text:

Alexander Osang: Männer sind knapp im Moment.
In: »Der Spiegel« 21 (17. 5. 2004), S. 142-146.

Osangs Reportage ist natürlich kein Loblied auf die US-amerikanische Pornoindustrie mit deren Hauptschauplatz San Fernando Valley, genannt Pornywood. Vom Tonfall bis zur Pointe zeichnet er ein eher dunkles Sittengemälde der Milliardenbranche.

Zwar werden genaue Berufsbilder vom Modelagenten über den Regisseur/Kameramann und den Produzenten bis zu den Darstellern gezeichnet. Als beruflicher Appetizer der FAZ-Beilage »Beruf & Chance« ließe sich der Text aber dennoch nicht verbraten. Das liegt vor allem am Aufhänger: dem HIV-Skandal, der Pornywood vor 4 Jahren erschütterte.

Während der empfohlenen 60-Tage-Quarantäne herrschte eine Knappheit an männlichen Darstellern, viel Zeit zur Besinnung schien aber nicht zu bleiben: »Die Frauen gehen gelangweilt ihrer Arbeit nach. Die Frauen hier wollen Männer. Für eine ›Girl-Girl‹-Szene gibt es 400 Dollar, für eine ›Boy-Girl‹-Szene doppelt so viel.«

Es waren solche Details, die auch noch Wochen nach dem Erscheinen des Textes Mitte Mai 2004 immer mal wieder Thema an irgendwelchen Nebentischen waren. Diese Nachhaltigkeit ist vor allem auch auf die literarische Grundhaltung des Autors zurück­zuführen: Schon aufgrund des Aufhängers war es Osang nicht möglich, seinen Bericht mit einem ironischen Unterton zu versehen, wie es Feuilletontexte über die Pornoszene sonst gern tun (Beispiele folgen).


Der Spiegel 23/2008 (2. 6. 2008):
Erlebte Rede und T-saster

Rom, 6. Juni 2008, 11:42 | von Paco

Das Schöne auf Reisen ist ja, dass man mal wieder Quality-Time mit dem »Spiegel« verbringen kann. Damit wir die Ausgabe nicht wieder zerreißen mussten (wie neulich), haben wir am Montag gleich 3 Exemplare gekauft. Das Gesine-Schwan-Interview hat Dique ja schon erwähnt. Was sonst noch geschah:

Es handelt sich um eine Oliver-Gehrs-Gedächtnis-Ausgabe, denn mit der Berichterstattung zur »Telekom-Bespitzelungsaffäre« (vgl. Wikipedia) ist dem »Spiegel« wieder ein echter »Spiegel«-Scoop gelungen, scheint’s. Und so eine Superstory hat ja Gehrs immer eingefordert, bevor er sich dann lieber dem Medien-Gemüsegarten widmete.

Die Story zum Heftthema »Big Bro·T·her – Der unheimliche Staatskonzern« befindet sich auf S. 20-33 (Überschrift: »Codename ›Phylax‹«). Gut zu lesen usw., wobei 2 Stellen herausstechen, die erste auf S. 23. Dem Überwachungswahn auf Seiten der Wirtschaft entsprächen auf Seiten der Politik

»Hardliner, die angesichts islamistischen Terrors am liebsten schon die Grundrechte einschränken würden, wenn es denn dem Schutz der Gesellschaft diente – und der Demokratie. Nur die wäre ihren Namen dann kaum noch wert, weil man sich auch zu Tode schützen kann.«

Ok, die wohlfeile Bemerkung, dass »man sich auch zu Tode schützen kann«, könnte man schon durchgehen lassen: am Stammtisch, in der Schülerzeitung, als Tagline von »Stasi 2.0«-Kritik, im Deutsch-Aufsatz usw., nur eben nicht im »Spiegel«. Denn wer spricht hier? Wer jubelt uns da seine Meinung unter? Ich dachte immer, dass die legendäre Schlussredaktion stets darauf achtet, dass die Form der erlebten Rede auf jeden Fall »Spiegel«-ironisch daherkommt und nicht so völlig ernstgemeint wie in dieser Passage.

Aber gut. Am Ende des Textes, für den 9 Autoren verantwortlich zeichnen, wird noch einmal rekapituliert, wie die Affäre Ende Mai eigentlich genau begann. Der Vorabend des Scoops wird so zusammengefasst: »Das T-saster beginnt.« In der S-Zeitung müsste so eine lustige Wortbildung als Überschrift herhalten, beim »Spiegel« steht sie im Text, und warum auch nicht.

Ansonsten …

… hat Juan Moreno eine sehr gut recherchierte und schön formulierte Reportage über die Poker-Szene geschrieben (»Auf der Jagd nach Boris«, S. 76-81).

Und Matthias Matussek taucht überraschenderweise im »Deutschland«-Ressort auf, mit einer Story über Gregor Gysi, über dessen Touren anlässlich der Kommunalwahl in Kiel und die perennierenden Stasi-Vorwürfe gegen ihn (S. 48-50). »Gregor Gysi ist Paris Hilton ohne Hündchen«, steht da unter anderem, und auch der Resttext ist literarisch in Hochform.

Auffällig ist außerdem, dass Matussek selber ein Foto von Gysi geschossen hat, das auch im Heft abgedruckt wurde (Gysi vor einer Reproduktion von Edward Hoppers »Nighthawks«, S. 50). Hat er dafür einfach seine Ixus genommen? Mit der Superfein-Einstellung? Wenn man genau hinsieht, kann man an den Objekträndern JPEG-Artefakte erkennen, aber vielleicht ist das auch nur Einbildung.

Wie auch immer, das Matussek-Foto ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Textjournalisten immer öfter selber draufhalten, der Umblätterer hat das ja immer mal wieder festgestellt (vgl. hier und passim).

So, »Spiegel« ist ausgelesen, es wird Zeit, dass die FAS kommt, hehe.


Die FAS vom 1. 6. 2008:
»Zur Erinnerung«

Rom, 4. Juni 2008, 23:57 | von Dique

Auch hier von Tauben eingekreist, am Sonntag, bei Sonnenschein, im Schatten des Konstantinsbogens. Und aus dem FAS-Feuilleton grüßte John McEnroe, ein Artikel von Tobias Rüther zur McEnroe-Biografie von Tim Adams. Aber ich dachte zunächst an das »Freak Book« und erst später an 1-a-Tenniswetter.

Denn in einer der besten Episoden der 6. Staffel von »Curb Your Enthusiasm« (wir berichteten) verdingt sich Larry als Limo-Driver und holt einen berühmten Fahrgast ab, nämlich John McEnroe. In der FAS wird er als »grau und drahtig und garstig« beschrieben, der auch mal »You’re shit!« ins Publikum des Düsseldorfer »Masters of Legends« brüllt.

In der Serie amüsiert sich der garstige Tennisstar später mit Larry lauthals über einem Bier in einer VIP-Lounge über dieses »Freak Book«. Und wir amüsierten uns beim Lesen der FAS-Leserpost. Einem Leser gefiel die traumhafte Titelseite mit der Haartracht von Gesine Schwan nicht (wir berichteten), wozu er Folgendes anmerkt:

Die FAS unterm Konstantinsbogen

Etwas schwer zu erkennen im Bild (im Hintergrund übrigens der erwähnte Triumphbogen), deshalb hier noch mal geOCRt:

»Zur Erinnerung: Es gibt in der deutschen Geschichte unselige Zeiten, in denen Menschen einer bestimmten Religionszugehörigkeit oder Rasse ähnlich selektiv-herabsetzend bildlich dargestellt wurden, was, wie wir wissen, die Vorstufe zur tödlichen Selektion war.«

Das schreibt also der unfassbare FAS-Leser, es klingt fast wie sehr gut ausgedacht, aber das Thema ist denn doch zu delikat.

Irgendwann, zwischen Trastevere, San Giovanni und Parioli, ging die FAS dann verloren, teilweise ungelesen. Glücklicherweise gab es am nächsten Morgen den frischen »Spiegel«, trotz feiertäglicher Festa della Repubblica. (Alles Gute, Silvio.)

Und in diesem »Spiegel« gibt es auf S. 40-43 ein Interview mit Gesine Schwan, und da sagt sie das hier:

»Vorige Woche hat eine Zeitung auf der ersten Seite ein Foto gedruckt, auf der nur meine Locken zu sehen waren. Ich habe mich totgelacht.«

So schnell kann es also heutzutage gehen mit der »tödlichen Selektion«, hehe.


Die FAS vom 25. 5. 2008:
Nils Minkmar: Große Kitsch-Geständnis-Beichte!

Rom, 29. Mai 2008, 23:59 | von Paco

Der »Spiegel« von dieser Woche war – gerade im Kulturteil – ein Hammerspiegel (allein die Rowohlt- und Winehouse-Storys!), dass man sich zurecht fragen wird, warum ich hier lieber wieder die FAS recappe. Also warum? Wir werden es wie immer nicht verraten.

Auch die letztsonntägliche FAS ist natürlich wie immer gut bestückt. Auf der Frontpage prangt ein Bild von Gesine Schwan. Dachte ich zuerst. Beim Aufklappen der Zäätung war da aber nur die Bildunterschrift und danach gleich ein anderer Text. Es ist also tatsächlich nur die großformatige Frisur der Schwänin zu sehen, ihre »auffällig hochgehauenen Locken«, wie es im Text auf S. 2-3 heißt. Der stammt von Oliver Hoischen, Eckart Lohse und Volker Zastrow und ist in einem ganz superb spiegelig gehaltenem Tonfall geschrieben.

(Falls diesen Recap in 10 Jahren noch mal jemand lesen sollte (unwahrscheinlich), kurz zur Erklärung: Gesine Schwan wurde einen Tag nach dem Erscheinen dieser FAS wie erwartet zur SPD-Kandidatin für die Bundespräsidentenwahl 2009 gekürt.)

Fortgesetzt wird der Lead vom Feuilleton-Aufmacher, den diesmal »der alte Schirrmacher« (Matussek) persönlich übernommen hat (»Der Roman, in dem wir leben«, S. 23). Es handelt sich um ein lässiges Zitate-Workout. Das Personenregister des Textes sieht so aus, unter Ausschluss von Leviathan und Parzifal, hehe:

Charles Dickens
H.G. Wells
Dirk Kurbjuweit
Honoré de Balzac
Thomas Mann
Gesine Schwan
Horst Köhler
Peter Hacks
Mary Shelley
Friedrich Dürrenmatt
Leszek Kołakowski
Sahra Wagenknecht
Andrea Nahles (»Frau Nahles«)
Kurt Beck

Weiters hat Julia Encke ein Interview mit dem hervorragenden israelischen Autor David Grossman geführt (S. 25), der hinsichtlich des Nahostkonflikts rhetorisch auf die Tube drückt:

»Wir haben nur noch wenig Zeit, ich denke, drei bis fünf Jahre. Wenn in diesem Zeitraum keine keine Lösung gefunden wird, habe ich aufrichtig Angst um die Zukunft aller Seiten.«

Grossmans Hauptwerk (so nenne ich das jetzt mal ohne Umschweife), das auch gut als Einführung in sein Œuvre geeignet ist, kann man sich übrigens auf YouTube ansehen. Vorsicht, Ohrwurm! Es handelt sich bei dem »Sticker Song« um die von Hadag Nachash unternommene Vertonung & Bebilderung eines Gedichtes von ihm. Das fällt angenehmerweise auch weniger prophetisch aus als das Zitat oben, eher sozialrealistisch bis expressionistisch.

Im Feuilleton gibt es diesmal auch eine Art Centerfold, ein Special zu Jupp Darchingers Farbfotos aus der Urzeit der westdeutschen BRD (S. 26-27). Ein paar Bilder werden gezeigt, außerdem hat Sascha Lehnartz ein Interview mit dem Fotografen geführt und Claudius Seidl einen einschätzenden Text geschrieben. Eine Bilderserie gibt es bei SP*N, die Snapshots sind ja auch prädestiniert für deren »einestages«-Rubrik.

Und dann …

… habe ich endlich mal diese (nicht mehr ganz so) neue Kolumne »Nackte Wahrheiten« gelesen. Der lustige Textcontainer hat ja vor einiger Zeit Peter Richters Jahrhundertkolumne »Blühende Landschaften« abgelöst und wird im Gegensatz zu dieser von wechselnden Autoren verfasst. Heute schreibt Nils Minkmar einen super Text, der die Überschrift trägt: »Pop-Beichte« (auch S. 26).

Er behandelt ein Thema, das ich bisher nur von Dietmar Dath her kenne: Warum kann man die Neuerscheinung eines Popveteranen als Rezensent nicht einfach mal nur gut finden, ohne gesuchte Abstriche, ohne einordnende Relativierungen usw.? Noch mal im Original:

»Weil die Disziplin der Popberichterstattung noch relativ neu ist, bemüht sie sich um verdoppelten Ernst und den Ausweis unmäßiger Anstrengung. Hat man je gelesen, dass sich ein Rezensent über die neue Platte einer beliebten Künstlerin einfach mal nur freut?«

Gut, das dürfte schon daran scheitern, dass auf diese Weise nicht genug Text erzeugt würde, und wenn man von Zeilengeld lebt, wird man derart leicht verhungern.

Sehr, sehr gut fand ich auch den Porträttext über Bürger Lars Dietrich, den Peer Schader für die Medienseite (S. 31) geliefert hat. Er handelt von einem sympathischen Entertainer, der nie richtig weg war, nachdem er vor allem mit seinem sagen-wir-mal Hit »Sexy Eis« berühmt wurde, aber auch nie wieder richtig da.

Und nach seinem sehr nicht-guten Text über die »Lindenstraße« neulich, singt Stefan Niggemeier in seiner Teletext-Kolumne die RBB-Trendsendung »Polylux« in den Schlaf. Bzw. landet einen Knockout: »Am besten funktionierte ›Polylux‹ zuletzt als Maßeinheit für verspätet entdeckte Zeitgeistthemen.« Wir alle wissen, was gemeint ist.

Das wirkliche Highlight dieser Ausgabe ist aber wie so oft im Gesellschaftsteil zu finden. So abenteuerlich wie damals bei seiner »Subway«-Safari geht es zu, wenn Jürgen Dollase diesmal Fertiggerichte testet und mit dem eher unangebrachten Gourmetvokabular zu beschreiben versucht (»Aufgewärmt und abgesahnt«, S. 56). Da ist jeder Satz ein Hit, bitte laut vorlesen!

Erwartungsgemäß kommt das Meiste nicht gut weg, obwohl Dollase erkennbar den benefit of the doubt walten lässt. Trotzdem wird es ein Stelldichein von Verrissversatzstücken:

»… um Klassen schlechter als alles, was in einer durchschnittlichen Stehpizzeria anzutreffen ist.«

»… eine penetrante Überwürzung, die die Geschmackspapillen geradezu lähmt.«

Usw. usf. Auch positive Beispiele werden gegeben, und die werde ich nächstens gleich mal kaufen gehen.


Fußball-Feuilleton (Teil 1):
Die beste Stadionzeitung zur Fußball-EM

Konstanz, 23. Mai 2008, 07:19 | von Marcuccio

Fußball-Paralipomena gibt’s heutzutage eigentlich überall, und wohl spätestens das Masern-Szenario im letzten »Spiegel« (20/2008, S. 44) macht klar: Zwar ist die »Euro 08« noch lang nicht angepfiffen, aber trotzdem (oder gerade deswegen) läuft der Nachrichtenzirkus längst rund.

So kommt mit jedem Turnier wieder dieses Festival der Meldungen, die die Welt nicht braucht und doch ganz gerne feiert. Mein liebstes Genre ist ja die Großveranstaltungs-Apokalyptik: Neulich zum Beispiel gingen der Schweiz schon die Kartoffeln für die Stadionpommes aus, davor die Pelle für den Cervelat … (und wer erinnert sich nicht noch an diesen ominösen Stadiontest, mit dem die Stiftung Warentest vor 2 Jahren sogar dem Bundesinnenminister ein Statement abrang, vor allem aber Franz Beckenbauer die legendäre Empfehlung, man solle sich doch besser um »Gesichtscremes, Olivenöl und Staubsauger« kümmern …).

Für alle, die in den nächsten Wochen da wieder mittendrin statt nur dabei sein wollen, empfehle ich heute mal die Original-Veredelungs­rubrik dieser Euro 08 im Feuilleton: die »Eurokolumne« der taz.

Die sympathische Serie erscheint immer wieder samstags (hier die Folgen I, II, III, IV, V, VI, VII zum Nachklicken) und ist allein schon wegen ihres ebenso simplen wie genialen Drehbuchs originell: Tobi Müller (CH) und Ralf Leonhard (A) zählen den Euro-Countdown im wöchentlichen Wechsel von der Gastgeberseite her runter und sortieren, stilisieren, zelebrieren dabei EM-Notizen, was das Zeug hält.

Daneben schlagen die beiden nativen Korrespondenten aber auch über den Fußball hinaus schöne Flanken aus der Tiefe des deutschsprachigen Raums, Flanken, auf die ich – als Umblätterer mit Euregio-Einsitz – natürlich noch zurückkommen muss und werde. Just for fun also ab sofort eine kleine Eurokolumnen-Eskorte mit allen Toren, den schönsten Szenen und Hintergründen zum Spiel.


Oliver Gehrs macht nicht mehr den Gehrs

Konstanz, 15. Mai 2008, 13:39 | von Marcuccio

Habe eben bei WatchBerlin meinen ganzen Rückstand an »Blattschuss!«-Videos aufgeholt – und plötzlich ist eine Blog-Epoche Geschichte, denn: Oliver Gehrs hat jetzt einen Gemischtwarenladen eröffnet.

Mittlerweile bespricht er »Humanglobaler Zufall«, »Weltwoche«, »Liebling«, »Vanity Fair«, »SZ«, WamS, FAS, ein Magazin namens »clap« und die »Zeit« mal eben alle neben- und durcheinander. Ein Kommentator bei WatchBerlin pointiert das so: »blattschuss ist jetzt ja fast wie heidenreich, nur die promis fehlen.«

Also, ich fand seine Fixierung auf den »Spiegel« einfach markiger, die Hassliebe, dieses junkiehaft-besessene Dransein am »Spiegel« allein. Die plötzliche Erweiterung hin zur Presseschau verwässert das ganze Gehrs-Projekt.

Denn »den Gehrs machen«, das war ja eben gerade NICHT die Idee, ein, zwei, drei beliebige Blätter, die der Wind des Medienkarussells gerade heranweht, aus der Luft zu greifen (ach, Poschardt jetzt bei der WamS, schauen wir also mal in die WamS).

Nein, »den Gehrs machen« hieß, das deutsche Nachrichtenmagazin so exklusiv und unbedingt zu bebloggen, dass es schon fast etwas (sympathisch) Fanatisches, ja Absolutistisches hatte. In seinen besten Momenten war er fantastisch mythenbildend, dieser »Spiegel«-Vorleser mit dem Erfahrungsvorsprung eines Ex-Redakteurs, der uns »Spiegel«-Mitleser immer wieder grandios unterhalten konnte.

Wir haben den WatchBerlin-Vlogger ja nicht umsonst mit einer Großen Oliver-Gehrs-Nacht gefeiert, und als Fans hätten wir uns natürlich auch in Zukunft einen exklusiven Fürsprecher für erhaltenswerte »Spiegel«-Traditionen gewünscht.

Oder wer sollte und wollte jetzt so grinsend aus dem Ärmel heraus bemängeln, dass die Hamburger eine kleine aber feine Rubrik wie »Der Spiegel vor 50 Jahren« im Leserbriefteil einfach mal zugunsten des billig medienkonvergenten »Diskutieren Sie auf Spiegel Online« aufgegeben haben?

Anyway, es ist vorbei. Gehrs’ »Spiegel«-Absolutismus hat abgedankt, und der plötzlich mit relativem Allerlei konfrontierte »Blattschuss!«-Zuschauer weiß noch nicht, ob er die neue egalité gut finden soll.

Es ist natürlich das Schicksal eines jeden, der seine Sache so gut macht(e), dass wir ihm nicht zugestehen, etwas Neues zu machen. Und so müsste man vielleicht auch akzeptieren, dass Gehrs sich lebensphasentechnisch an seinem »Aust-Komplex« abgearbeitet hat.

Die Demission dieser Leitfigur (wie auch die seines Lieblingsfeindes No. 2, Matthias Matussek) hatte er ja in gewisser Weise (z. B. mit »Blattschuss!« flankierenden »taz«Artikeln) gefeiert wie Trophäen. Jetzt scheint diese Beute aber erle(di)gt, und die ursprüngliche Blattschuss-Mission des Jägers Gehrs irgendwie auch. Und bei dem ganzen neuen Blatt-Wild vor seiner Vlog-Flinte hat er einfach noch nicht die optimale Form gefunden.

Warum küren wir in dieser Phase des Übergangs nicht schon mal die »Best of« des Gehrs’schen Frühwerks? Zu meinen Lieblings-Blattschüssen zählt die mit dem emsigen Fleiß eines echten Fans aufgemalte und geklebte und in ihrer Faktizität eben doch ernüchternde Verkaufskurve der Titelgeschichten (»Hitler zieht immer«). Ob diese Erkenntnis am Ende vielleicht schon als Erklärung für das Ende der »Spiegel«-Monogamie genügt?


Die FAS vom 4. 5. 2008:
Lindenstraße, Lenz, Löwenzahn

Göttingen, 4. Mai 2008, 22:42 | von Paco

In der Kolumne von Stefan Niggemeier, die immer als Seitenfüller neben dem TV-Programm vom Sonntag steht, wird heute gegen die »Lindenstraße« gewettert (S. 34). Auch wenn der altehrwürdige ARD-Dauerhit in Wirklichkeit natürlich eine der interessantesten, einfallsreichsten & trotz der nur knapp 30 Sendeminuten pro Woche abwechslungsreichsten Serien der Welt ist, geht der Verriss absolut in Ordnung. So wie man ja auch Niggemeier-Artikel öfters mal schlecht findet, obwohl man sie eigentlich meist gern wegliest.

Goddag! Volker Weidermann hat Siegfried Lenz in Sønderhav besucht, knapp hinter der deutsch-dänischen Grenze (S. 27). Wieder wurde eines der beiden Fotos vom Autor geschossen – solche Schnappschuss-Eigeninitiativen forciert die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« ja in ihrem Feuilleton, und wie von uns schon mehrfach behauptet, das kommt sehr gut: Siegfried Lenz mit offener Jacke, einem rötlichen Schal und einer Art Herrenhand­tasche, sympathisch lächelnd. Warum immer Agenturfotos wenn ein Autor nicht auch vor Ort schnell mal seine Digicam draufhalten kann? Die dadurch erzielte Authentizität steht problemlos höher im Kurs als eine korrekte Brennweiteneinstellung.

Textlich gibt es vor allem Anekdoten: die vom »deutschen Dänen Lenz«, wie der Autor von einer Regionalzeitung genannt wurde; oder die von seiner Handschrift, die Lenz‘ verstorbene Frau als »künstlerisch organisierten persischen Küchendreck« bezeichnet hat. Wie in jedem guten Autorenporträt wird hier nicht wohlfeil an irgendwas herumgekrittelt, und überhaupt, schreibt Weidermann, scheint es »unmöglich, ein böses Wort in seiner Gegenwart auch nur zu denken«. Konkreter Anlass des Treffens war übrigens das Erscheinen des neuen Lenz-Romans »Schweigeminute«. Am Ende wird der FAS-Redakteur von Lenz auch noch brüderlich umarmt. Farvel!

Eine Seite weiter gibt es, jetzt schon, eine würdige feuilletonis­tische Einordnung des Amstetten-Falls, eine Materialsammlung zum »manischen Wunsch nach Deutung« solcher Tragödien (S. 28). Nils Minkmar schlägt viele Bedeutungsbrücken, beginnt mit Kaspar Hauser, zitiert dann Reemtsma genauso herbei wie einen »Daily Mail«-Autor, außerdem Sarkozy, Manfred Deix und Elfriede Jelinek, »Tante Prusselise« aus dem Pippi-Langstrumpf-Storykosmos (sehr gute Idee), dann noch Platon, Dante und Pulp Fiction, David Lynch und J.-C. Carrière. Minkmars Diagnose fällt dabei pessimistisch aus:

»Vergewaltigung, Folter und Mord sind bereits verboten. (…) Etwas mehr Ermittler in den Jugendämtern wären gut, aber auf Sadisten, Kannibalen und Serienmörder ist keine Verwaltung vorbereitet.«

Er geht aber in der Deutung noch einen Schritt weiter: Die schallgedämpften Privatverliese, aus denen kein Mucks nach außen dringt, haben auf der Ebene der modernen Kriegsführung nämlich ihre Äquivalente in »nicht ausgewiesenen Gefängnissen, Folter ohne Blutvergießen und unrechtmäßig entführten Personen«. Soweit die Feststellung, leichter wird das Verständnis durch so eine Einordnung natürlich nicht. Trotzdem ist dieser Artikel mehr wert als alle zum gerade aktuellen Fall stattfindenden Detailhatzen.

Unter diesem Artikel beantwortet dann Marcel Reich-Ranicki eine Frage zu Wolf Biermann. Er ergeht sich eigentlich in einem ziemlichen Lob des Dichters. Vor allem dessen Nichteinordenbarkeit wird für gut befunden. Lustigerweise beginnt aber der letzte Absatz so: »Es ist jetzt still um Biermann geworden, …« – Reich-Ranicki schreibt damit dasselbe, was Volker Weidermann vor 2 Jahren in seiner Literaturgeschichte »Lichtjahre« geschrieben hat (»sehr, sehr still«). Damals hatte Biermann seinen Verlag Ki&Wi verlassen, bei dem auch das Buch von V. W. erschienen war.

Noch kurz zum Wirtschaftsteil: Aus irgendeinem Grund gibt es in diesem FAS-Ressort mit die besten Interviews der deutschen Medienlandschaft – das ist in unseren FAS-Rundowns schon oft durchgeschienen. Ob man da dem »Spiegel« den Rang abgelaufen hat (der ja bis auf ein paar lustige Patzer weiter souverän Leute interviewt), das will nicht ich beantworten müssen. Heute ist jedenfalls der seltene Gesprächspartner Bernhard Schadeberg dran, der Krombacher-Chef (S. 37). Auch dieses Entretien trifft wieder die für eine Sonntagszeitung ideale Mischung aus Business & Entertainment.

Im Wissenschaftsteil gibt es dann noch einen Artikel von Susanne Donner über die »Nazi-Pflanze« Löwenzahn (S. 67). Diese Deutungsvariante vergisst aber vollkommen, dass die kulturhistorische Stellung der schönen Pflanze Löwenzahn im deutschen Sprachraum durch die gleichnamige Kindersendung mit Peter Lustig unabänderlich bestimmt ist. Da hilft auch kein Foto mit Löwenzahnblüten, in das so eine Art Hakenkreuz-Wasserzeichen eingearbeitet ist (holla!). Der Artikel eignet sich aber sicher hervorragend als Materialbasis für einen noch ausstehenden Teil der »Hitler«-Serie von Guido Knopp: »Hitler und die Blumen«.

(Ganz kurz noch: Nachdem der zweifelhafte Ruf des kautschukhaltigen Löwenzahn verjährt sei, beginne jetzt so langsam wieder die Löwenzahnforschung.)

Usw.


Caravaggio – Kunstgeschichte, Krimi und Rom

London, 16. April 2008, 19:28 | von Dique

Ich lese gerade das Buch »The Lost Painting« (2005) von Jonathan Harr, so ziemlich das Beste, was ich seit einer ganzen Weile in die Finger bekam (NYT-Review und 1. Kapitel). »He could retire after writing this book«, schreibt ein anderer Fan über Harr. Es geht um Caravaggios »The Taking of Christ«, welches jahrelang als verschollen galt und heute in der National Gallery in Dublin hängt.

Harr schreibt in journalistischer Berichtsform, ein bisschen »spiegelig«, über die Ereignisse, die zur Auffindung des Bildes führten, natürlich beginnend in Rom und mit Denis Mahon, einem der wichtigsten Caravaggio-Experten, wie er gerade über die Piazza della Rotonda am Pantheon zu seinem Stammlokal »Da Fortunato« spaziert, um im kleinen Kreis ein Mahl einzunehmen.

Dann lässt ihn der Autor mit der Geschichte beginnen, ein ganz klassisches Setup, ein bisschen wie »1001 Nacht«. Ein Erzähler beginnt, gibt den Rahmen vor, und dann gleitet man in die Geschichte.

So fängt zum Beispiel der Film »Der Dieb von Bagdad« (1940) an oder »Sindbad der Seefahrer« (1947), ohne Zyklopen, dafür mit dem Schurken Melik, der viel bedrohlicher ist als die zyklopischen Pappkameraden von Ray Harryhausen. Die Melik-Figur erinnert mich ein bisschen an Ben von der »Lost«-Insel, die undurchsichtige Gestalt im Hintergrund. Unendlich fortsetzbare Assoziationskette.

Aber zurück: »The Lost Painting« ist auch deshalb edel, weil ich gerade ein anderes Buch über Denis Mahons Gemäldesammlung gelesen habe (vieles davon hängt hier jetzt in der Londoner National Gallery). Irgendwann in den Siebzigern hörte Mahon einfach auf, Bilder zu kaufen. Italienischer Barock wurde wieder populär und die Bilder teuer wie die Sünde.

Weiter heißt es im Buch, dass Mahon nie selbst einen Caravaggio besessen hat. Diese Information stimmt so nicht mehr, denn eine von ihm vor kurzem (2006) für £50,000 gekaufte Kopie des »Falschspieler«-Bildes von Caravaggio entpuppte sich ein Jahr später als Original und soll nun um die £50 Mio. wert sein.

Nichtsdestotrotz ist das Harr-Buch ein toller Mix aus Kunstgeschichte, Krimi und Rom. Vom Style erinnert es mich komischerweise an Graysmiths »Zodiac«, weil das eben auch in diesem »Spiegel«-präzisen Style daherkommt.

Usw.


Wilhelm Ostwald und die drehbare Étagère

Leipzig, 3. April 2008, 07:56 | von Paco

Über Wilhelm Ostwald wird eigentlich nicht mehr in fachfremder Presse berichtet, über das Leipziger Wilhelm-Ostwald-Gymnasium hingegen schon, so wie vorletzte Woche auf SP*N (22. 3. 2008).

(Das war eine Reprise des »Spiegel«-Artikels der Ausgabe 21/2005, S. 172-174, der vom selben Autor stammt, Manfred Dworschak. Recap: Begabtengymnasium mit auch international erfolgreichen Schülern. Wettbewerbsgeist werde gefördert. Frontalunterricht können die alle ab, weil das für sie nur die Vorstufe zur Praxis sei. Ein Lob der DDR, die mit Begabten kein Problem hatte. Im Westen sei das Wort Begabung immer noch verdächtig. Usw.)

Am Wochenende fand ich aber eine genuine Wilhelm-Ostwald-Stelle. Der 2004 erschienene dtv-Band »Bücher sammeln« von Klaus Walther hatte auf meinem To-do-Stapel obenauf gelegen und wurde von mir also endlich weggelesen. Das Buch ist ein wenig onkelig geschrieben, was beim Thema Bibliophilie wahrscheinlich auch Teil des Plans ist. Es liefert aber auch viele ganz hervorragende Anekdoten, unter anderem diese:

»Wilhelm Ostwald, der erste deutsche Nobelpreisträger für Chemie, ließ einst in Großbothen bei Leipzig die Fundamente seines Landsitzes verstärken, damit er seine Bibliothek dort unterbringen konnte. Die vierzigtausend Bände hätten ansonsten das Gebäude den Hang hinuntergezogen. Ostwald war ganz sicher kein Bibliomane oder gar ein Bibliophiler, er war ein leidenschaftlicher Organisator wissenschaftlicher Arbeit. Dass er seine Büchermassen um sich hortete, verzeichnete er unter dem Lebensbegriff ›Energieeinsparung‹, die er bis in komische Details betrieb. So musste auf dem Esstisch immer eine jener drehbaren Etageren stehen, damit sich jeder Tischgast wortlos die Butter oder den Käse heranholen konnte. Das Tischgespräch wurde nicht durch so profane Einwürfe wie ›Geben Sie mir doch bitte die Butter‹ unterbrochen. Man sparte damit Energie, wie Ostwald meinte. Nun ja, so weit kann man es mit Energieeinsparung treiben.« (S. 12-13)

Die drehbare Étagère, das klingt sofort irgendwie sprichwörtlich. Was für ein Utensil! Wenn wir nicht schon ein Wappentier hätten, wäre sie ein heißer Kandidat, hehe.