Archiv des Themenkreises ›F-Zeitung‹


Kafka, redigiert

Leipzig, 24. Juni 2010, 09:55 | von Paco

Man könnte ein ganzes Blog mit Lieblingsstellen aus den Krausser-Tagebüchern bestreiten, »einem der unfassbar hervor­ragendsten Literaturgroßprojekte aller Zeiten«, wie Dique neulich schon schrieb. Auf Jahre hin hätte man Stoff. Gerade ist »Substanz« erschienen, eine Auswahl aus den 12 Tagebuchbänden, aber »Substanz« zählt natürlich nicht, man muss sie schon alle lesen, im Zusammenhang.

An eine Stelle aus dem »März« (2003) habe ich mich wieder erinnert, als ich Florian Illies‘ »Substanz«-Verriss in der »Zeit« gelesen habe. Und selbst der verrisswillige Illies lässt diese Stelle gelten: »Ein einziges Mal, als er auf drei Seiten einen Satz von Kafka auseinander­nimmt und redigiert und verbessert, scheint auf, wieso im begründeten Denkmalsturz eine eigene Größe gewonnen werden kann.« Es geht um den ersten Satz aus Kafkas »Proceß«:

»Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«

Den Satz hat vor zwei Jahren auch Frank Schirrmacher mal schön exemplarisch auseinandergenommen. Krausser aber macht noch etwas anderes, etwas Unerhörtes, er macht Verbesserungsvor­schläge.

Er schreibt über den Satz: »Das ist nicht schlecht, aber genial?« Und formuliert ihn probehalber um und begründet es damit, dass man »sich heute zugunsten der erzählerischen Komplexität Optionen offen halten« würde, damit das, was im Roman folgt, nicht gleich »als tragisch gestempelt, eingleisig« wäre: »genaugenommen kann man sich den Rest auch sparen«. Kraussers Alternativvorschlag:

»Josef K. glaubte an eine Verleumdung, denn ohne bewußt Böses getan zu haben, wurde er an seiner Haustür verhaftet.«

Krausser schreibt übrigens auch: »Es geht nicht darum, den heiligen Franz zu verbessern. / Aber mal grundsätzlich: wenn heutzutage nicht besser geschrieben werden könnte als zu Kafkas Zeiten, hätte kein Fortschritt stattgefunden. Unsereins stehen so viel mehr Techniken zur Verfügung.«

Also, kleiner Kafka-Sockelsturz, schulbuchwürdig, im positiven Sinn.


Rainald Goetz bei Harald Schmidt

Leipzig, 3. Juni 2010, 08:44 | von Paco

Es ist ja nicht viel passiert, damals, am 8. April 2010. Das Gespräch dauerte keine 11 Minuten. Aber: Auf diese mediale Begegnung sind die letzten zehn, zwölf Jahre des Neueren Feuilletonismus zugelaufen. Und das Warten hat sich gelohnt. (Replay bei YouTube.)

Seit »Abfall für alle«, noch wichtiger aber: seit »Dekonspiratione«, dem besten Goetz-Buch des 20. Jahrhunderts, das gerade noch rechtzeitig für diesen Superlativ, nämlich im Jahr 2000, erschienen ist, seit diesen beiden Büchern also warten wir, wir alle, auf ein Hereinschneien von Rainald Goetz in irgendeine Show von Harald Schmidt.

In »Dekonspiratione« ging es ziemlich lutheranisch um eine Reformierung der damaligen Sat.1-Harald-Schmidt-Show, zuletzt in »Klage« wurde Schmidt seltener erwähnt, manchmal aber schon noch, zum Beispiel der Auftritt von Christian Kracht in der Show vom 12. Oktober 2001.

Eine stilistische Anspielung auf das Kracht-Gespräch gibt es auch im Goetz-Schmidt-Showdown, der, wie gesagt, am 8. April 2010 in der ARD stattfand. Wenn nämlich Goetz auf die zuspitzenden Fragen von Schmidt einfach nur begeistert »Ja« schreit, immer wieder, also eigentlich nur drei, vier Mal, aber das ist genau derselbe affirmative Gestus wie bei Kracht in der Passage, in der es um die Schrecklichkeit Berlins geht (+1):

Schmidt: Empfinden Sie deutsche Menschen als unfreundlich?
Kracht: Zum großen Teil, also in Berlin vor allen Dingen, also Berlin ist sehr, sehr schrecklich.
Schmidt: Kann man sagen, dass Berlin insgesamt grässlich ist?
Kracht: Ja, Berlin ist die schrecklichste Stadt der Welt.
Schmidt: Entsetzlich?
Kracht: Entsetzlich.
Schmidt: Widerwärtig?
Kracht: Ja.
Schmidt: Ekelerregend?
Kracht: Ja.

Dieser Gestus dann auch bei Goetz, als sozang Klangzitat, denn inhaltlich geht es um ganz etwas anderes, um die Mittelnamen, die er einigen Leuten in »loslabern« verpasst. Diese Passage lebt als Zitat, richtig gut ist sie nicht, Schmidt hat sie auch nur initiiert, um an einer bestimmten Stelle schnell ein neues Thema in die Arena zu schießen. Also so:

Schmidt: Sie sind sehr virtuos im Verteilen von Mittelnamen. Sie schreiben zum Beispiel »Friede ›Kindermädchen‹ Springer«.
Goetz: Ja!
Schmidt: Sie schreiben »Jörg ›Lebensmensch‹ Haider«.
Goetz: Ja!
Schmidt: Sie schreiben »Wolfram ›die Krise ist vorbei‹ Weimer«.
Goetz: Ja! Ja!!!

Diese Passage, die ja nur 10 Sekunden dauert, findet erst bei Minute 5 statt, da haben sich Schmidt und Goetz schon eingespielt, was am Anfang nicht gleich ganz danach aussah.

Das Gespräch beginnt nämlich etwas schleppend. Goetz kommt erwartungsgemäß mit Notizblock und aktuellem FAZ-Feuilleton hereingeschneit und wirft dabei gleich das leicht ärmelschonernde Wort »Notizen« in den Ring. Beide eiern dann ein wenig herum, Schmidt versucht, eine Gesprächsebene zu finden, und das kann er ja genau gut.

Zunächst funktionert das aber nicht. Goetz ergeht sich in einem Lob der FAZ-Zeitungsseite im Allgemeinen, der Struktur und Bebilderung. Demonstriert wird das anhand der Aufmachung und Anordnung des Hettche-Artikels »Wenn Literatur sich im Netz verfängt«, dem FAZ-Feuilleton-Aufmacher des 8. April 2010. Neben dem Hettche-Artikel steht ein Bild, Goetz hält die Seite hoch und sagt: »Ich finde, das schaut einfach super aus irgendwie.«

Eine Kaffeehausaussage vom Feinsten, aber Schmidt muss das Gespräch woanders hinziehen, auf eine vermittelbarere Ebene. Das Eis bricht glücklicherweise sofort, als sich Schmidt selbst an einer vorsichtigen Zusammenfassung der Hettche-Ideen versucht, und Goetz stimmt dann mit Vorbehalt zu und ergänzt mit herrlicher Unspezifischkeit: »Es ist mehr.«

Dann geht es erst mal mit der FAZ-Apotheose weiter, Schmidt fragt, was Goetz so in die FAZ hineinziehe. Antwort: »Es ist einfach die Faszination der sozang maßgeblichen Stelle, die spricht.« Usw. usw. »Aber, jedenfalls, FAZ, Harald-Schmidt-Show, sozang der maßgebliche Ort, wie verhält der sich, sozang wie nimmt der die intellektuelle Situation, wie antwortet der darauf.« Dann geht es, in Anlehnung an Schmidts Gespräch mit Hans Zippert vor ein paar Wochen, um die »Welt« und den »Orkus Springer« und dann kommt das oben schon erwähnte »Ja! Ja! Jaaa!«

Endlich gibt sich eins ins andere. Es geht um Schirrmachers »Payback«-Buch, Goetz‘ Kritik hat vor allem den Zweck, sein Lieblingsadjektiv »wirr« noch mal hier vor großem Publikum unterzubringen. Schmidt erzählt die Episode aus »loslabern« nach, die beim FAZ-Herbstempfang 2008 spielt. Darin fragt Schirrmacher Goetz nach seiner Eintrittskarte und vermutet, er habe sich »eingeschlichen« (das schönste Wort des Buches, das sich qua Wiederholung so richtig schön entfalten kann).

Maxim Biller wird noch gefeiert, »weil der einfach so tolle Bücher schreibt, ja, absolut, also, das letzte Buch, das ist so ein unglaublicher Hammer, ›Der gebrauchte Jude‹«. Tellkamps »Turm« wird noch angerissen, das Betuliche daran, aber dann nicht diskutiert, es ist einer dieser Sätze, der während des Sprechens mehrmals das Thema ändert. Denn schon muss David Foster Wallace gebasht werden. Helge Malchow habe die Leute »so bequatscht, dass alle Angst hatten irgendwie, dieses sehr schlechte Buch schlecht zu finden«. Eine in »loslabern« beschriebene Malchow-Anekdote von der Frankfurter Buchmesse interessiert Schmidt, ist ja selber KiWi-Autor.

Eine Szene mit Döpfner, Poschardt und Stuckrad-Barre vor der Paris Bar wird beschrieben und an diesem Exempel DAS LOB als Herrschafts­methode erläutert. »Der Rohling muss erst erfunden werden, den gibt es nicht, der auf eine solche Schmeichelei des Chefchefs von solcher Suggestivität nicht weich werden würde« (S. 171), und um ein weiteres Beispiel zu bringen sagt Goetz jetzt zu Schmidt: »Ich blühe ja jetzt auch auf, wenn wir reden, das ist ja ganz normal.«

Dann sind 10 Minuten rum, die letzte Minute ist Ausklang, Overhead, Blumengirlanden, danke schön, bis dahin. Schmidt: »Sie könnten ja mal wiederkommen, länger.« Und Goetz lacht sich kaputt über diese in der Tat furchtbare »Kommen Sie mal wieder«-Rhetorik, auch das ja eine Herrschaftsmethode. Als krönenden Abschluss gibt es noch diesen bereits hier zelebrierten Dialog:

Schmidt: Das Buch, soll ich noch drauf hinweisen?
Goetz: Wie Sie wollen.

Das Schlimme am Goetz-Effekt ist ja nun, dass man jetzt sofort lesen will, wie Goetz selber diesen Auftritt fand, sein eigenes Rüberkommen, das Gespräch mit Schmidt davor, dabei, danach, die YouTube-Kommentare und so weiter, und die GROSSE ERKENNTNIS, die daraus folgt.

Und wenn sich schon mal jemand gefragt hat, ob man Goetz-Bücher irgendwie verfilmen könnte: genau so.


Nachruf auf die »Datenautobahn«

Konstanz, 20. Mai 2010, 21:05 | von Marcuccio

Der Tod der Datenautobahn, das sehe ich erst jetzt, wo ich nochmal über den Rezensionsfriedhof einer Alt-FAZ gehe, wurde am 14. April auf der Rückseite des Jauer’schen Blogger-Dossiers annonciert. Viele Umblätterer waren an dem Tag eh verwirrt, weil die Rezensionsseite der FAZ (sonst Seite 2) erst Feuilletonseite 4 war, und so konnte man den Artikel mit der Überschrift »Wellenreiten auf den Lehrplan!« schon mal übersehen.

Oliver Jungen bespricht darin die »Metapher Internet«, also das gleichnamige Buch von Matthias Bickenbach und Harun Maye. Und er spricht sehr schön von den »Katachresen« unserer Digitalkultur, also Begriffen wie »Surfen«, »Navigation« oder »Netz«, die gar nicht mehr als Metaphern wahrgenommen werden:

»Erstaunlich ist, wie resolut die Auffassung des Internet der bereits in der Antike geprägten Verbindung von Wassermetaphorik und Informationsverarbeitung folgt. Schon die Kybernetik greift ja in ihrem Namen den Steuermann auf, und auch sonst hat sich das Begriffsfeld des ›Datenmeeres‹ und der ›Informationsflut‹ weitgehend durchgesetzt. Dagegen scheiterte der in den neunziger Jahren kurzzeitig populäre Begriff der ›Datenautobahn‹: Die darin enthaltene Zielorientierung scheint dem totalen Möglichkeitsraum Internet nicht angemessen, auch wenn sie über das Fließen des Verkehrs immer noch an das Bildfeld des Liquiden anschließbar ist.«

Genau mit solchen kleinen Nebenauskünften macht Feuilleton im Grunde immer den größten Spaß. Und es stimmt wirklich: Ein kurzer Klick zum Beispiel ins »Spiegel«-Archiv zeigt die Frequenz, mit der das Schlagwort »Datenautobahn(en)« in den einzelnen Jahrgängen vorkam:

Vorkommen der Datenautobahn(en) im SPIEGEL, 1991–2010

1995 der absolute Peak, um 2000 noch mal ein kleines Comeback, dann nach dem Platzen der Dotcom-Blase praktisch over and out. Erstgebrauch des Wortes war übrigens 1993 in einem »Spiegel«-Gespräch mit Bill Gates. Überschrift: »Wir bauen die Datenautobahn«.


Diagramm erstellt mit Create A Graph.
Datenerhebung über http://www.spiegel.de/suche/.


Herrenlaunen

Konstanz, 13. Mai 2010, 22:08 | von Marcuccio

Früher (siehe auch Florian Illies: Generation Golf) war »Dany plus Sahne«. Heute ist »Dandy plus Käse«. Grund der neuen Milchverede­lungsstufe mit dem Extra-D ist Norma. Die Supermarktkette ediert neuerdings einen dreistückigen Formaggio-Sampler (Pecorino Sardo Maturo, Asiago Pressato, Provolone Valpadana) zum Zweitausendeins-Preis von 7,49 € und bewirbt das Ganze mit dem Oscar-Wilde-Ever­green: »Ich habe einen ganz einfachen Geschmack, ich bin immer mit dem Besten zufrieden.«

Normas neue Blurb-Offensive war schon Thema einer eigenen FAS-Expertise zu den neuen Deluxe-Linien der Discounter.

Discountmäßig nur im Doppelpack gab’s den Dandy zuletzt auch bei den Kritikern. Zunächst eine Sammelrezension in der Zeitschrift für Germanistik (2/2010), und zwar Isabelle Stauffer über

1. Melanie Grundmann (Hrsg.): Der Dandy. Wie er wurde, was er war. Eine Anthologie. Köln etc.: Böhlau 2007.
2. Fernand Hörner: Die Behauptung des Dandys. Eine Archäologie. Bielefeld: Transcript 2008.

Und dann noch ein Dandy-Duo in der FAZ (17. April 2010):

1. Alexandra Tacke und Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln etc.: Böhlau 2009.
2. Ruth Sprenger: Die hohe Kunst der Herrenkleidermacher. Köln etc.: Böhlau 2009.

Böhlau etabliert sich mit diesem Doppelschlag als ultimativer Dandy-Verlag. So generiert man Sammelrezensionen, die man sich endlich nicht mehr mit anderen Verlagen teilen muss.

Ich hätte da aber auch noch ein Dandy-Trio:

»Dandy – Snob – Flaneur.«

Das rosarot-violette, aber ansonsten super solide Fischer-Taschenbuch von 1985 ist via Amazon zum Dandy-Discountpreis von 60 € erhältlich, hat aber all das drin, was der FAZ-Rezensent Felix Johannes Enzian im Band »Depressive Dandys« vermisst, also keywords wie Dandytum, Ästhetizismus, Snobismus, Camp, Pop- und Postmodernität nicht einfach nur synonym verwendet.

By the way feiert »Dandy – Snob – Flaneur« mit Primärtexten von Robert Walser (»Der Verfeinerte«) bis Adorno (»Herrenlaunen«) gerade 25. Die ganze Reihe (hg. von Gerd Stein), in die das Buch gehört, ist ein Kleinod – allein schon wegen der titelgebenden »Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts«:

Band 1: Bohemien – Tramp – Sponti.
Band 2: Dandy – Snob – Flaneur.
Band 3: Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf.
Band 4: Philister – Kleinbürger – Spießer.
Band 5: Lumpenproletarier – Bonze – Held der Arbeit.

Die möchte man sofort alle kennenlernen, kaufen, lesen. Also, wo bleibt die wiederaufgelegte Familiengroßpackung bei Norma oder Thalia?


Listen-Archäologie (Teil 2):
Neo Rauch in Leipzig

Leipzig, 22. April 2010, 21:07 | von Paco

Die beste Rezension der »Begleiter«-Ausstellungen in Leipzig und München ist bis jetzt die von Werner Spies in der FAZ. Aber weder er noch die anderen Kritiker erwähnen wirklich mal eine Handvoll Bildtitel, und dabei sind die doch auch ganz schön, hier der Pfad durch das Leip­ziger MDBK, zuerst der Süd-, dann der Nordteil des Untergeschosses:

1. Kommen wir zum Nächsten, 2005
2. Silo, 2002
3. Schilfkind, 2010
4. Seewind, 2009
5. Bergfest, 2010
6. Wächterin, 2009
7. Acker, 2002
8. Die Flamme, 2007
9. Diktat, 2004
10. Rauner, 2009
11. Das Plateau, 2008
12. Bon Si, 2006
13. Das Angebot, 2010
14. Abstieg, 2009
15. Ausschüttung, 2009
16. Oktober, 2009
17. Vater, 2007
18. Dromos, 1993
19. Erl, 1993
20. Vorraum, 1993
21. Das Gut, 2008
22. Start, 1997
23. Moder, 1999
24. Mittag, 1997
25. Sonntag, 1997
26. Versprengte Einheit, 2010
27. Weiche, 1999
28. Arbeiter, 1998
29. Uhrenvergleich, 2001
30. Die große Störung, 1995
31. Die Küche, 1995
32. cross, 2006
33. Fell, 2000
34. Sturmnacht, 2000
35. Platz, 2000
36. Reiter, 2010
37. Reich, 2002
38. Reaktionäre Situation, 2002
39. Der Schütter, 2009
40. Das Neue, 2003
41. Helferinnen, 2008
42. Fluchtversuch, 2008
43. Abraum, 2003
44. Unter Feuer, 2010
45. Dörfler, 2009
46. Ordnungshüter, 2008
47. Am Waldsaum, 2007
48. Scheune, 2003
49. Krönung I, 2008
50. Krönung II, 2008
51. Die Fuge, 2007
52. Höhe, 2004
53. Neid, 1999
54. Theorie, 2006
55. Rauch, 2005
56. Morgenrot, 2006
57. Aufstand, 2004
58. Dämmer, 2002
59. Vorort, 2007
60. Ungeheuer, 2006

Das Ganze auch als fortgeführter Nachweis der Literarizität Neo Rauchs, zu dem Peter Richter neulich in der FAS angesetzt hat.


Der Zeitungsphilister von gestern als digitaler Bohèmien von heute

Konstanz, 16. April 2010, 01:01 | von Marcuccio

An der Dauerdebatte der letzten Jahre, Online vs. Print, Blogger vs. Journalisten ist ein Aspekt besonders amüsant: Wie stark neben der eigentlichen Medienschelte auch der mit dem neuen Medium verbundene Lifestyle Thema ist. Stellvertretend für diesen Zugriff vielleicht Wolfgang Büschers aparte Musterung des digitalen Bohemién (Best of Feuilleton 2009). Oder, ganz aktuell, Marcus Jauers FAZ- und nicht »Zeit«-Dossier über Blogger.

Gern vergessen wird, dass auch Zeitungsleser im semi-öffentlichen Raum einmal so neu waren die »die Leute mit den Laptops« (Jauer) heute, und sie wurden auch genauso distanziert inspiziert:

»Eine (…) besonders interessante Spezies ist der liberale Zeitungsphilister. Bevor derselbe Morgens seine Zeitung gelesen hat, ist er nur ein halber Mensch; über dem Lesen aber geht ihm ein Licht nach dem andern auf, so daß er abends beim Schoppen über alle Tagesfragen mit zu Gericht sitzen kann und nicht begreift, wie es möglich ist, anderer Meinung zu sein.«

Willkommen in den Jahren nach 1848, die liberale Revolution ist noch so jung wie die digitale heute. Pressefreiheit schien zwar einerseits schon legal und irgendwie fortschrittlich, andererseits aber auch ähnlich unbequem wie die Bloggerfreiheit heute. Und mindestens so verdächtig wie stundenlanges WLAN im St. Oberholz muss man sich die ausufernde Zeitungslektüre vorstellen:

Hasenclever: Das Lesekabinett, 1843, Ausschnitt
(J. P. Hasenclever: Das Lesekabinett (1843), Ausschnitt, Quelle: Commons)

»Eine Art von Hochschulen für das Zeitungsphilistertum sind die Casino-Lesezimmer. In feierlichster Stille, die Denkerstirne bald auf den einen bald auf den anderen Ellenbogen gestützt, sitzen sie hier und machen den Eindruck, als ob auf ihnen zunächst der schwere Beruf lastete, die Welt in ihren Fugen zu halten.«

Wer schreibt dieses ganze schöne Zeitungsleser-Bashing? Es ist der Ultramontanist August Reichensperger, den man bis heute als Außendeko des Kölner Doms besichtigen kann. Er hat ein so genanntes »Rath- und Hülfsbüchlein für Zeitungsleser« geschrieben, das in den 1860ern und ’70ern in rasch aufeinanderfolgenden Auflagen verlegt wird. Das Werk mit dem Titel »Phrasen und Schlagwörter« kommt als getarnte Handreichung für Zeitungsleser daher, ist in Wahrheit aber eine Art Kulturkampf gegen die liberale Presse mit sprachkritischen Mitteln. Polemisch vorgeführt wird, von welch miesen Journalisten-Tricks sich der empfängliche, leider allzu empfängliche Zeitungsphilister immer wieder beeindrucken lässt.

Pressefreiheit und Netzfreiheit

Reichensperger geht vor allem gegen den Strich, wie hedonistisch der Zeitungsphilister die neue Pressefreiheit genießt:

»Was er gestern gelesen hat, weiß er ohnehin meist heute schon nicht mehr; er glaubt aber jedes Mal, wenn seine Zeitungsstunde vorüber ist, wunders, was er gelernt habe, wenn nicht gar gethan habe.«

Am Ende, so Reichensperger, setze sich der Zeitungsfan noch »in den Kopf, er habe ein gutes Theil an allen Erfindungen der Neuzeit, von der Dampfmaschine an bis zum atlantischen Telegraphenkabel, und sieht mit stolzem Hochgefühle auf alle seine Nebenmenschen herab, welche solchen Anspruch nicht erheben zu können glauben.«

Das erinnert an die Web-2.0-Pauschalkritik einer Astrid Herbold oder auch Susanne Gaschke (»Die Netzanbeter«, FAS vom 19. April 2009, S. 13):

»Ein Kennzeichen der Netzbewegung ist ihr hermetisches Vokabular. Wer weiß, was Wikis und Blogs sind, Cookies, Tools, Open Source Software und soziale Netzwerke, der kann seine Zugehörigkeit zur Fortschrittspartei nachwiesen. Natürlich muss man alle diesen neuen Funktionen irgendwie nennen, aber die Begeisterung, mit der dieser Jargon benutzt wird, als ob jeder ihn verstehen müsste, dient vor allem der Abgrenzung zu Uneingeweihten.«

Ob Zeitungsphilister oder Netzanbeter – es geht also nie nur ums Medium, sondern viel mehr und vielleicht vor allem um die ganzen Begrifflichkeiten und das Gefühl drumherum. Zeitgenössisch ist solche Medienkritik notorisch schlecht gelaunt, doch medienhistorisch wird diese schlechte Laune meistens immer besser – im Idealfall sogar richtig unterhaltsam.


Der Dresscode der Alten

Hamburg, 8. April 2010, 08:02 | von Dique

Das neue Highlight von Dresden ist die »Türckische Cammer«. Über 100 Jahre nach Rudolf II. haute der Sachsenkönig mit seiner Sammlung auf die Pauke, häufte zwar keine vergleichbaren Schätze an, aber er war ja auch nicht römischer Kaiser. Ich habe die Cammer noch nicht gesehen, bin aber schon nach der Einleitung dieses FAZ-Artikels von Dieter Bartetzko Feuer und Flamme:

»Wenn August der Starke es abends einmal leger mochte oder eine seiner Mätressen beeindrucken wollte, kleidete er sich in einen Kaftan. Lachsrot, glänzende Seide mit tausenderlei Paspeln und Abnähern, …«

Der Sachsenkönig im lachsroten Kalifengewand voller Paspeln und Abnäher. In der Printausgabe der FAZ war dieses Gewand auch abgebildet. Zumindest farblich könnte man es in die Nähe des berühmten Skythenfilzanzuges rücken, den man vor wenigen Jahren in Berlin bewundern konnte. Der flamboyante Dresscode der ›Alten‹ ist doch immer wieder faszinierend. Da wurde noch mit herrlichem Material in noch herrlicheren Farben geprotzt. Dagegen verblasst sogar der gelbe Anzug von Johan Nilsen Nagel.

Über Matthias Grünewald weiß man eigentlich nicht viel, aber jeder (jeder!) kennt und verehrt den von ihm geschaffenen Isenheimer Altar. Immerhin existierte ein Nachlass des Malers, der dereinst in fünf Kisten in Frankfurt am Main lagerte. Die Kisten waren dort geblieben, als Grünewald nach Halle zurückkehrte, wo er 1528 starb. Darin befanden sich Malutensilien, aber auch reformatorische Schriften, und das ist für die Forschung von extremem Interesse. Für uns ist aber viel wichtiger, dass Grünewald eine sehr elegante Garderobe pflegte. In den Kisten befanden sich zudem:

  • drei rote Hofgewänder
  • ein grauvioletter Rock mit Sammet an den Ärmeln
  • ein purpurianischer Rock mit schwarzem Futter
  • vier Atlaswämser
  • ein goldgelbes Paar Hosen
  • ein Mantel aus weißem Filz mit Leder überzogen
  • ein damastenes Brusttuch
  • goldgestickte Hemden und dazu noch Geschmeide, Ringe etc.

Wie Wilhelm Fraenger, nach dem das hier zitiert ist, sagt: »Alles in allem ein Kostümaufwand, für die besonderen Erfordernisse eines Hofmannes zugeschnitten.« Zum Vergleich: Dürer hatte sich 1506, also ein paar Jahre vor Grünewalds Abgang, in einem Brief aus Venedig an seinen Freund Pirckheimer beklagt: »Hÿ pin ich ein her, doheim ein schmarotzer etc.«

Ein »her« zu sein, manifestiert sich sicher nicht nur in der Kleidung, aber wie das Beispiel Grünewald zeigt, scheinen zumindest einige, oder eben einfach nur einer der nordischen Renaissancemaler, schon ganz Gentleman gewesen zu sein.

Der italienische Dürer, nämlich Leonardo, war bekanntermaßen ganz Herr, Hofmann und Dandy. In der berühmten Biografie von Nicholl steht dann auch mal drin, wie viel er mitunter für ein feines Kleidungsstück hinlegte:

»In the 1490s Leonardo purchased a 600-page book on mathematics, in folio, for 6 lire, and a silver cloak with green velvet trim for 15 lire.«

Von dem Geld für den mit grünem Samt abgesetzten Silbermantel konnte man immerhin für eine vierköpfige Familie ein Jahr lang Brot kaufen, soweit der Vergleich der historischen Währungsumrechner.


Der größte Plebejer der zeitgenössischen Kunst

Hamburg, 30. März 2010, 20:44 | von Dique

»Grimmelshausen ist seit Ende des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr Mitglied des deutschen Schriftstellerverbandes.« So kom­mentierte Michael Naumann den angestrebten Generationswechsel, der bei der Eichborn’schen »Anderen Bibliothek« zu seiner Kündigung geführt hat.

In einem der Bände der (guten alten?) Enzensbergerzeit, in Philipp Bloms »Sammelwunder, Sammelwahn«, steht neben vielen anderen supersten Anekdoten zum Thema Sammelei auch eine über den General Franco, er soll den Arm der Heiligen Teresa von Ávila mit sich herumgetragen haben, aber nicht, um damit zu unterschreiben, sich damit zu kratzen oder sonst irgendetwas Nützliches zu tun, sondern wegen der mythischen Kraft dieser Reliquie.

Aus ähnlichen Gründen wollte Rudolf II. unbedingt einen bestimmten Narwalzahn (galt damals noch als Horn des Einhorns bzw. Ainkhürns) und die berühmte Achatschale besitzen, in der durch schattige Einschlüsse der Name Christi zu lesen gewesen sei.

In Bloms Buch gibt es auch ein paar spannende Überlegungen zur Demokratisierung des Sammelns. War das uferlose Zusammentragen wertvoller oder wundersamer Dinge ehedem Privileg, ist die heutige Sammelei in alle Schichten der Bevölkerung vorgedrungen (Bierdeckel, Milchflaschen, Überraschungseiinhalte).

Zum Glück bleibt wenigstens die Kunst schön undemokratisch, siehe Helmut Krausser: »Kunst ist ein aristokratisches Phänomen, kein demokratisches, und erst recht kein plebejisches.« Dieses Zitat ist in der eben erschienenen »Substanz« des 12-bändigen Krausser’schen Tagebuchprojekts zu lesen, immer noch einem der unfassbar hervor­ragendsten Literaturgroßprojekte aller Zeiten.

Vorhin war ich noch in der PopLife-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. Die einzige Entschädigung für die schiere Langeweile, die bunte Warholsiebdrucke nun einmal verbreiten, war das in Formalde­hyd eingelegte Goldene Kalb von Hirst, dem vielleicht größten Plebejer der zeitgenössischen Kunst.

Usw.


Die Juso-Vorsitzende und das Feuilleton

Konstanz, 23. März 2010, 07:57 | von Marcuccio

Es scheint noch mehr Stuckrad-Barre-Stammtische in deutschen Zügen zu geben, nicht nur den im ICE Interlaken–Berlin. Im »ICE 5111 nach München, über Leipzig und Nürnberg«, sitzt Stuckrad-Barre himself mit Franziska Drohsel, und weil es dabei zu einer schönen Zeitungsszene kommt, müssen wir aus der »Zugfahrt mit der Juso-Vorsitzenden« hier natürlich noch unbedingt zitieren:

»Sie zieht die ›FAZ‹ aus ihrem Rucksack und sagt, dass sie sich voll blöd vorkomme, aber sie abonniere die ›FAZ‹ nun mal, obwohl die ja nun nicht gerade links sei; das sei irgendwie durch das Jura-Studium gekommen, das ›FAZ‹-Lesen, zu juristischen Themen biete diese Zeitung einfach die ausführlichste Berichterstattung. Den Politikteil lese sie, so’n bisschen die Wirtschaft – und, wenn sie viel Zeit habe, auch das Feuilleton.«

(BvSB: »Auch Deutsche unter den Opfern«, S. 97)


Maigret

Paris, 14. März 2010, 11:49 | von Niwoabyl

Tilman Spreckelsen hat ja für FAZ.NET alle 75 Maigret-Romane von Georges Simenon gelesen, einen pro Woche, insgesamt eineinhalb Jahre lang, und alles schön lexikonisiert. Mitte Oktober war er mit allen durch, und vor ein paar Monaten sind die Texte auch gesammelt in einem Einzelband im Maigret-Verlag Diogenes erschienen.

Wie auch immer, was die Maigret-Exegese an sich betrifft, denke ich, dass das Corpus Simenoni aus zwei Gründen absolut spannend ist:

1. Simenon wird immer wieder von der Literaturwissenschaft wiederentdeckt. Dann werden immer die gleichen zwei total verrückten Sätze zitiert. Der von García Márquez: »Simenon ist der wichtigste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.« Und der von André Gide: »Simenon est le plus grand romancier de tous, le plus vraiment romancier que nous ayons en littérature.« Der zweite ist besonders lustig, da Gide bekanntlich mit der Gattung Roman kein einfaches Verhältnis hatte und selbst auch nie einen ›Roman‹ veröffentlichen wollte. Also klingt für mich dieser Satz eher nach verschlüsselter Beschimpfung. Die »echten« Romane Simenons sind auch extrem konventionell und eh schlampig geschrieben. Die scheinbar auch eher konventionelle, anspruchslose Krimi-Reihe gehört aber zum absolut Geilsten, was die moderne französische Literatur zu bieten hat.

2. Die Maigret-Romane wurden von Simenon tatsächlich als flotte Krimis konzipiert, zur Abwechslung und Entspannung geschrieben. Und bei der fast unbewussten ewigen Wiederkehr derselben Themen und Motive sind es gerade Simenons Schlampigkeit und sein Drauflos-Schreiben, die Wunder bewirken. Soviel ich weiß, schrieb er seine Romane meistens in einer knappen Woche. Zwei Tage Grübelei, einen Tag Notizen machen, zwei bis vier Tage Niederschrift und ab ging die Post, fünf- bis zehnmal im Jahr. Was Rainald Goetz einmal in einem anderen Zusammenhang über Helmut Krausser schrieb – »der Typ hat derartig einen an der Klatsche, Wahnsinn« – gilt also unbedingt auch für Simenon. (vgl. R. G., »Abfall für alle«, 1999, S. 765)

Usw.