Archiv des Themenkreises ›FAS‹


Listen-Archäologie (Teil 5):
Die Autoren-Charts des Jahres 1926

Paris, 22. Oktober 2010, 09:17 | von Paco

Reich-Ranicki erwähnt ja immer mal wieder gern diese Autoren-Charts, die 1926 von der »Literarischen Welt« per Leserabstimmung aufge­stellt wurden. Zuletzt hat er sie letzten Sonntag in seiner FAS-Kolumne erwähnt, und da diese Liste noch nirgends im Netz in ganzer Pracht anzuschauen ist, hier ist sie.

Anlass für die Befragung der geschätzten 20.000 Leser der »Literarischen Welt« war damals die bevorstehende Gründung einer Sektion für Dichtkunst, die der Preußischen Akademie der Künste angegliedert werden sollte und auch wurde. Als wurde gefragt:

»Welche Dichter gehören in diese Sektion für Dichtkunst der Akademie?«

Am 21. Mai 1926 wurden die Charts dann veröffentlicht, diese 27 Autoren erhielten über 100 Stimmen:

  1. Thomas Mann  (1421 Stimmen)
  2. Franz Werfel  (682)
  3. Gerhart Hauptmann  (594)
  4. Rudolf Borchardt  (461)
  5. Stefan George  (450)
  6. Alfred Döblin  (402)
  7. Rainer Maria Rilke  (384)
  8. Hermann Hesse  (362)
  9. Albrecht Schaeffer  (323)
  10. Fritz v. Unruh  (320)
  11. Heinrich Mann  (311)
  12. Ricarda Huch  (309)
  13. Jakob Wassermann  (304)
  14. Leonhard Frank  (302)
  15. Georg Kaiser  (273)
  16. Stefan Zweig  (261)
  17. Ernst Toller  (247)
  18. Arno Holz  (174)
  19. Hugo v. Hofmannsthal  (169)
  20. Klabund  (162)
  21. Alfred Kerr  (132)
  22. Frank Thieß  (130)
  23. Ernst Barlach  (122)
  24. Bert Brecht  (120)
  25. Arnolt Bronnen  (118)
  26. Friedrich Gundolf  (103)
  27. Oskar Loerke  (101)

Quelle:
Anton Kaes (Hg.): Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Stuttgart: Metzler 1983. S. 96. (DNB)

Wer sich darüber hinaus für das fantastische Jahr 1926 interessiert: siehe Gumbrecht.
 


Mad Men (3. Staffel, AMC)

Paris, 18. Oktober 2010, 07:48 | von Paco

(Übersicht: Alle 10 besprochenen Serien. – Vorwort: Besuch im Serienland.)

Ja, ich weiß, gestern hat bereits Season 4 geendet, aber hier doch noch mal kurz zu Season 3, denn die gab uns endlich den Anagnorisis-Moment, auf den die gesamte bisherige Handlung zulief. Denn in der Waschmaschine rumpelte mit der Wäsche ein vergessener Schlüssel­bund mit. Betsy fischt ihn heraus und kann nun Dons Geheimschublade öffnen, wo sie die Scheidungsdokumente eines Don Draper findet und Hinweise auf Dons andere Identität als Dick Whitman. BOOOM! (Folge 11)

Parallel zum Kennedy-Mord fasst Betsy dann einen Entschluss. Sie besteht auf der Scheidung von Don und gibt den Avancen des herrlich graumelierten Henry Francis nach. Dass Betty nun tatsächlich mal handelt, ist schon ein ziemlicher Schritt, eventuell sogar in Richtung Moderne. Vorher waren ihre zittrigen Hände und Halluzinationen Szenen ohne dramaturgischen Zweck, reines Stimmungstheater, was aber natürlich okay ist.

Bettys Entscheidung lässt dann das Handlungsgefüge nachhaltig erzittern, und das dürfte jeden vom Hocker gehauen haben, denn eigentlich tritt »Mad Men« mit seinen Figuren schon sehr auffällig auf der Stelle, viele Sachen schwelen nur im Hintergrund, ohne dass es zu Eruptionen zwischen den Charakteren kommt. Dieses Nicht-von-der-Stelle-Kommen bei eher konservativ angelegten Twists (»Ehebruchs­probleme und Bürointrigen«) meinte Tobias Rüther, als er Ende Juli in der FAS schrieb: »Die Serie ist todlangweilig. Aus Pappe geklebt, ein Studioalbtraum, konstruiert und banal.« (FAS, 25. Juli 2010, S. 21, nicht online)

Angesichts solcher Befunde, die ja schon irgendwo auch zutreffen, überrascht dann die 3. Staffel doch öfters mal: Denn neben dem beschriebenen Erkenntnismoment in der Don-&-Betsy-Geschichte gab es auch noch eine knallblutige Szene im Büro, als ein so nerviger wie aufstrebender Jungbrite mit dem Rasenmäher (Testfahrt!) den Fuß abgefahren kriegt. Die Sterling Coopers machen Scherze darüber (»he might lose his foot, right when he got it in the door«), während dahinter an den Milchglasscheiben die Blutspritzer abgewischt werden. (Folge 6)

Neben dem Kennedy-Attentat, einem vor allem auch Fernsehereignis (im Hintergrund ist sogar Willy Brandt mit seiner Kondolenzmeldung zu sehen, Folge 12) gibt es weiteres Zeitkolorit: Die Martin-Luther-King-Rede schwappt mehrmals aus dem Radio, und außerdem sehen wir, wie Lee Harvey Oswald vor laufender Kamera erschossen wird.

Am Ende herrscht Aufbruchstimmung in der Madison Avenue. Sterling Cooper darf noch das 40. Firmenjubiläum feiern. Und dann beginnt die Flucht nach vorn, so ein bisschen Ocean’s-Eleven-Stimmung brandet auf, vor einem Weiterverkauf der Company sortieren sich die Partner neu, kaufen sich aus der Britenfirma heraus, nehmen dabei noch alle möglichen Kunden mit und plündern das Office.
 


Die FAS vom 4. Juli 2010:
Die Lyrik der Spionage

Leipzig, 5. Juli 2010, 19:47 | von Paco

Der Interviewmüller

Irgendwann nach Mitternacht habe ich noch schnell die letzte FAS weggekauft, kurz bevor sie aus dem Regal entfernt wurde. Als erstes dann das André-Müller-Interview mit Luc Bondy gelesen, und der legendäre Interviewmüller hat natürlich wieder ein paar komische Fragen gestellt, was ja immer noch sehr gut kommt.

»Spione wie wir«

Dann den sehr schön erzählten Artikel von Nils Minkmar über die »Lyrik der Spionage«, die Vexierhaftigkeit von Geheimdienstaktionen. Der Text beginnt mit der Operation Mincemeat, bei der 1943 die Leiche eines vermeintlichen Britenmajors von den Alliierten in spanischen Gewässern abgelegt wurde, mitsamt einer Aktentasche, in der sich so vertrauliche wie gefälschte Dokumente befanden, die dann planmäßig beim Feind landeten.

Bei der deutschen Abwehr wurde die Fälschung erkannt, aber Alexis von Roenne sprach sich wider besseren Wissens für die Authentizität der Dokumente aus, denn er arbeitete da schon im Sinne des antihitlerischen Widerstands, was aber die Briten ja nicht gewusst haben konnten usw. usw.

Nach diesem historischen Einstieg wird zu den aktuellen Ereignissen geschaltet, zu den enttarnten russischen Spionen, die gerade im Vorstadtamerika der Desperate Housewives ausgehoben wurden, was eventuell eben auch planmäßig geschah, im Zuge irgendeiner mehrdimensionalen Strategie, wie zu vermuten steht.

»Pastewka«-Bruder Hagen

Nach diesem für die frühesten Morgenstunden eher komplexen Artikel las ich dann noch das Interview mit Matthias Matschke, der den »Pastewka«-Bruder Hagen spielt. Es geht im Großen und Ganzen um den Unterschied zwischen Theater und TV etc. etc., und dann rekapituliert er da unter anderem sehr ausführlich die »Extras«-Folge mit Orlando Bloom, hab sofort Lust gekriegt, die Folge selbst noch mal anzuschauen.

Eine Ladung Žižek

Stattdessen las ich aber noch den Žižek-Artikel im neuen »Spiegel«. Der lustige slowenische Modephilosoph ist ja die Einladung an einen jeden Reporter, mit seinem Beschreibungspotenzial an die Grenzen zu gehen:

»Er hat einen S-Fehler, der Buchstabe klingt bei ihm wie eine Fahrradluftpumpe. Seine Vorträge beginnen meist mit ›Did you know …‹.«

Žižek: gääähn, ich weiß, aber ab und zu muss man sich mal wieder eine Ladung Žižek geben, und wenn das in Form dieses großartigen und hervorragenden »Spiegel«-Style-Artikels von Philipp Oehmke geschieht, umso besser:

»Mein Freund Peter, zum Beispiel, fucking Sloterdijk, ich mag ihn sehr, aber natürlich muss er in den Gulag. Aber er wird ein bisschen besser gestellt dort, vielleicht kann er Koch werden.«

Es herrscht also natürlich wieder das übliche Žižek-Anekdotentum, aber die ganze Žižekerei wurde mal in einen schön auserzählten Artikel gegossen. Ich hab dann noch ein wenig weiter im »Spiegel« gelesen, bis mich der Schlaf übermannte, heute vormittag konnte ich mich dann an nichts mehr erinnern und las den »Spiegel« also einfach noch mal von vorn.


Die FAS vom 27. Juni 2010:
Airen und Reich-Ranicki

Leipzig, 27. Juni 2010, 09:27 | von Paco

Danke, liebe FAS, für die heutige Seite 23. Airen und Reich-Ranicki auf einer Zeitungsseite. Allein diese Contentverteilung ist pures, bestes, großartigstes Feuilleton. Und ein schöner Hinweis darauf, dass Airen und MRR ja im Prinzip dasselbe machen. Beide schreien sie Leuten mit arg bildungsbürgerlichen Vorstellungen von Literatur zu: Lasst uns in Ruhe mit eurem Scheiß.

Airen macht das in Form eines Recaps des Bachmann-Wettlesens: »Schön langsam nervt die Jury mit ihrem verkrampften Germanisten­gesülze.« Airen ist ja der Prototyp des naiven Dichters aus dem Schiller-Aufsatz, der eigenen Angaben zufolge auch kaum was gelesen hat und von Literatur Gegenwart und Unmittelbarkeit verlangt, »direkt ins Herz, ins Jetzt«.

Der Text wird ergänzt durch drei Airen-Fotos. Wie der Gartenzwerg aus dem »Amélie«-Film hat sich Airen mit seinem Laptop in Mexico City an verschiedenen Orten fotografieren lassen. Obwohl er im Text schreibt, er habe sich zum Bachmannbloggen in einem Apartment mit WLAN eingeschlos­sen. Kontrafaktischer Fotojournalismus also, auch das noch.

MRR in seiner »Fragen Sie«-Rubrik dann wieder normal hervorragend, er arbeitet diesmal sechs Einsendungen ab, dann ist er eh am besten, wenn er kurz und schmerzlos seinen Unmut über die fragwürdigen Fragen seiner Leserschaft zum Ausdruck bringt: »Bitte, quälen Sie mich nicht.«

Eine Umblätterung weiter, Seite 25, gibt es ein Interview von Rüdiger Suchsland mit Pegah Ferydoni, sie interessiert sich für Gadamer, super. Und mehr hab ich erst mal gar nicht gelesen in der FAS, nur noch den Feuilleton-Opener von Claudius Seidl über das Nachfolgebuch zu »Less Than Zero«, das Bret Easton Ellis jetzt also tatsächlich geschrieben hat. Und nun, halb zehn Uhr morgens: hinaus in die Unmittelbarkeit.


Die FAS vom 20. Juni 2010:
Die Sportteil-Aussortierung

Hamburg, 20. Juni 2010, 21:43 | von Dique

Beginn der Rahmenhandlung

Ich konnte die FAS nicht gleich morgens lesen bzw. nur einen kleinen Teil, denn ich musste zum Spanischkurs. Dort fragte mich meine Banknachbarin in der Pause, ob denn etwas über die HSH Nordbank in der Zeitung stehe. Sie blätterte kurz in meine Sonntagszeitung hinein und fand nichts, und als ich sie fragte, was sie denn für einen Artikel über die HSH Nordbank erwarte, verstand ich dann nicht so genau, worum es ihr ging.

Später am U-Bahnsteig begann ich mit dem Aussortieren der Zeitungs­teile. Auch während der WM bin und bleibe ich FAS-Sportteil-Aussor­tierer, obwohl ich schon mehrfach, auch von vertrauenswürdigen Bekannten, darauf hingewiesen wurde, wie gut doch die Artikel im Sportteil oft seien, besonders am Wochenende, besonders in der FAZ und in der FAS.

Die U-Bahn traf ein, ich konnte gerade noch den Sportteil herausziehen und hinter mir auf der Bank ablegen. Während der Fahrt begann ich mit dem dramatischen Wirtschaftsteil, den ich dann auch erst im Café beendete.

Der Wirtschaftsteil

Die Dramatik startet gleich im obligatorischen Interview auf Ressortseite 3 (= Seite 33), wo sich Jagdish Bhagwati zur aktuellen Finanzmarktproblematik äußert. Er hebt sich dabei angenehm ab vom viel zu populären Bankerbashing und bleibt dabei so logisch und freundlich, man hört ihn beim Lesen fast laut reden. Auf dem Foto zum Interview wirkt Bhagwati auch ungeheuer sympathisch, die beiden Zeigefinger in die Luft gestreckt, ohne Krawatte und bescheiden lächelnd sitzt er vor einer Bücherwand, deren buntgemischte Buch­rücken auf eine moderne Wirtschaftsbibliothek schließen lassen.

Ansonsten hat diese Ausgabe einen ziemlichen Benzingeruch, es geht um Autos und Öl, gleich von der FAS-Frontseite wird man in den Wirtschafts­teil hineingeteast. Die S-Klasse von Mercedes muss wieder in Sonderschichten hergestellt werden, weil immer mehr Chinesen ihre stetig wachsende Infrastruktur damit befahren möchten. Die Krise ist vorbei, ade Kurzarbeit, jetzt wird auch am Samstag geschraubt, montiert und lackiert.

Dagegen reißen bei BP die Probleme einfach nicht ab, statt der üblichen sechs rechnet man in diesem Jahr zur kommenden Hurrikanzeit mit vierzehn Wirbelstürmen. Dann wird es historisch, mit einem Gang durch die Geschichte des BP-Konzerns. Das Unternehmen wurde vor über hundert Jahren von einem spekulierenden Glücksritter begründet, der sich persische Bohrlizenzen besorgte und kurz vor der eigenen Pleite endlich Öl fand.

Bewegt ging es weiter, und dazu gibt es dann eine Menge Fotos, angefangen beim Schreibtischporträt des Gründers William Knox D’Arcy über die englische Königin bei der Einweihung des Forties-Ölfeldes in der Nordsee bis hin zum Schutzhelmfoto des unglücklichen Tony Hayward, des aktuellen Bosses des Konzerns. Gerade wurde er als Krisenmanager suspendiert und tritt gleich ins nächste Fettnäpfchen. Er entspannt wohl erst mal auf einem Segeltörn, und SPON zitiert dazu Obamas Stabschef, Rahm Emanuel: »Ich glaube, wir kommen alle zu dem Schluss, das Tony Hayward nicht vor einer Zweitkarriere als PR-Berater steht.«

Eine Umblätterung weiter geht es abermals mehr oder weniger um Treibstoff, denn der Industrielle Herbert Quandt wurde vor ca. 100 Jahren geboren und hat sich vor ca. 50 Jahren für die Sanierung von BMW engagiert, indem er sein Aktienpaket aufstockte usw., und vielleicht geht es sogar im Rückseitenportrait irgendwie um Treibstoff, um das Zaubermittel, das die 32-jährige Kristina Schröder, Mini fahrende und twitternde Familienministerin, immer wieder antreibt. Herausfinden wollte ich das aber nicht, der Ritt bis dahin war dramatisch genug, Ressortwechsel.

Schluss der Rahmenhandlung

Nun suchte ich das Feuilleton und konnte es nicht finden. Mehrfach blätterte ich hin und her, ordnete die Bücher neu – nada. Sofort verdächtigte ich die HSH-Nordbank-Interessierte aus dem Spanisch­kurs! Hatte sie sich mit ihrem Taschenspielertrick Zugang zu meiner Zeitung verschafft, um sich das Feuilleton anzueignen? Aber so was ist ja unter allen möglichen Geschehnissen auf dieser Welt nicht vorgesehen und konnte eigentlich nicht sein.

Wahrscheinlicher ist, dass das Feuilleton eben zusammen mit dem Sport auf der Bahnsteigbank gelandet ist, denn beide Ressorts werden ja in der FAS genau hintereinander gelegt. Mir war der Sportteil auch ungewöhnlich dick erschienen, aber ich hatte das auf die zusätzliche WM-Berichterstattung geschoben, irgendwelche Extras, Fußballer­figuren zum Ausschneiden und Aufstellen oder Luftballons. Nun hoffte ich, dass der Finder nicht enttäuscht war, wenn er statt Luftballons und Fußballspielern zum Basteln nur ein ungelesenes Feuilleton fand.

Soweit die Rahmenhandlung, und falls ich irgendetwas im verlorenen Feuilleton verpasst haben sollte, bitte ich um kurze Mitteilung.


Die FAS vom 13. Juni 2010:
Der Sfumato-Look alter Gemälde

Leipzig, 13. Juni 2010, 16:12 | von Paco

Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!Sigmar Polke ist gestorben, auf der Frontpage des heutigen FAS-Feuilletons wurde daher heute die rechte obere Ecke schwarz gemalt, schönes Zitat.

In der Seitenleiste direkt darunter hängt dann, The­menwechsel, der Aufruf einiger Kulturmenschen, die sich für Joachim Gauck als zukünftigen Bundespräsiden­ten aussprechen. Nicht dabei ist der Name Christa Wolf, das hat bekannte Gründe, aber da nächste Woche bei Suhrkamp eh ein neuer Roman von ihr erscheint, muss sie auch keine Petitionen unterschrei­ben, um es auf die erste Seite des FAS-Feuilletons zu schaffen.

Christa Wolf ein Trekkie?

Volker Weidermanns Artikel zum Buch ist eventuell, soweit meine Vermutung, besser als das Buch selber, ein Christa-Wolf-Buch mit Christa-Wolf-Themen:

»Sie, die Autorin der Selbsterforschung und der Wahrheitssuche – sie hat vergessen, dass sie eine Weile lang Informelle Mitarbeiterin der Staatssicherheit gewesen ist und Berichte über Kollegen schrieb. ›Das hatte sie vergessen.‹ Dieser Satz ist der Angelpunkt des Romans.«

Es geht auch einmal mehr um den 4. November 1989 usw. usw., aber immerhin trägt das Buch den schönen Doppeltitel »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud« und spielt in Kalifornien, wo sich die im Buch vorkommende DDR-Schriftstellerin kurz nach der Wende als Stipendiatin aufhält.

Und so werden auch ein paar andere Sachen in das Buch gespült, zum Beispiel »Star Trek«, und zwar das »Next Generation«-Star-Trek mit Käptn Picard. Die Autorin schaut sich das jedenfalls Abend für Abend an, trinkt dabei eine Margarita und isst ein Käsebrot.

Roland »Shakespeare« Emmerich

Für die Rubrik »Nackte Wahrheiten« (S. 29) hat Peter Richter festgestellt, dass Joachim Gauck das FAS-Feuilleton liest, denn auf der großen Spargelfahrt des »Seeheimer Kreises« der SPD hat er den Aufmacher der letzten Woche zitiert.

Auf derselben Seite findet sich ein Bericht vom Set des neuen (oh Gott:) Roland-Emmerich-Films »Anonymus«. So schlimm wie zuletzt scheint es aber nicht zu werden, es geht immerhin um: Shakespeare! Um die immer mal wieder infrage gestellte Urheberschaft seiner Werke.

Der Film wird in Babelsberg gedreht, und der Peter-Körte-Artikel ist vor allem ein Lob des Szenenbildes: »Die Halle ist neblig, was weniger das Londoner Wetter simulieren als den Bildern jenen Sfumato-Look alter Gemälde verleihen soll, den Emmerich und seine Kamerafrau Anna Foerster im Auge haben.«

Noch eine schöne Beobachtung: »Das Casting im Brandenburgischen hat viele bäuerliche Physiognomien zu Tage gefördert«. – Zum Schluss des Artikels wird vorgeschlagen, die Kulissen des nachgebauten Globe Theaters nach dem Dreh nicht abzureißen, sondern stehen zu lassen: »Da wird sich doch in Berlin wohl irgendwo eine Freifläche finden.«

Ich las dann noch ein wenig kreuz und quer, und genau in dem Moment, als ich die FAS aus der Hand legte, verschwand die Sonne hinter einer dicken Kumuluswolke.


»Der menschgewordene Vatertag«

Konstanz, 16. Mai 2010, 20:36 | von Marcuccio

FAS, Medienseite

In der FAS von heute: Schöne Replik auf Claudius Seidls Reportage-Polemik vom vergangenen Sonntag. Stephan Lebert meldet sich zu Wort, und man mag sich gut ausmalen, dass das zunächst ein journalistisch formulierter Brief war, den »der strenge Feuilletonchef dieser Zeitung« (Lebert über Seidl) dann nur zu gern zum offenen Brief, sprich Gastartikel gemacht hat. Wen wundert’s, packt Lebert Seidls Schmähartikel doch bei der noblen FAS-Ehre:

»Diese schlechte Laune passt so gar nicht zu dem hochgeschätzten F.A.S.-Feuilleton, wenn beispielsweise über Buch-, Theater- oder Filmpreise berichtet wird. Deshalb erlauben wir uns kurz die sicher durch und durch unsachliche Frage, ob da vielleicht ein bisschen das Til-Schweiger-Syndrom vorliegt: Man gewinnt selber nie was – und ist beleidigt?«

Eine Nebendiagnose von Leberts Verteidigung der Reportage ist »die wiedererstarkte Seite drei der ›Süddeutschen Zeitung‹«, deren Outstandingness wir ja letzthin auch im Best of Feuilleton der Jahre 2007 (auf #1) und 2009 (auf #8) gefeiert haben.

Ansonsten ist die versöhnliche Quintessenz des Artikels die, dass sich Feuilletonist (am Schreibtisch) und Reporter (draußen) am Ende doch näher sind als die Herren Seidl und Lebert zunächst vorgeben: »Forget the facts, push the story, lass weg, was die Geschichte stört. Nicht nur die ganz harten Reporter wussten das immer schon.«

In diesem Sinne unterwegs war wohl auch Stuckrad-Barre für die WamS, und zwar beim »vatertagigsten Vatertagsfest Brandenburgs«. Er erzählt eine Geschichte gescheiterter Integration, bestellt beim Bierausschank »Ein Wasser, bitte!« (»Ein was?«) und vergisst auch diese kleine, aber feine Einheit Varietätenlinguistik nicht: »›Vatertag‹, ostdeutsch ›Herrentag‹«. Schließlich besteigt er ein herrliches Örtchen namens „ToiToi-Anhöhe“ und fährt integrationsunwillig wieder heim, wo ihm in der Glotze Waldemar Hartmann begegnet: »der menschgewordene Vatertag«.

Passend zu dieser Alteritäts-Reportage müssen wir vielleicht wirklich noch aus Adornos »Herrenlaunen« zitieren:

»Einem bestimmten Gestus der Männlichkeit, sei’s der eigenen, sei’s der anderer, gebührt Mißtrauen. Er drückt (…) die stillschweigende Verschworenheit aller Männer miteinander aus. Früher nannte man das ängstlich bewundernd Herrenlaunen, heute ist es demokratisiert und wird von Filmhelden noch den letzten Bankangestellten vorgemacht.«

Schuld am Herrentag ist im Zweifel also wieder mal: die Kulturindustrie.


Herrenlaunen

Konstanz, 13. Mai 2010, 22:08 | von Marcuccio

Früher (siehe auch Florian Illies: Generation Golf) war »Dany plus Sahne«. Heute ist »Dandy plus Käse«. Grund der neuen Milchverede­lungsstufe mit dem Extra-D ist Norma. Die Supermarktkette ediert neuerdings einen dreistückigen Formaggio-Sampler (Pecorino Sardo Maturo, Asiago Pressato, Provolone Valpadana) zum Zweitausendeins-Preis von 7,49 € und bewirbt das Ganze mit dem Oscar-Wilde-Ever­green: »Ich habe einen ganz einfachen Geschmack, ich bin immer mit dem Besten zufrieden.«

Normas neue Blurb-Offensive war schon Thema einer eigenen FAS-Expertise zu den neuen Deluxe-Linien der Discounter.

Discountmäßig nur im Doppelpack gab’s den Dandy zuletzt auch bei den Kritikern. Zunächst eine Sammelrezension in der Zeitschrift für Germanistik (2/2010), und zwar Isabelle Stauffer über

1. Melanie Grundmann (Hrsg.): Der Dandy. Wie er wurde, was er war. Eine Anthologie. Köln etc.: Böhlau 2007.
2. Fernand Hörner: Die Behauptung des Dandys. Eine Archäologie. Bielefeld: Transcript 2008.

Und dann noch ein Dandy-Duo in der FAZ (17. April 2010):

1. Alexandra Tacke und Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln etc.: Böhlau 2009.
2. Ruth Sprenger: Die hohe Kunst der Herrenkleidermacher. Köln etc.: Böhlau 2009.

Böhlau etabliert sich mit diesem Doppelschlag als ultimativer Dandy-Verlag. So generiert man Sammelrezensionen, die man sich endlich nicht mehr mit anderen Verlagen teilen muss.

Ich hätte da aber auch noch ein Dandy-Trio:

»Dandy – Snob – Flaneur.«

Das rosarot-violette, aber ansonsten super solide Fischer-Taschenbuch von 1985 ist via Amazon zum Dandy-Discountpreis von 60 € erhältlich, hat aber all das drin, was der FAZ-Rezensent Felix Johannes Enzian im Band »Depressive Dandys« vermisst, also keywords wie Dandytum, Ästhetizismus, Snobismus, Camp, Pop- und Postmodernität nicht einfach nur synonym verwendet.

By the way feiert »Dandy – Snob – Flaneur« mit Primärtexten von Robert Walser (»Der Verfeinerte«) bis Adorno (»Herrenlaunen«) gerade 25. Die ganze Reihe (hg. von Gerd Stein), in die das Buch gehört, ist ein Kleinod – allein schon wegen der titelgebenden »Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts«:

Band 1: Bohemien – Tramp – Sponti.
Band 2: Dandy – Snob – Flaneur.
Band 3: Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf.
Band 4: Philister – Kleinbürger – Spießer.
Band 5: Lumpenproletarier – Bonze – Held der Arbeit.

Die möchte man sofort alle kennenlernen, kaufen, lesen. Also, wo bleibt die wiederaufgelegte Familiengroßpackung bei Norma oder Thalia?


Die FAS vom 9. Mai 2010:
»Ich verabscheue Egon Erwin Kisch«

Leipzig, 9. Mai 2010, 23:38 | von Paco

Tisch, FAS, Bücher

Zur Vorgeschichte: Und zwar hatte es am 7. März eine Folge des Volker Panzer’schen »nachtstudios« gegeben, Islamkritikdebatte etc., auch Henryk M. Broder und Claudius Seidl waren da gesessen und hatten sich auf das Schönste gegenseitig belegt. Broder sagte irgendwann folgenden Satz:

»Herr Seidl, Sie bewegen sich doch nur zwischen Ihrer Redaktion und Café Einstein, das ist zu wenig, um die Welt zu erleben.«

So richtig darauf reagiert hat Seidl erst jetzt, heute, in der FAS: »Es kann nicht ganz verkehrt sein, wenn Journalisten gelegentlich die Redaktionszimmer verlassen und hinausgehen, an die frische Luft, oder hinein in Räume, die nicht ausdrücklich als ihre Arbeitsplätze definiert sind –«

So beginnt sein Artikel über die Reportage als Genre, Überschrift: »Die Verniedlichung der Welt«, und durch den Verweis auf diesen Text wurde ich heute morgen, kurz vor 8 Uhr, Sonne, Himmel, Mai, ins Feuilleton hineingezogen, nach rechts unten auf die fast hinterletzte Seite, ganz kurz vor dem Fernsehprogramm.

Seidl lobt dort dann, ohne Namen zu nennen, einen »Seite Drei«-Artikel der SZ, geschrieben von Holger Gertz und Alexander Gorkow, der von Louis van Gaal als »Väterchen Frost« handelte (S-Zeitung vom 21. April). Und er kommt noch mal auf den sogenannten rasenden Reporter zu sprechen. Auch hier wieder die Vorgeschichte: Im »nachtstudio« hatte Broder eine Leseempfehlung zu einem bestimmten Thema (egal) abgegeben:

Broder: Lesen Sie Halldór Laxness, lesen Sie Egon Erwin Kisch –
Seidl: ICH VERABSCHEUE EGON ERWIN KISCH.

Die Großbuchstaben hat man in der Sendung ganz deutlich herausgehört. Die Fußnote dazu kommt jetzt in der FAS: »Kischs Texte, wenn man sie heute wiederliest, sind selten Beiträge zur Wahrheitsfindung und umso häufiger Ressentiment, Ideologie, Propaganda.« Das hier jetzt wiederholte Kisch-Bashing wirkt eigentlich überschüssig, aber dann, warum auch nicht, warum nicht einfach mal wieder ein wenig Kisch-Bashing für zwischendurch.

Es folgt ein kleiner Diss gegen Sabine Rückerts »Zeit«-Reportage »Todfreunde« (Reporterpreis 2009) und ein weiterer gegen Alexander Osangs »Spiegel«-Porträt »Die deutsche Queen« über die Merkelin (vom SPIEGELblog als »Hofberichterstattung« bezeichnet, war nominiert für den, genau: Kisch-Preis).

Seidl bezeichnet derlei Reportagen als »Preisträgerprosa«, die vom Bescheidwissen lebe und »also zugleich alles Unverstandene und Unversöhnte, alles Unerklärliche und Unsagbare ausschließt«. Eine schöne »Un«-Reihung, und überhaupt ist das alles in diesem Seidl-Ton geschrieben, der auch ein wenig zur FAS-Sprache geworden ist, und für eine Sonntagszeitung ist diese Art gefälliger Divergenz eben genau der richtige Ton.

Als Gegen-Kischs für nun orientierungslose Reportagenschreiber nennt Seidl übrigens die Namen: 1. Hans Ulrich Kempski, 2. Herbert Riehl-Heyse, 3. Marie-Luise Scherer. Und noch ein schreckliches Detail überliterarischer Reportagen hat Seidl beschrieben:

Die Ein-Absatz-Sätze.

Der Seidl-Text kam also sehr, sehr gut. Auch sonst war das wieder eine Spitzen-FAS. »Reitet für England«, lautet die Überschrift zur Besprechung von Ridley Scotts »Robin Hood«, und diese Überschrift ist natürlich mal wieder Feuilletonismus gone wild, aber die Anspielung passt dann vielleicht doch ganz gut zur Stoßrichtung des Artikels von Peter Körte.

Ich muss leider bei Filmkritiken in der FAS immer an Joachim Lottmann denken und seinen Kommentar zur Filmredaktion der FAS. Lottmanns Fußnote wird bald zwei Jahre alt, und ich sollte mich wirklich mal anstrengen, die wieder aus der Assoziationsmaschinerie rauszutun.

Sehr super dann noch der Henning-Ritter-Artikel »Die weißen Strümpfe«, Anekdoten aus der Zeit vor der Revolution (keywords: Daunon de Guitry, Abbé Galiani, Madame d’Épinay, Rousseau). Im »Gesellschafts«-Teil wird ein Currywurst-Testessen bei Konnopke, Schönhauser Allee, beschrieben, das ist eine sehr heftige Schmähkritik mit einer Wagenladung an Verrissvokabular.

Dann war es irgendwann 9 Uhr und ich musste mal hinaus und spazierte durch die Südvorstadt irgendwohin. Abends, kurz nach der ersten Hochrechnung zur NRW-Wahl, rief Dique an, es ging ein bisschen hin und her, und am Ende fragte er, ob er noch die FAS kaufen gehen müsse, ob irgendwas drinstehe heute.


Listen-Archäologie (Teil 2):
Neo Rauch in Leipzig

Leipzig, 22. April 2010, 21:07 | von Paco

Die beste Rezension der »Begleiter«-Ausstellungen in Leipzig und München ist bis jetzt die von Werner Spies in der FAZ. Aber weder er noch die anderen Kritiker erwähnen wirklich mal eine Handvoll Bildtitel, und dabei sind die doch auch ganz schön, hier der Pfad durch das Leip­ziger MDBK, zuerst der Süd-, dann der Nordteil des Untergeschosses:

1. Kommen wir zum Nächsten, 2005
2. Silo, 2002
3. Schilfkind, 2010
4. Seewind, 2009
5. Bergfest, 2010
6. Wächterin, 2009
7. Acker, 2002
8. Die Flamme, 2007
9. Diktat, 2004
10. Rauner, 2009
11. Das Plateau, 2008
12. Bon Si, 2006
13. Das Angebot, 2010
14. Abstieg, 2009
15. Ausschüttung, 2009
16. Oktober, 2009
17. Vater, 2007
18. Dromos, 1993
19. Erl, 1993
20. Vorraum, 1993
21. Das Gut, 2008
22. Start, 1997
23. Moder, 1999
24. Mittag, 1997
25. Sonntag, 1997
26. Versprengte Einheit, 2010
27. Weiche, 1999
28. Arbeiter, 1998
29. Uhrenvergleich, 2001
30. Die große Störung, 1995
31. Die Küche, 1995
32. cross, 2006
33. Fell, 2000
34. Sturmnacht, 2000
35. Platz, 2000
36. Reiter, 2010
37. Reich, 2002
38. Reaktionäre Situation, 2002
39. Der Schütter, 2009
40. Das Neue, 2003
41. Helferinnen, 2008
42. Fluchtversuch, 2008
43. Abraum, 2003
44. Unter Feuer, 2010
45. Dörfler, 2009
46. Ordnungshüter, 2008
47. Am Waldsaum, 2007
48. Scheune, 2003
49. Krönung I, 2008
50. Krönung II, 2008
51. Die Fuge, 2007
52. Höhe, 2004
53. Neid, 1999
54. Theorie, 2006
55. Rauch, 2005
56. Morgenrot, 2006
57. Aufstand, 2004
58. Dämmer, 2002
59. Vorort, 2007
60. Ungeheuer, 2006

Das Ganze auch als fortgeführter Nachweis der Literarizität Neo Rauchs, zu dem Peter Richter neulich in der FAS angesetzt hat.