Archiv des Themenkreises ›taz‹


Schneewuttke und die sieben Kleckslein

Berlin, 4. April 2011, 12:53 | von Josik

Noch heute ist auf der Rio-Reiser-Homepage jener »taz«-Artikel vom 10. November 2006 nachzulesen, der rekapituliert, wie Fans im Internet wütend auf die Handelskette Media-Markt waren, weil die ein Rio-Reiser-Cover verhökerte. Das, so meinten damals die Fans, passe zusammen »wie Gummibärchen und Blutwurst«, ein Vergleich, in dem Rio Reiser wohl die Gummibärchen sein soll und der Media-Markt die Blutwurst. Als Rio Reiser nun neulich auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg umgebettet wurde, gelangte er in die Nachbarschaft der Gebrüder Grimm, den Aufschreibern des berühmten Wurstmärchens.

Martin Wuttke nutzte dann kürzlich in der Wiener »Presse« die Gelegenheit, das Wurstmärchen, das er schon 1995 an der Seite von Bernhard Minetti spielte – damals allerdings war Robin Detje zufolge die Blutwurst das Berliner Ensemble und die Leberwurst die Zuschauer –, dem Haiderklon H. Che Strache vorzulesen.

Es handelt sich also um jenes berühmte Märchen, in dem eine Blut­wurst und eine Leberwurst in Freundschaft lebten, die Blutwurst die Leberwurst zu Gast bittet, die Leberwurst ganz vergnügt zur Blutwurst in die Stube geht, dort aber auf der Stiege viele wunderliche Dinge sieht, woraufhin sie, die Leberwurst, erschrickt, von der Blutwurst aber freundlich empfangen wird, schließlich fragt die Leberwurst die Blut­wurst, was denn da im Stiegenhaus los sei, freilich stellt sich die Blutwurst der Leberwurst gegenüber taub und marschiert in die Küche, während sie, die Leberwurst, in der Stube auf und ab geht, dann kommt jemand, von dem die Gebrüder Grimm schreiben, sie wüssten nicht, wer es gewesen ist, zur Tür herein und warnt die Leberwurst, sie solle sich schleichen, also schleicht sich die Leberwurst zur Tür hinaus auf die Straße und sieht von dort aus die Blutwurst. Soweit das Märchen.

Martin Wuttke fragt dann Strache: »Tolles Märchen, oder? Lässt sich so etwas politisch beurteilen?« Strache antwortet, dass hier der Bundeskanzler Faymann die Blutwurst sei und der Vizekanzler Pröll die Leberwurst.

Es ist überhaupt auffällig, wie sehr schon im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts die Beschäftigung mit Würsten im Schwange war. Justinus Kerner etwa veröffentlichte 1820 die Schrift »Neue Beobachtungen über die in Württemberg so häufig vorfallenden tödtlichen Vergiftungen durch den Genuß geräucherter Wurst« und 1822 das noch bahnbrechendere Werk »Das Fettgift oder die Fettsäure und ihre Wirkung auf den thierischen Organismus, ein Beitrag des in verdorbenen Würsten giftig wirkenden Stoffes«.

Seine »halbe Erblindung«, wie er sie selbst nannte, hat Justinus Kerner sich nach Gunter Grimm, dem Herausgeber der »Ausgewählten Werke« Kerners, wohl durch seine medizinischen Versuche über Wurstvergiftungen zugezogen. Justinus Kerner aber hat das Beste aus seinem Augenleiden gemacht und uns die genialen »Klecksographien« hinterlassen, bedichtete Tintenkleckse:

Als ich mit Druckerschwärze heut klecksographiert‘,
Wozu mich nur der Teufel hat verführt,
Kam dieses Skandalum heraufspaziert.

Usw.


Listen-Archäologie (Teil 7):
Der Medienkonsum des Norbert Bisky

Konstanz, 18. Februar 2011, 18:04 | von Marcuccio

Im DRadio-Programmheft für Februar 2011 gibt es auf der vorletzten Seite (S. 91) ein Kurzinterview mit Norbert Bisky. Letzte Frage: »Welche Medien nutzen Sie sonst noch?« – Antwort:

»NPR Berlin,
Artforum,
Flash Art,
Texte zur Kunst,
nytimes.com,
bild.de,
spiegel online,
Monopol,
Die Zeit,
art,
stern,
Kunstforum International,
QVC,
El País,
L’Officiel Hommes,
taz und FAZ
und im Moment gerade ganz viel Herta Müller und Pasolini.«

(in dieser Reihenfolge, Zeilenumbrüche stammen von mir)
 


»Heute schon das Feuilleton gescannt?«
Mit Andreas Bernard durch die »jetzt«-Jahre

Konstanz, 12. November 2010, 10:46 | von Marcuccio

Wer für die »Tempojahre« (Maxim Biller) zu jung und für »Neon« viel­leicht schon bald zu alt war, der hatte in jedem Fall »jetzt« (1993–2002) – die Santo-Subito-Jugendbeilage der SZ. »jetzt:« war jung, frisch, faszinierend – der sprichwörtliche Doppelpunkt für jeden, der in der zweiten Hälfte der 1990er feuilletonistisch lesen lernen wollte, sich dabei aber möglichst nicht so totalitär belehrt fühlen mochte. »jetzt« gehörte in die Zeit wie »Faserland«, MTV oder die AOL-Werbung mit Boris Becker (»Bin ich jetzt schon drin?«).

Das Lebensgefühl der »jetzt«-Jahre gibt es jetzt zum Nachlesen, in einem schönen Roman von Andreas Bernard, in dem das »jetzt«-Magazin »Vorn« und der Protagonist Tobias Lehnert heißt.

Das Buch wurde von den Feuilletons dieses Frühjahrs erstaunlich lieblos durchgewinkt, Sandra Kerschbaumer in der FAZ fand es sogar »ermüdend, wie Müttern auf dem Sandkistenrand oder Kleingärtnern beim Fegen ihrer Wege zuzuhören«.

Das »jetzt«-Feeling

Vielleicht ist meine »jetzt«-Erinnerung auch deswegen so mythisch überladen, weil ich der notorisch verhinderte »jetzt«-Leser war: »jetzt« war für mich zuallererst das, was ich als studentischer FAZ-Abonnent montags gern auch noch mit dabei gehabt hätte. Das zusätzlich Fiese war, dass »jetzt« selbst im Urlaub nicht funktionierte. Da kaufte man sich in Italien schon mal eine SZ vom Vortag und freute sich mit der Cover-Ankündigung auf ein knutschendes Pärchen im Meer bzw. ein »jetzt«-Magazin zum Thema: »Und wie war dein Sommer?«, und dann stand da prompt und kleingedruckt:

»Liegt nicht der Auslandsauflage bei«

Wie ich diesen Satz hasste. In der alten »Zweigstelle 1« der Uni-Bibliothek Leipzig war der Begriff Beilage indes richtig räumlich gemeint. »jetzt« lag dort tatsächlich immer im Separee, hinter dem eigentlichen Zeitungslesesaal. In einem gammeligen Schuhkarton, der irgendwann meine Schatzkiste wurde. Ganze »jetzt«-Jahrgänge hab ich in dem miefigen Kabuff rückwirkend gehoben, umgeblättert, verschlungen. Mehr zum Feeling muss ich nicht sagen, Bernard selbst hat »jetzt« im taz-Gespräch gegenüber dem Vorgänger »Tempo« und dem Service-Nachfolger »Neon« klug abgegrenzt.

Vom Leser zum Schreiber

»Vorn« feiert aber nicht nur das »jetzt«-Lese- und Lebensgefühl. Es ist vor allem auch ein wunderbarer Journalisten-Bildungsroman. Erzählt wird, wie aus einem Magazin-Fan ein Magazin-Schreiber wird. Was passiert, wenn einer den Sprung von der Rezeption zur Produktion von Lebensgefühl wagt. Wie sich der erste eigene gedruckte Text in der Zeitung anfühlt. Und wie man tickt, wenn man leibhaftige Redakteure im Büro besucht:

»Er versuchte (…) diejenigen zu identifizieren, deren Geschichten ihn am meisten begeisterten, sich zu überlegen, welches Gesicht zu welchem Namen passen könnte.« (S. 16)

Auch ein Typ wie Tom Kummer geistert mal kurz als Phantom durch Bernards Buch, auf S. 17: Er »sah sehr lässig aus; er hatte schwarze lockige Haare und wirkte fast ein bisschen südländisch«. Tobias trifft ihn auf der Einweihungsfeier der neuen Redaktionsräume. Später heißt es:

»Den dunklen, lockigen Typen von damals sah er in all den Jahren kein einziges Mal mehr, und als er Robert später einmal darauf ansprach, welcher Autor oder Fotograf das gewesen sein könnte, wusste der nicht einmal, von wem Tobias sprach.« (S. 17/18)

Redaktionssport Scannen

Der eigentliche Plot ist das private Leben von Tobias Lehnert, namentlich seine alte Beziehung, die sich zunehmend konträr zu seinem Redakteursleben voller Listen-Journalismus, Tischritualen im »Schumann’s« und den Girlie-Kategorien verhält (»Julias sind immer gut!«).

Lustig auch das metasprachliche Rudelfantasieren, dahinter steckt die Idee, sich anhand weniger Indizien Geschichten und Identitäten zu Personen, zum Beispiel auf Partys, auszudenken:

»Im Vorn sprachen sie davon, jemanden zu ›scannen‹, wobei sich diese Methode nicht nur auf das sekundenschnelle Durchleuchten und Bewerten von Menschen bezog, sondern etwa auch auf Texte in Zeitungen und Magazinen. ›Hast du heute schon das Feuilleton gescannt?‹« (S. 190/191)

Irgendwann passt die alte Freundin nicht mehr in den coolen Vorn-Kosmos, in der Geschmacksfragen so falsch sein können wie Milchkaffeeschalen, die Tobias zu Hause stehen hat. Schon bald beginnt Tobis Affäre mit einer jener Praktikantinnen, die noch eine »Handschrift mit Babyspeck« haben. Und die Krisis des Helden nimmt ihren Verlauf.

Das Geheimnis der Grafikerinnen

Bourdieu hat feine Unterschiede für das literarische Feld beschrieben, Bernard malt das Ganze für den jungen Beilagenjournalismus der 1990er aus und schildert eine Welt, in der es den »Speedtalk« und das Scannen der Textredakteure einerseits gibt, andererseits aber auch das Geheimnis der Grafikerinnen:

»Tobias bemerkte wieder einmal, dass es kaum eine andere Art von Mädchen gab, mit denen er sich im Reden so schwer tat wie mit Grafikerinnen. Sie waren immer sehr freundlich und sahen gut aus, doch Tobias hatte das Gefühl, dass ihre Zurückgenommenheit eine längere Unterhaltung fast unmöglich machte. (…) Alle Vorn-Grafikerinnen, die Tobias je kennengelernt hatte, ähnelten sich in einer merkwürdigen Trägheit, einer besonders sparsamen Dosierung der Gesten und Worte. Vielleicht waren professionelle Näherinnen vor 150 Jahren ähnlich gestimmt.« (S. 233/234)

Der langsame Niedergang beginnt mit Praktikantengenerationen, die »Praktikas« statt »Praktika« absolvieren (S. 101) und dem Merchandising, also der »schwarzen Umhängetasche mit gelbem Vorn-Schriftzug, die man seit kurzem über die Magazinadresse bestellen konnte.« (S. 229)

Mein letztes »jetzt«-Magazin, das allerletzte überhaupt, lag wieder mal keiner Auslandsauflage bei. Austin höchstpersönlich brachte es mir aus Deutschland vorbei, während es in München Sitzstreiks der Leser gab.
 


Listen-Archäologie (Teil 6):
Die Hitler-Titel des »Spiegel«

Berlin, 7. November 2010, 17:01 | von Marcuccio

Im letzten Raum der aktuellen Sonderausstellung des DHM haben sie eine ganze Wand mit »Spiegel«-Titeln tapeziert, sämtlichen bis 2009 publizierten 45 Heften mit Hitler auf dem Cover:

»Von dem ersten aus dem Jahr 1964 (›Anatomie eines Diktators‹) bis zu einem der aktuellsten von 2009 (›Die Komplizen‹) ist auch an ihnen der Wandel im Geschichtsbild zu erkennen.« (Spiegel 41/2010, S. 38)

Zum Teil entlarven sich die Titel auch selbst, wenn man sich mal an­schaut, wofür der berühmte »Teppichfresser« alles herhalten musste: Gefahren des Klonens? Hitler! (Nr. 10/1997)

Zwei Führer-Cover hintereinander gab’s trotz aller Dichte nur einmal, im Umfeld der Hitler-Tagebücher des »stern«: Nr. 18 (»Fund oder Fälschung?«) und 19/1983 (»Fälschung«).

Nr. 5/1964
Nr. 3/1966
Nr. 32/1966
Nr. 31/1967
Nr. 1/1969

Nr. 14/1973
Nr. 34/1977
Nr. 44/1979

Nr. 24/1981
Nr. 52/1982
Nr. 18/1983
Nr. 19/1983
Nr. 32/1986
Nr. 35/1987
Nr. 46/1988
Nr. 15/1989
Nr. 32/1989

Nr. 24/1991
Nr. 29/1992
Nr. 2/1994
Nr. 14/1995
Nr. 19/1995
Nr. 6/1996
Nr. 8/1996
Nr. 21/1996
Nr. 33/1996
Nr. 10/1997
Nr. 25/1997
Nr. 30/1997
Nr. 7/1998
Nr. 22/1998
Nr. 45/1998
Nr. 43/1999

Nr. 25/2000
Nr. 4/2001
Nr. 19/2001
Nr. 23/2002
Nr. 51/2002
Nr. 8/2004
Nr. 29/2004
Nr. 35/2004
Nr. 18/2005
Nr. 3/2008
Nr. 45/2008
Nr. 21/2009

(und Hitler-Titel Nr. 46, in der Ausstellung noch nicht mit dabei:)

Nr. 33/2010

Direkt über diese Titelbilder-Anordnung im DHM hätte man, wenn sie denn noch online wäre, die »Blattschuss«-Folge an die Wand beamen können, in der Oliver Gehrs die »Spiegel«-Verkaufskurve aufmalt und deren Peaks mit den Hitler-Titelbildern korreliert. (Diese Frage hatte ja damals auch das Hitler-Blog der taz umgetrieben.)

Außerdem aufschlussreich gewesen wäre eine Übersicht über alle einschlägigen Guido-Knopp-Sendetitel. Hitlers Hunde, Hitlers Blumen, Hitlers Witze usw. Auch da hatte man ja irgendwann den Überblick verloren.
 


Feuilleton und Pornografie (Reloaded)

Leipzig, 15. März 2010, 13:23 | von Paco

Ist jetzt schon eine Weile her (Juni/Juli 2008). Seitdem ist aber nichts sehr Erwähnenswertes hinzugekommen. Deshalb hier noch mal die damals vorgestellten sechs generischen Texte zum Thema:

Teil 1: Alexander Osang über Pornywood
Teil 2: Stephan Maus über die Venus-Messe 2003
Teil 3: Tobias Rapp über Pornpop
Teil 4: Ariadne von Schirach über die Generation Porno
Teil 5: Aaralyn Barra über den »Da Vinci Code«
Teil 6: Jens Friebe über Porn-Surfing

Ach ja, ich wollte dauernd noch etwas über den herrlichen Essay »Pornographic Coding« (2005) von Florian Cramer und Stewart Home schreiben. Das würde dann Teil 7 dieser Reihe werden. Die Notizen dazu hängen leider seit Jahren in meinem Draft-Verzeichnis fest und wandern immer weiter nach unten im Dringlichkeitsstapel. Mal sehen.


Oskar Lafontaine als Umblätterer

Konstanz, 5. September 2009, 09:49 | von Marcuccio

Das Praktische am Wahlkampf ist ja, dass jetzt wieder diese ganzen Interviews aus den Abgeordnetenbüros kommen, mit Fotos direkt vom Politikerschreibtisch. Uns von der Partei der Zeitungswähler interes­siert da natürlich vor allem, welches Presse-Portfolio so ausliegt. Lafontaine hat griffbereit:

Obenauf die Junge Welt
dann die taz,
erst dann Neues Deutschland,
und zuunterst die Süddeutsche.

Ob sich das Quartett nach Zeitungsformat, Weltanschauung oder Leseritual stapelt, haben die Regionalzeitungskorrespondenten leider nicht gefragt. Vorn auf dem Tisch übrigens ein Buch namens »Die Linke Versuchung«, rechts hinter Lafontaine, auf dem Regal, winkt Papst Benedikt von einem Foto.


Die Rezensionen

Paris, 23. August 2009, 09:30 | von Paco

Gestern, Samstag, haben alle Zeitungen ordnungsgemäß ihre Kritiken zum morgen erscheinenden Buchbuch der Saison gebracht. »Infinite Jest« von David Foster Wallace hat im amerikanischen Original 1.079 Seiten, in der deutschen Übersetzung »Unendlicher Spaß« nun 1.648 Seiten.

Und hier sind endlich auch die Längenangaben der Rezensionen:

TAZ: 8.384 Zeichen     (Ekkehard Knörer)
FR: 11.031 Zeichen     (Guido Graf)
NZZ: 14.652 Zeichen     (Angela Schader)
FAZ: 16.117 Zeichen     (Richard Kämmerlings)
SZ: 17.194 Zeichen     (Alex Rühle)

 


Schöner lesen

Konstanz, 25. April 2009, 09:01 | von Marcuccio

Unter der Hand entwickelt sich die taz zur führenden Zeitung für die Berichterstattung von und zu Lesungen. Immerhin war es auch ein Artikel der taz, der mich anno 2004 zu meinem ersten »Tropen«-Buch verführte.

Weiter war es die taz, die Walsers Krawatten-Kampagne unter die Lupe nahm, und auch gestern war es wieder die taz, die mit gleich zwei Genrestücken aus der Welt des gelesenen Buchs bestach. Programmatischer Titel: »Die Fans und die Kritiker«.

Zunächst Judith Luig über Jonathan Franzen: Na gut, der zu Anfang gezogene Vergleich »Die Lesung … beginnt wie ein Pop­konzert« ist ein Topos, von dem sich das Lesungsrezensionswesen langsam ruhig mal emanzipieren könnte – sollte! Aber der Schluss ist schon richtig, richtig gut, weil eben einfach wirklich Pop, und zwar ohne Konzert: »Fast hat man das Gefühl, man sei selbst ein bisschen lebendiger geworden, weil man ihn an diesem Abend erlebt hat.«

Dann »Alles über Alice« – Wiebke Porombka über Judith Hermann, deren »Gespenster«, wiewohl 2007 noch mal im Kino, auch schon wieder 6 Jahre her sind: »Sechs Jahre … in Literaturbetriebs­kreisen eine halbe Ewigkeit.« Jetzt, endlich bald, kommt das neue Buch, und deswegen, so Porombka plausibel, war’s auch »rappelvoll«, und zwar mit namhaften Kritikern:

»fast wäre es hier und da zu kleinen Handgreiflichkeiten gekommen, weil diejenigen, die nur noch auf den improvisierten Gartenstühlen, halb zwischen Gang, Bar und Tür geklemmt sitzen konnten, sich der freien Sicht auf die lang entbehrte Autorin beraubt sahen.«

Herrlich. Und ungemein treffend, witzig und richtig Judith Hermanns seit Stuckrad-Barres »Livealbum« ja auch nicht mehr so oft gelesene Bemerkung, sie müsse sich »für solche Gespräche erst wieder ein bisschen konditionieren«. Trainingsauftakt, erstes Testspiel für die jetzt anstehende »Alice«-Saison: 18 Spieltage gegen den gleichen Gegner (»Ist das autobiografisch?«), und Judith Hermann sucht noch nach ihrer Form. Das werde, will ich heute um 20:05 Uhr im DLF unbedingt nachhören.


Mit Pierre Bourdieu in Algerien

Konstanz, 2. März 2009, 14:10 | von Marcuccio

Oben Kaschmir, unten Sneakers: Die aparte Französin (gewiss keine Kolonialherrin) hat sich ein wenig in Rage geredet. Aus ihrer unverdächtigen Wortmeldung entwickelt sich gerade eine kleine (aber ob ihres Akzents doch noch gern gehörte) Suada: Warum der französische Kolonialismus in Afrika besser gewesen sei als der britische (ihr Sohn zur Zeit in Kenia) usw. usf.

Doch so harsch wie Madame jetzt von einer Hiesigen auf gut alemannisch gestoppt wird: »Entschuldigung, wir sind nicht wegen IHREM Vortrag hier, wir würden gern weiter dem jungen Mann zuhören.« Der junge Mann, das sehen wir ihm an, sortiert gerade im Kopf, was aus dieser Szene zum Thema Habitus zu sortieren ist. Und wir halten fest:

Pierre Bourdieus Algerien-Fotos in Konstanz – da begegnen sich sozusagen gleich zwei französische Ex-Besatzungszonen auf einmal.

Images d’Algerie. Une affinité élective

Bourdieus fotografische Feldforschung zeigt Zeugnisse der Entwurzelung: Was im alten Europa über Jahrhunderte, Generationen und Epochen Zeit hatte – im Algerien des Algerienkriegs geschieht es irgendwie alles gleichzeitig und gleichzeitig nicht. Zivilisatorischer Zeitraffer.

Die Bilder (allesamt um 1960) dokumentieren aber auch den Blick eines Wissenschaftlers, der während seiner Algerien-Jahre als Soldat, später Dozent ein persönliches Re-Modeling durchmacht: vom Philosophen zum Ethnologen zum Soziologen. Mein Lieblingsobjekt der Fotoserie deshalb die Straßenecke in Blida. Bourdieu hat sich einfach mal neben das Café d’Orient gestellt und ein paar Stunden lang feine Unterschiede geknipst. Von »Totalverhüllung« über »oben Bettlaken, unten nackte Beine« bis »Kopftuch – was ist das?« alles dabei. Auch bei den Mannen: Vom in der Work-Life-Ballance des Westens sichtlich verlorenen Kabylen bis zum zukünftigen Vater eines Zinedine Zidane alles dabei.

References:
taz (Patrick Eiden)
Auswahl der Bilder bei camera-austria.at [PDF]


Zeitungsgeburtstage 2008 (Teil 2):
30 Jahre »taz«

Konstanz, 21. Dezember 2008, 09:54 | von Marcuccio

Die taz ist in diesem Jahr endlich halb so alt geworden wie die jetzt 60-jährige WamS.

Aber: »Ist die taz überhaupt schon 30?« Das war die meistgestellte Frage zum Geburtstag, und sie wird wohl noch bis zum 17. April 2009 weiter gestellt werden. Nach dem, was man so hört, wollen die taz’ler dann eh noch mal feiern und die neue »sonntaz« starten.

Aber fürs Erste gab’s die üppige Sonderbeilage »30 Jahre. 30 Ereignisse« zum Feiern. Das Betriebsgeheimnis aus 30 Jahren taz lässt sich vielleicht am besten mit der Jahreslosung von 1995 begreifen: »Wie immer, wenn es brennt, lief die taz zur anständigen Form auf«.

Das galt für den Brent-Spar-Sommer ’95 offenbar genauso wie für Tschernobyl ’86. Die taz boomte offenbar immer dann, wenn weitaus mehr Leser als normal einen Grund hatten, sich alternativen Hintergrundinformationen zuzuwenden. Die Frage, ob es für eine wirtschaftlich florierende taz also öfters einen Super-GAU bräuchte, hat die Sonderbeilage dann aber nicht weiter vertieft.

Und noch zwei Highlights. Einmal die Gratulantendichte. »Bild«, »Spiegel«, »BP« – sie alle (und noch viel mehr) waren mit wirklich originellen Anzeigen am Start. Die brachten bestimmt auch ein bisschen Bares, wo man an der Rudi-Dutschke-Straße doch immer so chronisch klamm ist.

tazsächlich: Schon 30? Der SPIEGEL gratuliert! (Preview)

Und dann hatte die taz zu ihrem 30. echt mal schön dekoriert: So ein bisschen im Retro-Look der Deutschen Nationalbibliothek (formerly known as Deutsche Bibliothek), deren altes Logo ja tatsächlich auch aus diesen drei Streifen in den drei Farben bestand. Die Jubiläums-taz als Deutsche Nationalbibliothek auf Zeitungspapier. So mit 30 wirklich ein gut durchgezogener Marsch durch die Instanzen.