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Kultur „All das zu verlieren“

Die Geschichte von Adèle, Mitte 30, promisk

| Lesedauer: 7 Minuten
Leitung „Literarische Welt“
Leila Slimani Leila Slimani
Leila Slimani
Quelle: AFP/Getty Images
Niemand schreibt interessanter über die Abgründe unserer Zeit als die Goncourt-Preisträgerin Leila Slimani. In ihrem Roman „All das zu verlieren“ revolutioniert sie das weibliche Schreiben über Sexualität.

Gibt es das überhaupt: ein spezifisch weibliches Schreiben über die düsteren, dreckigen, brutalen Abgründe der Sexualität? Eigentlich ist die Frage ja absurd: Männer schreiben seit Jahrhunderten über die schillernden Dimensionen gewalttätiger Sexualität – Marquis de Sade, Georges Bataille, in jüngerer Zeit Michel Houellebecq auf eine eisig halbironische, Jonathan Littell auf splatterhaft bombastische Art; warum sollten Autorinnen also heute nicht Vergleichbares tun.

Und dennoch stellt sich die Frage nach dem, was eine weibliche Sex-und-Gewalt-Ästhetik in der Literatur ausmacht: Weil es eine Autorin gibt, die so von der Existenz und der ihr eigenen Einsamkeit schreibt, dass die Werke ihrer männlichen Kollegen im Vergleich etwas angestrengt, kalkuliert oder konventionell wirken. Diese Autorin ist Leila Slimani.

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„Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. Sobald sie die Augen schließt, hört sie die Geräusche: das Stöhnen, das Klatschen der Körper. Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur das Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlungen werden“.

Das Herz leichter, der Geist leer

Adèle ist Mitte 30, als sie das denkt. Ihr freundlich-biederer Ehemann Richard und der kleine Sohn schlafen in der stilvollen Wohnung, während sie unter der Dusche steht und sich daran erinnert, wie sie wieder einen Fremden getroffen hat, einen von den vielen, mit denen sie Sex hat. Warum, weiß sie selbst nicht genau, nur, dass es gut ist, erfüllend, wenn auf die Brutalität, eine Ohrfeige, ein heftiger Stoß, Angespucktwerden, nur kühle Distanz folgt. „Ihr Herz wird leichter, der Geist leer. Sie empfindet wieder etwas“.

Ruhelos läuft sie durch das ewig graue Paris bis sie den Nächsten findet, der sie kurz ihrer selbst enthebt, und wenn es nur ihr dicklicher Chef ist, der sie nach einer Feier auf den Konferenztisch wirft, um ihr angetrunken seinen mäßig harten Schwanz in den Mund zu schieben.

Später legt sie sich wieder neben ihren Ehemann, der selten und routiniert mit ihr schläft: „Es schien ihn nie zu kümmern, in welch tiefe Einsamkeit er seine Frau stürzt. Sie hat nichts empfunden, rein gar nichts. Sie hat nur schmatzende Geräusche gehört, von aneinander klebenden Oberkörpern, sich reibenden Genitalien. Und dann Stille“. Adèle wahrt nach außen die Fassade, innerlich ist sie immer schon fort, bei ihren Sehnsüchten und Fantasien.

Eingesperrt in den Verhältnissen

Es wäre also naheliegend, Leila Slimanis Roman „All das zu verlieren“ als eine postmoderne, wilde Variante von „Madame Bovary“ zu lesen: Eine Frau ist eingesperrt in den Verhältnissen, der Familie, der Ehe, einem durch enttäuschte Erwartungen fahl gewordenen Leben.

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Wie Emma wird Adèle im Laufe der Zeit immer unruhiger, wie Charles glaubt Richard zwanghaft an eine Krankheit seiner Frau, als er von ihren Sexgeschichten erfährt und das Zweithandy entdeckt, auf dem Hunderte Männernamen gespeichert sind, diejenigen, bei denen sich ein weiteres Mal lohnen würde.

Richard und Adèle ziehen also aufs Land wie die Bovarys, der verzweifelten Hoffnung des Mannes folgend, die Provinz würde die Versuchungen verschwinden lassen, wenn sie nur dröge und bieder genug ist; die Frau ist gefangen, ohne eingesperrt zu sein, nichts wird sich also ändern, im Fall von Emma nur der Tod.

„Nichts ist so gekommen“

Leila Slimani aber, 1981 in Marokko geboren, in Frankreich aufgewachsen und 2016 mit dem Prix Goncourt für den brillant-brutalen Bestsellerroman „Chanson douce“ (auf Deutsch: „Dann schlaf auch du“) ausgezeichnet, gesteht ihrer Figur mehr zu als der Realist Gustave Flaubert seiner Emma.

Leila Slimani 2016 nach dem Gewinn des Prix Goncourt
Leila Slimani 2016 nach dem Gewinn des des Prix Goncourt
Quelle: AFP/Getty Images

Dort wo Emma noch Romantik ersehnt und als Utopie fühlt, hat Adèle nichts mehr, keine Illusionen über sich und ihre Rolle in der Welt. Im Gegensatz zu ihren Bekannten sei sie keine Feministin, sagt sie, Selbstbestimmung sei ihr unwichtig, dass sie als Journalistin arbeiten muss, um Geld zu verdienen, ist ihr zuwider.

„Sie wäre so gern die Ehefrau eines reichen Mannes, der nie da ist. Zum großen Missfallen all der aufgebrachten Horden berufstätiger Frauen um sie herum hätte sie ihre Tage gern in einem großen Haus vertrödelt und sich mit nichts anderem beschäftigt, als schön zu sein, wenn ihr Gatte heimkam. Nichts ist so gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte“.

Suche nach dem Unbekannten

Adèle ist nicht der Typ Hausfrauentussi, eher eine Frau, die sich instinktiv geschickt verhält, im entscheidenden Moment fordernd, ansonsten irgendwo zwischen lakonisch und etwas devot. Sogar den Ausbruch in den Kontrollverlust von Sex und Gewalt hat sie lange Zeit unter Kontrolle.

Was für eine Heldin ist das, die Leila Slimani mit Adèle entwirft: Ist sie paradoxerweise vielleicht gerade eine feministische?

Der Weg einer Frau, die entschlossen ist, sich von den Einengungen um sie herum zu befreien, indem sie ihre Sexualität befreit, hat Tradition in der französischen Literatur: Mit besonderer Klarheit hat Catherine Millet in „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ diese Suche nach dem Unbekannten beschrieben, die nur auf den ersten Blick eine Suche nach schnellen Begegnungen auf Parkplätzen oder Orgien in Kunstszenewohnungen und darin eine existenzielle Selbstsuche beschreibt.

Geschichte eines Verschwindens

Virginie Despentes hat mit „Baise-moi“ die Splattervariante der weiblichen Befreiung geschrieben. Dezentere, verhülltere Spuren solcher Suchbewegungen finden sich auch in der Autofiktion von Annie Ernaux.

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Aber während bei Catherine Millet etwa der Sex die Protagonistin in einen hedonistischen Zustand der Hoffnung erhebt – jedes nächste Mal ist ein neuer Anfang –, erzählt Leila Slimani lakonisch, ruhig, die Geschichte der Selbsterkenntnis als Geschichte eines Verschwindens.

Nachdem Richard und Adèle aufs Land gezogen sind, holt sie das Kind ab, kocht, putzt, alle Verbindungen zu ihrem früheren Leben sind gekappt, ein blasser Alltag, Sex gibt es nicht mehr. Als Adèles Vater stirbt, fährt sie in den verhassten Heimatort. Sobald sie allein ist, stolpert sie in eine Bar, betrinkt sich, verliert sich zwischen Männern.

Das Beruhigendste im Leben

Als Richard sie am Tag darauf abholen will, sitzt sie nicht im verabredeten Zug, und auch im nächsten nicht. Sie ist verschwunden. Sich selbst finden kann diese Frau nur, indem sie geht. Richard denkt: „Es hört nicht auf, Adèle. Nein, es hört nicht auf. Liebe ist nichts als Geduld. Eine devote, ungeheure, tyrannische Geduld, eine unsinnig optimistische Geduld. Das mit uns ist noch nicht vorbei“.

Es ist das erste Mal, dass der Ausdruck Liebe fällt. Auch wenn manche der Sätze im Roman etwas überpudert wirken (und für ein so gegenwärtiges Buch zumindest in der deutschen Übersetzung merkwürdig altbacken-biedere Ausdrücke wie „Hahnrei“ und „Schwatzbase“ enthalten): Leila Slimani schafft es, Geduld als das Unerträglichste und gleichzeitig Beruhigendste im Leben erscheinen zu lassen, was es ja vielleicht auch ist.

Das eigentlich Besondere an „All das zu verlieren“ ist aber noch etwas anderes: Sexualität und ihre brutalen Abgründe sind weder ein kaputtes Vehikel zum Glück, ersehnt, aber nie wirklich bekommen wie bei Michel Houellebecq, oder ein Mittel zum Exzess wie bei Jonathan Littell, auch nicht der Weg zu einer mondänen Befreiung nach vorn wie bei Catherine Millet, sondern führen hinein in einen anderen Erkenntniszustand: den der Einsamkeit, der um so ersehnter ist, je weniger er sich ganz erfüllen lässt. Eine Frau bleibt immer mit jemand verbunden, und sei es in der Ambivalenz.

Leila Slimani hat über die Zerrissenheit von Frauen und ihr Aufbegehren in ihrer früheren Heimat Marokko in viel beachteten Essays geschrieben, auch „Chanson douce“ handelte von einer in ihrer vermeintlichen Sicherheit verzweifelnden Frau; „All das zu verlieren“ ist der Roman, der zeigt, dass es eben nichts zu verlieren gibt – außer sich selbst.

Leila Slimani: „All das zu verlieren. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand, 224 S., 22 €.

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