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Fritz J. Raddatz erklärt Abschied vom Journalismus

| Lesedauer: 4 Minuten
Einer der größten Feuilletonisten unserer Tage hört auf, weil er sich nicht mehr für zeitgemäß hält. „Welt“-Autor Fritz J. Raddatz, 83, erklärt den Abschied vom Journalismus – nach 62 Jahren.

Man kennt das Bild; so schmählich, so schmachvoll. Gealterte Schauspieler: Die Augen erloschen, haschen sie nach den spärlich applaudierenden Händen, der Rücken will sich nicht mehr beugen, doch man meint, sie leckten vom Bühnenboden noch den letzten fahlen Schein des ausblendenden Scheinwerferlichts auf.

Quälende Erinnerung an den herrlichen Theatermagier Minetti, der seinen Text vergessen hat. An die androgyne Celluloid-Fee Marlene Dietrich, die im schauerlichen „Gigolo“-Film eine Karikatur ihrer selbst bot und nur am einst berühmten Piano lehnend sich noch aufrecht halten konnte. Faltige Münder, die den allerletzten Beifall aufschlabbern. Aufhören zur rechten Zeit muss sehr schwer sein.

Das Besteck des Diagnostikers rostet

Und wir, die Schreiberlinge? Wir „Pressbengel“, wie Rudolf Augstein sich einmal selber nannte, indem er ein hintergründiges Spiel mit diesem Wort aus alten Druckerzeiten trieb? Zu zahlreich die Gedichte, die keinen lyrischen Atem mehr haben, die hurtig herunterdiktierten Artikel, die keinen Stil mehr haben, als dass es einem lustig zumute sein könnte.

Selbst ein Gigant wie Thomas Mann mochte sich und uns am Ende seines Lebens jene fatale Erzählung „Die Betrogene“ nicht ersparen. Ich kannte nur einen, der kühlen Herzens und bitterer Zunge sich einzugestehen vermochte „Ich habe mich überlebt“ – meinen mir so wichtigen Freund, den großartigen Maler, Grafiker und Bildhauer Paul Wunderlich. Wenig später war er tot.

Ich habe mich überlebt. Was heißt das für einen Autor, einen Literaturkritiker zumal? Es bedeutet: Meine ästhetischen Kriterien sind veraltet, das Besteck des Diagnostikers rostet, meine Gierfreude am Schönen der Kunst ist zu Asche geworden, der gefiederte Pegasus, mit dem ich durch Bild und Text galoppierte, lahmt. Diese Welt – in der ich mich durchaus noch kundig machen möchte – weicht von mir, gibt mir keine Kunde mehr; ich bin aus der Welt gefallen. Ihre Zeichen werden mehr und mehr zu Rätseln – unlösbar oft, abstoßend nicht selten, sind meiner Lebensart, meinem Habitus, meinem – Pardon für das harte Wort – Geschmack ungemäß.

Legende, Denkmal, Ikone

Ich bin nicht mehr zeitgemäß. Ergo sollte ich nicht weiterhin richten noch rechten noch urteilen; wer urteilt, gibt ja zumindest vor, Bescheid zu wissen; und wer nicht mehr Bescheid weiß, soll sich bescheiden. Wer nicht unersättlich ist, hat in diesem Beruf nichts zu suchen (und findet nichts). Aber wer satt ist, der kostet nicht mehr, schmeckt gar nichts.

Für Literatur, Literaturkritik bedeutet das eher Rülpsen als Gaumengenuss; en bref: Die große Gier nach Schönheit verkommt zu Beliebigkeit. Schönheit ist nicht behaglich. Man muss kein Montaigne sein, auch kein Proust, um zu wissen: Schönheit ist so bedrohlich, so verschlingend wie das Meer. Der Wellen, Gischt und Brandung nicht mehr gewachsen ist, der soll nicht hinausschwimmen ins Unheimliche, soll nur mehr ferner, gar unbeteiligter Beobachter sein.

Jede Zeit hat ihre Zeit. Will sagen: Man soll nicht – ich will nicht – der vergehenden Zeit hinterherlaufen. Wer noch ein wenig Verstand im Kopf hat, muss wissen, wann er vieu jeu ist. „Sie sind eine Legende“, höre ich oft, gelegentlich heißt das auch „ein Denkmal“ oder „eine Ikone“ – gemeinhin Phänomene, die mit der Gegenwart nichts zu tun haben, einzuordnen etwa zwischen Nibelungenlied und dem Bismarck-Monument hoch über dem Hamburger Hafen. Weit weg. Wer das sagt – mag sein: gar wohlwollend –, hat recht. „Vorbei, verweht, nie wieder“, intonierte der Klassiker.

Die Grenze des Erlebens

Alles Leben hat seine Grenze. Alles Erleben auch. Wem die Töne seiner Gegenwart nur mehr Geräusche sind, die Farben Kleckse, die Wörter klingende Schelle: Wo wäre dessen Legitimation zu lautem Klagelied (oder, sehr selten, leisem Lobpreis)? Ich spreche sie mir ab, fürderhin. Zu viele Gedichte sind mir nur mehr halbgebildetes Geplinker, zu viele gepriesene Romane nur mehr preiswerter Schotter. Der nicht mehr liebt, der räsoniere nicht. Liebeleere ist keine Qualität. Schon gar nicht für einen Kunstrichter.

Also beende ich hiermit meine Zeitungsarbeit, die ich mit 21 Jahren begann: die als Literaturkritiker, die als kommentierender Journalist – nicht ohne indes den Dank an meine Leser zu vergessen. Ich bin vor drei Wochen 83 geworden. Time to say goodbye. Goodbye.

(Lesetipp: 10 Jahre alt, trotzdem spannend. Ein ausführliches Interview, das Bettina Röhl mit Raddatz für die „Netzeitung“ führte.)

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