Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in den sechziger Jahren, wurde Musil endlich anerkannt und sehr bald auch berühmt. Es erschienen mehrere nützliche Taschenbuchausgaben und eine beträchtliche Anzahl nicht immer nützlicher wissenschaftlicher Arbeiten, die aus der Feder einiger überaus eifriger und fleißiger Germanisten stammten. Doch zum Interesse an Musil hat nicht unbedingt das bald schon beängstigende Anwachsen der Sekundärliteratur beigetragen. Eine große Rolle spielten hier zwei eher nichtliterarische Umstände: ein Film und ein kleiner Skandal.
1965 machte der Film "Der junge Törless" zum ersten Mal das breite Publikum mit einem Werk Musils vertraut. Das war eine verdienstvolle Tat, zumal der Regisseur Volker Schlöndorff die wesentlichen Elemente der literarischen Vorlage beibehalten und vorzüglich ins Visuelle übertragen hat. Manche Motive - vor allem die sadistischen, die präfaschistischen Züge - wurden auf unaufdringlich-einleuchtende, auf suggestive Weise augenscheinlich. Dieser Verfilmung, die übrigens weder verblasst noch überholt ist, verdankte Musils Erstling Zehntausende neuer Leser: Der "Törless" gehörte jahrelang zu den meistgelesenen Büchern der deutschen Literatur aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Im Jahre 1968 geriet der Name Musil abermals, wenn auch nur für kurze Zeit, in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Angelegenheit hatte einen ungewöhnlichen Grund: Ein Lausbubenstreich richtete einige Aufregung an und verhalf der literarischen Welt, ohne dass dies ernsthaft beabsichtigt worden wäre, zu überraschenden Einsichten in Sachen Musil. Freilich waren die Lausbuben intelligente und witzige Leute und von Beruf Redakteure der satirischen Zeitschrift "Pardon".
Diese munteren Herren unterschiedlichen Alters kamen auf eine originelle Idee: Sie verschickten an 14 bekannte Schriftsteller, Kritiker und Literaturwissenschaftler, darunter zwei prominente Professoren der Germanistik, sowie an 32 deutsche, österreichische und Schweizer Verlage ein Manuskript von acht Maschinenseiten. Es handelte sich um einen Auszug aus einem umfangreichen Roman. An ihm habe der Absender, ein "Technischer Abteilungsleiter", seit Jahren in seiner Freizeit gearbeitet. Dies behauptete er jedenfalls in seinem Brief, in dem er die Adressaten höflichst um die Beurteilung des Manuskripts bat.
"Pardon" erhielt 36 Antworten. Nun stammte aber der verschickte Text aus dem "Mann ohne Eigenschaften" - und es waren nicht etwa periphere oder atypische Szenen. Die Vornamen der auftretenden Personen hatte die Redaktion ausgetauscht, sonst aber nur zwei oder drei Kleinigkeiten geändert, weil sie allzu deutlich auf die tatsächliche Zeit der Entstehung dieser Prosa verwiesen. Hier einige Absätze aus dem verschickten Text:
"Gerda fühlte die Männlichkeit, die aus diesem Arm auf sie wirkte, den Rücken hinab; sie hatte den Kopf gesenkt und blickte eigensinnig in ihren Schoß, als hielte sie dort wie in einer Schürze die Gedanken beisammen, durch deren Hilfe sie mit Ulrich ,menschlich zusammenfinden' wolle, ehe das geschehen dürfe, was erst die Krönung sein sollte; aber es kam ihr vor, dass ihr Gesicht immer blöder und leerer werde, und wie eine leere Schale schwebte es schließlich empor und lag mit den Augen unter den Augen des Verführers...
Sie suchte nach Worten um zu sagen, dass sie keinen Vorteil wolle, sondern nur sich schenken; diese Worte fand sie nicht, sagte zu sich: ,Es muss sein!' und öffnete den Kragen ihres Kleides.
Ulrich hatte sie losgelassen; er brachte es nicht über sich, den zarten Beistand der Liebe beim Entkleiden zu leisten... Sie sah sich einen Augenblick lang mit ihm in einem grenzenlosen Feld von Kerzen stehen, die wie Reihen Stiefmütterchen im Boden staken und auf ein einziges Zeichen zu ihren Füßen aufflammten ... Ihr Arme zitterten, sie war nicht imstande, sich zu Ende zu entkleiden, und ihre blutlosen Lippen schlossen sich fest aneinander, um nicht unheimlich wortleere Bewegungen auszuführen. Bei diesem Stand der Dinge trat Ulrich, der ihre Qual und die Gefahr bemerkte, dass alles zunichte werden könnte, das mit so viel Überwindung bis hierher gefördert worden war, auf sie zu und löste ihr Achselband."
Kein einziger der 36 Adressaten, die auf die Zusendung der Manuskriptprobe reagierten, hat Robert Musil als Autor dieses Texts erkannt. In den meisten Antworten wurde die Arbeit entschieden abgelehnt - in der Regel mit höhnischen und entrüsteten, mit vernichtenden Bemerkungen. Beanstandet wurden vor allem die falsche Sentimentalität und die "primitive Ausdrucksweise". Das sei, liest man in einem der Antwortbriefe, das "Niveau eines üblichen Unterhaltungsromans ohne Anspruch". Auch der Rowohlt Verlag, bei dem der "Mann ohne Eigenschaften" erschienen war (der erste Band 1931, der zweite 1933, die erste Nachkriegsausgabe 1952) und in den folgenden Jahren mehrfach neu gedruckt wurde, wollte von der ihm zugeschickten Romanprobe nichts wissen.
Diese, man wird zugeben, erstaunlichen 36 Briefe lassen die Redaktion der Zeitschrift "Pardon" eine naheliegende Frage stellen: "Sollte Musil 1931 und 1952 von allen überschätzt worden sein? Sollte die jüngste Kritik berechtigter sein als das frühere Lob?" Nun wird niemand zu behaupten wagen, wir hätten es hier mit guter Prosa zu tun. Im Gegenteil: Dem Verlagslektor, der ohne Umstände schrieb, dieser Text eines unbekannten Autors "grenze an Kitsch", lässt sich nicht widersprechen.
Die Kommentatoren der großen Zeitungen waren empört. Aber nicht etwa über die Qualität der beiden von der Redaktion miteinander verbundenen Kapitel aus dem "Mann ohne Eigenschaften", vielmehr versuchten sie jene Kollegen zu rechtfertigen, die Musils Prosa nicht identifiziert und hochmütig verworfen hatten. Ja, sie gingen so weit, sie zu verteidigen. Der Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Karl Heinz Bohrer, meinte allen Ernstes, es herrsche in diesem Text "jene fremd gewordene und befremdende Mischung von knabenhafter Enthaltsamkeit und geistiger Überspanntheit, zusammen einen mystischen Zustand erreichend". Er spricht - und zwar ganz ohne Ironie - von Formulierungen, "die man erst dann schön findet, wenn man weiß, dass es sich um Musils Prosa handelt".
Entwaffnend ist auch der Kommentar von Dieter E. Zimmer, der damals Literaturchef der "Zeit" war. Er zeigte sich beleidigt und gekränkt, er behauptete, "dass eine Romanepisode für sich etwas anderes ist als im Zusammenhang; dass sich Romane also nicht beliebig zerstückeln lassen". Das ist einerseits banal und andererseits verfehlt. Natürlich kann jede Romanepisode auch eine Funktion haben, die sich nur begreifen lässt, wenn man das Ganze kennt. Ferner: Auch hervorragenden Schriftstellern können in Ausnahmefällen peinliche Sätze unterlaufen oder vielleicht sogar einzelne Passagen verunglücken. Doch Episoden im Umfang von einigen Seiten, die sich unzweifelhaft der Kitschzone nähern, gibt es bei solchen Autoren niemals: weder bei Thomas Mann oder Kafka noch bei Schnitzler oder Joseph Roth - und auch nicht beim jungen Musil, wohl aber (und keineswegs selten) im "Mann ohne Eigenschaften".
Sprachliche Entgleisungen, Stilblüten finden sich in diesem Roman immer wieder, in erzählenden ebenso wie in journalistischen oder philosophischen Abschnitten, übrigens besonders häufig, wenn von Frauen die Rede ist. Hier einige kurze Beispiele ohne Kommentar. Sie stammen nicht etwa aus den Nachlassteilen des Romans, sondern allesamt aus dem ersten, von Musil selber zur Veröffentlichung freigegebenen Band: "Ein kleines Stubenmädchen mit träumerischen Augen begleitete ihn. Im Dunkel des Vorzimmers waren ihre Augen wie ein schwarzer Schmetterling gewesen, als sie zum erstenmal an ihm emporflatterten; jetzt beim Fortgehen sanken sie durch das Dunkel wie schwarze Schneeflocken." - "Er musste sich bemühen, ihr Bild rasch wieder auf die selige Gewissheit des Irgendwo-für-ihn-da-Seins einer großen Geliebten zu ermäßigen." - "Ulrich fühlte zuweilen mit aller Eindringlichkeit, dass Diotima sehr schön sei. Sie kam ihm dann wie ein junges, hohes, volles Rind von guter Rasse vor, sicher wandelnd und mit tiefem Blick die trockenen Gräser betrachtend, die es ausrupfte... Die berühmte Gattin des vielberaunten Sektionschefs Tuzzi verflüchtigte sich sodann aus ihrem Körper, und es blieb nur dieser selbst übrig wie ein Traum, der samt Polster, Bett und Träumendem zu einer weißen Wolke wird, die mit ihrer Zärtlichkeit ganz allein auf der Welt ist."
Warum beschäftigen sich Kritik und Literaturwissenschaft so gut wie nie mit Musils Stil? Warum geht man fast ausschließlich auf die inhaltlichen Elemente im "Mann ohne Eigenschaften" ein? Warum musste sich erst eine satirische Zeitschrift dieser Sache annehmen? Deren letztlich sehr verdienstvolle Aktion hat bewiesen, dass der "Mann ohne Eigenschaften" ein Werk ist, das zwar immer wieder respektvoll erwähnt und bisweilen ausgiebig gelobt, doch nicht gelesen wird. Ein Roman, so berühmt wie unbekannt. Liegt das am Werk selber? Nicht nur. Der gigantische Roman stellt außergewöhnliche Ansprüche an die Geduld und die Konzentrationsfähigkeit der Leser. Nun ja, Musil ist schon ein schwieriger Schriftsteller. Nur wurde der Zugang zu seinem Hauptwerk noch zusätzlich erschwert. Wo sind die Missetäter zu finden?
Im Laufe der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat sich eine kleine, aber rührige, eine weltweite und auf ihre Weise sehr tüchtige Industrie entwickelt: die Robert-Musil-Industrie. Ähnliche Industriezweige gab es schon vorher und gibt es immer noch. Sie beschäftigen sich mit Thomas Mann, mit Kafka oder Brecht. Die Angehörigen auch dieser Industriezweige werden nicht müde, ihre Helden auf möglichst hohen Sockeln unterzubringen. Aber sie sind doch toleranter als die Musil-Forschung, die hartnäckig dem Grundsatz huldigt: "Du sollst keine anderen Götter haben neben mir."
Wenn man manche dieser literaturwissenschaftlichen Arbeiten liest, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Autoren das Vorzügliche, das es in Musils Prosa doch auch gibt, überhaupt nicht spüren und das Unerträgliche, an dem es im "Mann ohne Eigenschaften" ebenfalls nicht mangelt, konsequent übersehen. So wurde der Roman allmählich mit Stacheldraht umgeben, oder doch mit einem Verteidigungswall, auf dem hier und da sogar eine kleine österreichische Fahne weht. Steht Musils Werk unter Denkmalschutz?
Der "Mann ohne Eigenschaften" gleicht - das lässt sich nicht verschweigen - einer Wüste mit schönen Oasen. Die Wanderung von einer Oase zur nächsten ist bisweilen qualvoll. Wer nicht Masochist ist, der muss früher oder später kapitulieren. Was also tun? Diese Frage stellte ich am 6.November 1980, dem hundertsten Geburtstag Musils, in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Wir sollten uns - meinte ich damals - nicht damit abfinden, dass es den Roman nur in der 1978 erschienenen und nach Ansicht vieler Spezialisten von Adolf Frisé mustergültig betreuten Neuausgabe gibt. Die Edition umfasst 2172 Seiten und mag für die Wissenschaft von großer Bedeutung sein. Doch könne sie, schrieb ich, dem Roman schwerlich neue Leser gewinnen. Es sei aber durchaus möglich, Musils Hauptwerk aus seiner Verbannung in die Oberseminare zu erlösen. Nur müsse man den Mut haben, die wichtigsten Episoden und Szenen auszuwählen und in einem Band von etwa 400 bis 500 Seiten zusammenzustellen. Dies, glaubte ich, sei der einzige Weg, das riesige Fragment vom Musealen zu befreien. Der Artikel endete mit einem Aufruf: "Rettet den ,Mann ohne Eigenschaften'." Neun deutsche Schriftsteller - Romanciers und Essayisten - wurden gebeten, sich zu dieser Frage und dem Vorschlag zu äußern: Manfred Bieler, Horst Bienek, Günter Blöcker, Hermann Burger, Peter Härtling, Walter Jens, Wolfgang Koeppen, Siegfried Lenz und Golo Mann.
Wolfgang Koeppen vergleicht den Roman mit einem erschreckenden Gebirge und spricht von "langweiligen Strecken". Aber eine gekürzte Ausgabe oder eine Auswahl sei kein guter Weg, sei eine "Verletzung der Dichtung". Günter Blöcker spricht zwar von einem "Zettelwerk, in das der mächtige Torso ausläuft", hält aber das Buch für einen Lebensbegleiter, den man "per Querschnitt oder in Gestalt einer Blütenlese" nicht haben könne. Etwas wirr ist die Antwort von Walter Jens: Ein "auf Lesbarkeit getrimmter ,Mann ohne Eigenschaften'" sei "eine Schreckensgestalt". Er protestiert gegen ein "Lesebuch", um am Ende eben doch ein Lesebuch, eine rigoros gekürzte Ausgabe, zu empfehlen, nämlich eine mit einem verbindenden Text versehene Collage des zentralen erotischen Handlungsstrangs - Titel: "Ulrich und Agathe". Siegfried Lenz berichtet, er habe vor einem Vierteljahrhundert nach der Lektüre von etwa einem Drittel der damals erhältlichen Ausgabe, Umfang rund 1600 Seiten, "schlechten Gewissens" kapituliert, sei aber auf jeden Fall, also ohne das Ganze zu kennen, gegen das vorgeschlagene Lesebuch. Horst Bienek gibt zu, den Roman nicht bis zum Ende gelesen zu haben und vermutet, dass dies außer einigen "Berufs-Musilianern" niemandem gelungen sei. Doch von einer gekürzten Ausgabe will auch er nichts hören. Peter Härtling möchte den "Mann ohne Eigenschaften" auf die 1952 erschienenen Teile, rund 1040 Seiten, reduzieren. Manfred Bieler schlägt eine Kompromisslösung vor: Man solle den Roman nicht kürzen, sondern eine Ausgabe von rund 800 Seiten veranstalten - das erste Buch und einen Teil des zweiten. Hermann Burger meint ebenfalls, das Großfragment dürfe man nicht kürzen, befürwortet aber eine Taschenbuchausgabe mit zehn bis fünfzehn Bänden.
Ganz anders als diese acht Autoren urteilt Golo Mann: Er ist überzeugt, Musil sei für die Leser einstweilen "ein großer Name, ein Mythos, an den man glaubt, ohne Genaueres zu wissen". Er hat keine Bedenken gegen eine gekürzte Ausgabe oder gegen die Präsentation einzelner Stücke. Der "Mann ohne Eigenschaften" sei ein "gewaltiger Steinbruch" und "gerade ein solches Werk" eigne sich für Auszüge.
Und schließlich habe ich den Rowohlt-Verlag, bei dem eine eventuelle gekürzte Ausgabe erscheinen würde, um eine Stellungnahme zu den verschiedenen Vorschlägen gebeten. Der Verlag, der noch nie eine Anfrage der "Frankfurter Allgemeinen" unbeantwortet gelassen hatte, hielt es in diesem Fall für richtig, sich in Schweigen zu hüllen. Fürchtete man etwa die Musil-Experten?
Kurz und gut, es hat sich nichts geändert: Der "Mann ohne Eigenschaften", erwähnt und gelobt, wenn auch immer seltener, bleibt für das Publikum unzugänglich. Nur ältere Zeitgenossen beteuern, das Buch zu kennen, und rühmen es sofort. Aber ein Gespräch mit ihnen ergibt nichts, denn ihre Lektüre liegt 30 oder 40 Jahre zurück - wenn nicht noch länger.
Es stellt sich heraus, dass die Zahl der Bewunderer des Musilschen Romans um ein Vielfaches die Zahl seiner Leser übersteigt.
Und die strengen Damen und Herren, die das Thema Musil an sich gerissen haben, zeichnen sich nicht unbedingt durch Toleranz aus: Wenn es um ihren Meister geht, dulden sie keine Kritik und keinen Spaß. In einem Bericht über eine Tagung der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft, die im Juni 2001 in Saarbrücken stattfand, schreibt der Germanist Wolfgang Schneider, es sei in letzter Zeit "auffallend ruhig" um Musil geworden. Doch für die Musil-Experten sei nach wie vor nur eins umstritten: "Ist Musil der größte Autor der Welt, der größte des deutschen Sprachraums - oder nur der größte Österreichs?"
Auch eine andere Frage ist in dieser Gesellschaft sehr beliebt: Entspricht der Rang Musils dem von Marcel Proust und James Joyce, von Franz Kafka und Thomas Mann? Oder ist es nicht eher so, dass er sie, bei Lichte besehen, allesamt übertrifft? Denn diese Experten lieben es, über Musil kniend zu sprechen, was der kritischen Betrachtung des Gegenstands nicht gerade förderlich ist. Als sich ein amerikanischer Wissenschaftler auf dieser Tagung in Saarbrücken erlaubte, auf gewisse Fragwürdigkeiten in Musils Werk aufmerksam zu machen, war man schweigend empört: Niemand ist auch nur mit einem Sätzchen auf seine Darlegungen eingegangen.
Zu den wichtigsten Publikationen über Musil gehört Eckhard Heftrichs 1986 erschienene Monographie. Der vor allem als Thomas-Mann-Forscher bekannte Germanist untersuchte sein Thema mit frischem Blick. Er erinnerte daran, dass vielen Interpreten zufolge der "Mann ohne Eigenschaften" schon von seiner Konzeption her unvollendet bleiben musste: Doch sähen die meisten darin "eher ein Zeichen für die überragende Stellung dieses Autors in der Literatur unseres Jahrhunderts. So wird Musils größte Not in seine größte Tugend umgedeutet."
Da Heftrich natürlich wusste, dass diese These für die Musil-Forscher nicht akzeptabel war, hat er vorsichtshalber gewarnt: "Man sollte doch nicht so weit gehen, einen Zweifel an solcher Verklärung als Unverständnis oder gar als Sakrileg abzutun." Und: "Skepsis muss auch Musil gegenüber erlaubt sein." In der Tat möchten manche Musil-Interpreten das "methodische Zweifeln an allem", das zumindest seit Descartes nicht in Frage gestellt wird, für Musil außer Kraft setzen. Heftrichs Überlegungen wurden von ihnen konsequent ignoriert, wenn nicht als Skandal empfunden. Zu den vielen Musil gewidmeten Tagungen, Symposien und Colloquien hat man Heftrich nicht eingeladen.
Ursprünglich, also in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, hatte Musil eine mehr oder weniger stilisierte Autobiographie geplant. Daraus entwickelte sich sehr bald ein anderes Vorhaben: ein Roman über das Leben eines Mannes, der zunächst den symbolischen Namen "Anders" haben sollte, dann jedoch Ulrich genannt wurde. Natürlich sollte es ein autobiographisch geprägter Roman werden. Das Ganze war wohl von vornherein als ein groß angelegter Abgesang gedacht - ein Abgesang auf das habsburgische Österreich, das beispielhaft für die moderne Gesellschaft sein sollte. "Das wahre Österreich" - lässt Musil eine Figur im "Mann ohne Eigenschaften" erklären - "sei die ganze Welt", es ist sogar die Rede von einem "Weltösterreich". Österreich also als pars pro toto? Gewiss, nur hatte Musil ungleich mehr im Sinn. In einem etwa 1938 geschriebenen "curriculum vitae" sagte er über seinen Roman: "Unter dem Vorwand, das letzte Lebensjahr Österreichs zu beschreiben, werden die Sinnfragen der Existenz des modernen Menschen darin aufgeworfen und in einer ganz neuartigen, aber sowohl leicht-ironischen wie philosophisch-tiefen Weise beantwortet."
Im Unterschied zu anderen Romanen aus dieser Zeit - vom "Zauberberg" und "Prozess" über "Berlin Alexanderplatz" und "Radetzkymarsch" bis zum "Siebten Kreuz" - muss der "Mann ohne Eigenschaften" ohne eine deutlich umrissene, klar erkennbare Hauptfigur auskommen. Und Ulrich? Über seine Person werden wir von Musil innerhalb des Romans bei verschiedenen Gelegenheiten unterrichtet - und durchaus nicht knapp. Aufschlussreich ist vor allem ein Gespräch über ihn, das Walter und Clarisse führen. Ulrich sei - erfahren wir da - "ein Mann ohne Eigenschaften". Befragt, was das denn sei, antwortet Walter: "Nichts. Eben nichts ist das!" Weiter heißt es: "Er kann boxen. Er ist begabt, willenskräftig, vorurteilslos, mutig, ausdauernd, draufgängerisch, besonnen - ich will das gar nicht im einzelnen prüfen, er mag alle diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht!" Ulrich selber muss sich eingestehen, "dass er ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben".
Die vielen Möglichkeiten, die Ulrich in sich birgt und wieder nicht in sich birgt, haben, versteht sich, mit der Konzeption des Romans zu tun. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass Ulrich, mag er streckenweise ein Selbstporträt des Autors sein oder sich einem solchen nähern, doch nur eine Abstraktion ist und bleibt, letztlich ein Name, dessen sich Musil bedient, wie es ihm gerade passt. So delegiert er seine Gedanken und Gefühle an diesen Namen, seine Konflikte und Komplexe, seine Hoffnungen und Befürchtungen. Alles, was er im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, die die Arbeit an dem Roman in Anspruch nahm, mitteilen oder zeigen wollte, alles, was ihm einfiel, wird ohne Pardon Ulrich zugewiesen. Und obwohl Ulrich kein Schriftsteller ist, muss er sogar über die Aufgaben und Grenzen der Literatur meditieren und an der Beschreibbarkeit der Welt zweifeln.
Auf einen Handlungsrahmen oder ein Motiv im Mittelpunkt wollte Musil nicht verzichten. Da er einen Querschnitt der österreichischen Gesellschaft unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs anstrebte, ihm aber einen Querschnitt auch der reichsdeutschen Gesellschaft gegenüberstellen wollte, erfand er zwei gleichzeitig stattfindende Aktionen, eine in Wien und die andere in Berlin. Dort wird für das Jahr 1918 ein Regierungsjubiläum Wilhelms II. vorbereitet. Dem soll das ebenfalls 1918 stattfindende Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs I. entsprechen, wobei unbedingt zu verhindern sei, dass die österreichischen Feierlichkeiten etwa in den Schatten der deutschen geraten - das wäre "wieder einmal ein Königgrätz".
Die Wiener patriotische Aktion, "eine hochpatriotische Angelegenheit" und eine "große vaterländische Aktion", müsse somit - das ist ihre "krönende Idee" - "mit den Mitteln eines ganzen Reichs und vor den aufmerksamen Augen der Welt etwas verwirklichen... das die österreichische Kultur in ihrem innersten Wesen zeigen sollte". Damit sind nicht nur Aufgabe und Ziel der "Parallelaktion" formuliert, sondern auch und vor allem das zentrale Thema des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften". Beide Aktionen verbindet die gleiche ironische Pointe: Im angepeilten Jahr 1918 werden beide Reiche zusammenbrechen. Die Feierlichkeiten, von denen soviel die Rede ist, könnten eventuell dennoch veranstaltet werden - nur wären statt historischer Triumphe nationale Beisetzungen zu begehen.
So liegt dem Roman ein origineller Einfall zugrunde, ein skurriles Gedankenspiel, dem man ein gewisses Format nicht absprechen kann. Als Achse und Mittelpunkt eines humoristischen oder satirischen Romans mag ein derartiges Gedankenspiel gut geeignet sein, auch wenn es sich von einem Hauch von Albernheit schwerlich freisprechen lässt.
Marcel Reich-Ranickis Text ist ein Vorabdruck aus seinem Band "Sieben Wegbereiter. Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts" (DVA, München. 250 S., 19,90 e), der kommende Woche in den Buchläden liegt.