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DIE WELT

Der Superstar, der aus der Höhle kam

| Lesedauer: 7 Minuten
Die Erfolgsgeschichte des türkischen Entertainers Ibrahim Tatlises, genannt Ibo, ist noch phantastischer als die Märchen aus Tausendundeiner Nacht

Von LUCIAN ALUPEI


Seine Lieder, seine Shows, seine Filme - alles, was Ibo macht, lieben die Türken zwischen Ankara und Berlin. Am 4. Juni soll er auch einem breiteren deutschen Fernsehpublikum ein Begriff werden: Dann tritt er in der "Harald Schmidt Show" (Sat 1) auf. Istanbul - Irgendwie scheint alles eine Show zu sein für den Mann mit dem großen Schnauzbart, selbst wenn es um Leben oder Tod geht. Als Ibo in der vergangenen Woche eines Nachts im metallic-blauen Mercedes 500 die Istanbuler MTV-Musikstudios verließ, wartete vor der Einfahrt schon ein Killer auf ihn. Ohne Vorwarnung schoß er mit einer Pump-gun auf das Auto. Ibo blieb unverletzt, der Killer flüchtete unerkannt. Tags drauf verkündete Ibo im Fernsehen in seinem typisch proletarischen Jargon: "Leute, denen hab' ich's gezeigt - ich hab' voll Gas gegeben . . ." Zwar hatte er gerade erst einen Mordanschlag überlebt, den zweiten schon nach 1990 - aber Show muß sein. Die Erfolgsgeschichte des Ibrahim Tatlises, der von den Türken liebevoll Ibo genannt wird, kann leicht mit den Märchen aus Tausendundeiner Nacht mithalten. Der Künstlername Tatlises bedeutet "süße Stimme", und mit deren Hilfe hält Ibo derzeit - wieder mal - die Nummer eins in den türkischen Top ten. Bis heute hat er 23 Musikkassetten aufgenommen; seine allererste Produktion aus dem Jahr 1977 mit dem Titel "Ayginda Kundura" ("Die Schuhe an meinen Füßen") ist längst zu einem Kapitel türkischer Kulturgeschichte geworden. Als Moderator der "Ibo Show" im Privatkanal atv verbucht er Woche für Woche traumhafte Einschaltquoten, er ist Hauptdarsteller der TV-Vorabendserie "Firat", und er drehte bereits mehrere Dutzend Kinofilme. Und nicht zuletzt herrscht er über ein weitverzweigtes Firmenimperium. In einer Höhle soll Ibrahim am Neujahrstag 1952 im anatolischen Urfa zur Welt gekommen sein - weil die bitterarme Familie kein Haus besaß, so die Legende, mußte die Mutter selbst bei der Entbindung mit dem Provisorium vorliebnehmen. In den Folgejahren verdient der Vater den Unterhalt für seine acht Kinder mühsam als fliegender Bratbudenhändler. Ibrahim hat wie seine Geschwister keine Chance, eine Schule zu besuchen. Schon mit sieben Jahren schuftet er auf dem Bau. Der Vater stirbt früh. Ibrahim zieht in fremde Städte, um als Gelegenheitsarbeiter die kranke Mutter daheim ernähren zu können. 1975 - er ist inzwischen 23 Jahre alt - schlägt seine Schicksalsstunde. "Zufällig kam ein Nachtklubbesitzer an Ibos damaliger Baustelle vorbei", heißt es in der Vita, "und er hörte, wie Ibo mit seiner phantastischen Stimme beim Steineklopfen ein Lied sang." Der Nachtklubbesitzer engagiert den jungen Mann für einen Auftritt im anatolischen Elazig. Dies ist der Start für den raketenhaften Aufstieg bis in die Bosporusmetropole Istanbul. Es ist nicht unüblich, daß türkische Künstler sich den Lebenslauf im nachhinein so zurechtbiegen, wie er zu Karriere und Image paßt. Was auch immer bei Tatlises Wahrheit ist und was Erfindung - fest steht jedenfalls, daß Ibo als der türkische Superstar gilt. Er ist die Nummer eins der Musikrichtung Arabesk und schlechthin ihre Inkarnation. Das Arabesk begann seinen Erfolgszug durch die Türkei mit Beginn der Landflucht in den sechziger Jahren, Thema ist - in ungezählten Variationen - die Geschichte vom armen anatolischen Bauernjungen, der von der Heimat in die Großstadt zieht: Besungen wird die immerwährende Hoffnung auf den Erfolg in der Fremde einerseits, die Sehnsucht nach der heimatlichen Scholle und der jungfräulichen Geliebten auf der anderen Seite. Es geht stets auch um die Tragik des Lebens, um die Gefahr zu scheitern. Arabesk-Lieder wie die von Ibo handeln von Schicksalsergebenheit, unerfüllten Träumen oder alkoholschwangeren Trinkgelagen beim "dertlesmek", dem Austausch von Kummer mit Freunden, denen es auch nicht bessergeht. Obwohl es mit Interpreten wie Bülent Ersoy, Orhan Gencebay, Ferdi Tayfun oder Müslüm Gürses mindestens genauso stimm- und textgewaltige, wenn nicht sogar bessere Vertreter des Arabesk gibt, hat sich Ibo an allen vorbei ganz nach vorn geschoben. Das liegt zwar auch an seinem perfekten Public-Relations-Konzept, aber vor allem daran, daß ihm die Türken mehr als jedem anderen abnehmen, er wisse, wovon er in seinen Liedern erzählt. Für die zwei Millionen Türken in Deutschland ist Ibo die "Stimme der Heimat". Viele glauben, sein Schicksal zu teilen, weist das Leben eines Gastarbeiters im Ausland doch Parallelen auf zu dem des Wanderarbeiters in den Weiten der Türkei. Ibos Kassetten und CDs verkaufen sich bei seinen Landsleuten in der Bundesrepublik so gut wie in der Türkei, er wird in den türkischen Sendern gespielt und die "Ibo Show" nach Deutschland übertragen. Ibo macht keinen Hehl daraus, daß er kurdischer Abstammung ist - sein Türkisch hat oft sogar einen deutlich hörbaren Akzent. Doch er ist viel zu schlau, um sich in die oft gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Minderheit in der Türkei einzumischen. In den Siebzigern versuchte sich Ibrahim Tatlises zwar als Interpret kurdischer Volkslieder, doch er beendete das Projekt schon bald, weil es weder für sein Image noch für sein Bankkonto Gewinn brachte, wie er öffentlich zugab. Kurdische Intellektuelle konterten ironisch, man habe mit Ibo den Türken wenigstens "unseren schlechten Geschmack" aufs Auge gedrückt. Die wenigen Türken, die ihn nicht mögen, haben ihm den Beinamen "Mörder" verpaßt, in Anspielung auf eine tragische Geschichte, die vor zwei Jahren in seiner Heimatstadt Urfa passierte. An einem Junitag spaziert Ibo über den Basar. Um ihn herum kommt es zu einem Menschenauflauf, wie so oft, wenn er sich unters Volk begibt. Ein Teppichhändler bittet Ibrahim Tatlises weiterzugehen: Der Eingang zu seinem Laden werde durch den Auflauf versperrt. Verärgert ruft Tatlises einem seiner leiblichen Cousins, der als Bodyguard für ihn arbeitet, späteren Zeugenaussagen zufolge sinngemäß zu: "Knall ihn ab!" Der Cousin zieht eine Pistole aus dem Hosenbund - und erschießt den Händler auf der Stelle. Tatlises entzieht sich zunächst den möglichen Konsequenzen und einer Anklage wegen Anstiftung zum Mord (die später niedergeschlagen wird) durch eine Flucht nach Deutschland. Der Cousin wandert ins Gefängnis, kommt aber nach drei Monaten wieder frei, weil ein anderer für ein hohes Entgelt aus Tatlises Vermögen die Schuld auf sich nimmt und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wird; noch heute geht es nach orientalischem Rechtsverständnis schließlich nicht darum, wer für eine Straftat büßt, sondern lediglich darum, daß die Schuld gesühnt ist. Der anatolische Bauer, der nun hinter Gittern die Strafe für den Mord des Tatlises-Cousins absitzt, ist mit der Situation durchaus zufrieden: Er weiß seine Familie durch Ibos Geld in alle Zukunft gut versorgt. Seine Nähe zu einem Mord, unzählige Frauengeschichten, zwei uneheliche Kinder, Gerüchte um Verbindungen zur Mafia, eine Geldstrafe wegen Drogenbesitzes - seine nach Millionen zählenden Fans verzeihen Ibo alles mit einem Lächeln. Ausländer in der Türkei schütteln über die schier vorbehaltlose Verehrung den Kopf: "Man könnte meinen", sagt einer, "er habe einen Freibrief." Für die Millionen Landflüchtigen in der Türkei, die mit viel zu großen Hoffnungen in die Städte ziehen und dann oft in Wellblechbaracken ein karges Dasein fristen, bleibt Ibrahim Tatlises das größte Vorbild. Denn er ist nicht nur Sänger, Showmaster, Schauspieler und dazu noch Regisseur, er hat sich seit den achtziger Jahren auch ein Wirtschaftsimperium aufgebaut. Seine Restaurantkette Tatlises Lahmacun ist demnächst sogar in New York mit einer Filiale vertreten und wirft ebenso reichlich Gewinn ab wie das Reiseunternehmen Tatlises Turizm oder die Beteiligungen an einer privaten Fluggesellschaft und einem Lebensmittelkonzern. Zudem besitzt Ibo eine Yacht sowie Häuser in Deutschland und den USA. Niemand neidet ihm den Reichtum. Der "Kiro", der "Prolet" aus Urfa, sagen sie in der Türkei, ist "einer von uns".

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