Von HANS-E. LEX
Paris - Dieses Angebot des Verlages Gallimard ist riskant: 2856 Seiten, verteilt auf zwei Bände seiner "Quarto"-Reihe (320 Franc), umfaßt der lange vergessene und jetzt neu entdeckte Roman "Les Mohicans de Paris" von Alexandre Dumas. Wer soll, will, kann einen solchen Schinken" konsumieren? Keine Angst, schon die ersten Sätze machen neugierig auf das umfangreichste Buch, das dieser Autor je geschrieben hat: "Wenn der Leser mit mir eine Wallfahrt in die Tage meiner Jugend unternehmen will, dann beginnen wir gemeinsam zu Beginn des Jahres 1827." Nach Biographie klingt das, mit viel Authentischem aus einem bewegten Schriftstellerleben. Irrtum. Es beginnt und endet wie ein Roman, wenn Dumas mit Colomban und Camélite zwei junge Menschen in Szene setzt, die sich lieben, ausweglos, und erst im gemeinsamen Selbstmord wie Romeo und Julia zueinander finden. Eine Affäre, die aber nur das Hors d'Oeuvre ist. Denn hier mutiert der geniale Dumas vom Erzähler romantischer Mantel- und Degengeschichten mit geradlinigen Helden zum Chronisten einer ganzen Epoche und ihrer gebrochenen Figuren. Ja sogar zum Historiker, wenn er die endgültige Niederlage des Geburtsadels und die Geburt des Geldadels "im moralischen und physischen Paris während der letzten Jahre der Restauration" erzählt. Damals kam in Frankreich das Kapital an die Macht - und ist es bis heute. Also ein Thema unserer Zeit. "Die Mohikaner von Paris" sei, behaupten französische Kritiker, Dumas' reifster Roman. Nicht nur, weil er in ihm eine junge Liebe mit ungewohnt väterlicher Fürsorge und psychologischem Feingefühl beschreibt; mehr noch imponiert seine Interpretation des babylonischen Paris, in dem Hochstapler, Diebe, Mörder, Transvestiten, Zuhälter und Huren den Ton angeben. Vom James-Fenimore-Cooper-Fan Dumas deshalb "Mohikaner" genannt, "weil sie tausend Listen zur Hand haben, mit deren Hilfe sie ihren Feinden entfliehen oder sie verfolgen können". Bei der Beschreibung dieser Verhältnisse zeigt sich der Verfasser des "Grafen von Monte Christo" als Gesellschaftskritiker auf hohem Niveau. Besorgt nimmt er seine Leser an die Hand, führt sie mitten hinein ins Getümmel der Kabaretts und Vorstadtbälle, in die stinkenden Kellerwohnungen der alten Hehler und jungen Filous. Dumas zeigt hier viel Sympathie fürs Volk, das sich, wenn es not tut, sogar für eine große politische Wende stark macht. Die "Mohikaner" engagieren sich für Napoleons in Vincennes inhaftierten Sohn, den Graf von Reichstadt, den sie statt des bornierten Karl X. auf dem Thron haben wollen. Seine Befreiung soll die Unterwelt bewerkstelligen. Womit auch die Polizei ins Spiel kommt und damit ihr sarkastischer Chef Jakal, mit dem Dumas eine seiner faszinierendsten Figuren gelingt, die durch ihr Tun und Handeln sämtlichen Intriganten seiner Historien-Romane Hörner aufsetzt - ein genialer Hund, der mit kodierten Unverschämtheiten und gerissenen Mausefallen seine Gegner schachmatt setzt und zum großen Paten der Stadt wird. In Dumas "Mohikanern" sind es vor allem die Mischung des Besetzungszettels und der jähe Wechsel der Szenen, die den Roman so modern machen. In 330 Einzelkapiteln tummeln sich fast tausend Personen und fügen sich in differenzierter Charakterzeichnung samt sprachlichen Eigenarten zum Fresko der Stadt zusammen, in der rivalisierende Orléanisten, Republikaner und Bonapartisten nicht gerade gut dastehen. Die 1830 ausbrechende Revolution ist da unvermeidlich. Dreißig Jahre später erlebt Dumas, der immer für Louis Philippe eintrat, seinen Durchbruch zum großen Autor, als er, ein Jahr vor dem Erscheinen von Flauberts "Madame Bovary", "Die Mohikaner von Paris" in seiner eigenen Zeitung "Le Mousquetaire" als Fortsetzungsroman druckt. Auch eine Buchausgabe erscheint. Dann aber verschwand das Buch bis heute in der Versenkung.