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Kultur

Verhaltenslehren der Kälte

| Lesedauer: 7 Minuten
Stv. Ressortleiterin Feuilleton
Im Digitalzeitalter haben wir das Frieren fast schon verlernt. Wir sollten uns wieder darin üben. Von der Realwerdung einer Metapher.

Es ist Winter, und wer jetzt allein ist, muss es nicht bleiben. Er wird sich auch kein Haus mehr bauen, nicht, weil es zu spät im Jahr ist, sondern weil niemand sich mehr Häuser baut, er wird sich auf OkCupid anmelden, sich in einer Affäre oder vielleicht auch etwas Ernsterem für die kommenden Monate einrichten, er wird Freunde zum Essen einladen, seine Heizung auf fünf stellen, und zum Schreiben, wenn er überhaupt schreibt, ins Café gehen. Er wird sich einen Mantel kaufen und vielleicht für ein paar Tage nach Ägypten oder Thailand fliegen, im Februar, wenn er es nicht mehr aushält, weil Berlin so grau ist im Winter – jene Stadt, von der Joseph Roth wusste, dass man in ihr schon bei 15 Grad Celsius friert.

Wir haben das Frieren verlernt. Wir sitzen vor dem cremefarbenen Glühen unserer Endgeräte, wir wärmen uns an den Inhalten unserer Glühweinbecher, wir schwitzen am Wochenende, in der Sauna oder im Club, wenn Amphetamine unsere Poren verengen und kalter Schweiß auf unseren Gesichtern glänzt. Wir, das sind nicht die, die in Parks und U-Bahnhöfen frieren, wir sind nicht die, die es durch die Straßen treibt, nicht jene, welche die letzten Stunden des Tages damit verbringen, sich ein Bett in der Obdachlosenunterkunft zu organisieren. Wir sind die, welche die Metaphern machen, Schreibende, Bilderschaffende, Großstädter.

Und es heißt jetzt bei uns seit einiger Zeit, die Welt sei kühl geworden. Es heißt, die Menschen würden immer weniger Dinge besitzen, es heißt, es gebe Wohnungen, in denen keine Bücher mehr stünden und keine Ehebetten, sondern nur noch Matratzen und Apple-Computer, auf denen dann alles drauf sei, was aus dem Raum verschwunden ist, die Bücher, die Filme, die Manuskripte, der Sex.

Es heißt, es werde irgendwann keine Kohle mehr geben und kein Gas, vor allem nicht, wenn Putin es uns abstellt, man werde die Flugzeuge nicht mehr betanken können, man werde auch nicht mehr so viel reisen, auf keinen Fall für dreißig Euro nach London, man werde, wo es möglich ist, Bildschirmkonferenzen abhalten, anstatt aufwendige internationale Treffen zu organisieren. Es heißt, am Himmel werde es wieder Zeppeline geben. Eine leere, weite Welt.

Wo in der kulturellen Imagination einst Arbeitergesichter in der rot schwelenden Eisenhölle von Schiffsbäuchen schwitzten, wo die Elektrizität zur Chiffre für Nervosität und Angekratztheit wurde, stellt sich jetzt das Bild einer leeren, kühlen, pastellfarbenen Welt ein, durch die, in dunkelrosa und hellgrün, die Datenübertragungsströme fließen.

Das digitale Zeitalter und die mit ihm einhergehenden Lebensstile bergen ein zentrales Versprechen: die Erlösung vom Material, vom Körper.

Kein eigenes Auto mehr, das Unmengen Benzin verbrennt, sondern die wohlkalkulierte Fahrgemeinschaft, irgendwann Elektroautos, keine Dampfmaschinen und Kohlekraftwerke, sondern saubere Energie aus Wind und Sonne, kein Schleppen von Einkäufen, sondern die Direktbestellung nach Hause.

Mancher glaubt, wir verlernten die Körperlichkeit, die zwischenmenschliche Wärme, weil wir mit unseren Freunden und Liebhabern nur noch digital verkehrten, bald gebe es nur noch Cybersex.

Was ist schlimmer, wenn die Heizung ausfällt oder wenn das Smartphone kaputtgeht? Und wenn der Fernseher das Lagerfeuer ersetzte, um das sich die Familienhorde schart, was ist dann das Handy für ein Medium? Wärmt es uns? Lässt es uns frieren? Oder lässt es uns nicht in jenem Zustand verharren, den wir als Zwischengefühl „Kühle“ nennen müssen, weil die anderen, an denen wir uns wärmen, immer gleichzeitig anwesend und abwesend sind?

Der Kalte Krieg war vorbei, wir haben das Frieren verlernt. Die Temperaturmetapher der angeblich so behäbigen, neobiedermeierlichen letzten zwanzig Jahre war die der Kühle, nicht die der Kälte. Die Kühle ist ein seltsamer Zustand, die Entbindung vom Ich wohnt ihm inne. Man sagt kaum: „Mir ist kühl“, wie man sagt: „Mir ist kalt“, oder „Mir ist heiß“. Man sagt, etwas sei kühl oder jemand. Jemand anderes, nicht man selbst.

Angela Merkel zum Beispiel. Dass die Kanzlerin kühl sei, dass ihr Regierungs-, ihr Diplomatie-, ihr Redestil kühl seien, ist ein Gemeinplatz des ästhetischen Urteilens geworden, und umso mehr erstaunt es die Beobachter jedes Mal, wenn sie das zeigt, was vor jenem Interpretationshintergrund als „Emotionalität“ erscheint. Gerade titelte der „Focus“ in Bezug auf ihre Parteitagsrede: „Merkel überrascht: Emotionale Kämpferin statt kühle Machtmaschine“. Kühl ist der sezierende Blick, ist der Blick Christian Krachts auf Deutschland, kühl ist das Design von Apple, kühl sind der Neoliberalismus und seine Begleiterscheinung, der Konsumverzicht.

Die Kühle aber ist nur ein Übergangsbereich auf der Skala des Temperaturabfalls. Kühle als Gesellschaftszustand, und sei es als imaginierter Gesellschaftszustand, der uns hilft, etwas über uns zu verstehen, ist nicht haltbar. Uns friert nicht mehr, darum ist uns auch nicht mehr warm. Doch nun kehrt die Kälte zurück und mit ihr die Körperlichkeit, der wir entfliehen zu können hofften.

Über der Ostsee, der Nordsee und dem Schwarzen Meer stiegen zuletzt wieder Langstreckenbomber und Kampfjets auf. Nicht Drohnen übernehmen, was wir uns gar nicht mehr vorstellen konnten, das Töten, und es wird deutlich, wie sinnlos die Rhetorik eines „entkörperlichten“ Krieges ist, weil der, der sterben muss, ja immer als leiblicher Mensch stirbt. Das Sterben, der Mensch als Material kehrt zurück in unseren Imaginationsraum, obwohl natürlich die ganze Zeit auf der ganzen Welt auf grauenhafte Weise gestorben wird, es ging uns nur nichts an.

Russland provoziere „mehr als zur Hochzeit des Kalten Krieges“, heißt es, wenn die Kampfjets aufsteigen, und „Spiegel online“ nennt Putin „Väterchen Frost“, wenn es um die jüngste Rede zur Lage der Nation geht. Merkwürdig eigentlich, denn der russische Doppelgänger des Weihnachtsmannes ist zwar die Personifikation des Winters, aber doch eigentlich eine eher freundliche Gestalt.

Er ist wieder da, der kalte Osten, er hat uns nie ganz verlassen, das merkt man schon, wenn man nach Warschau fährt und glaubt, einen Pullover mehr einpacken zu müssen, obwohl dort meist das gleiche Wetter ist wie in Berlin. Man stellt sich den Osten – und der Osten beginnt immer ein Stück weiter östlich als dort, wo man sich selbst gerade befindet, fragen Sie mal die Polen oder die Slowaken oder die Berliner – als kalt vor, sie sind wieder da, die Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis, Stalingrad, Taiga und endloser Winter.

Das Kalte ist das Andere, das Draußen. Dass wir frieren können, ist eine Grundbedingung von Kultur, zumindest in den Ländern, die die Kälte kennen, und in allen Ländern, auch den immer warmen, ist es das Bedürfnis nach Unterschlupf, der zur Behausung wird, das uns zur Kulturleistung treibt.

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„Wo auch immer die Nacht dich überrascht: dort sei dein Heim“, erträumte sich Thoreau, der in die Wälder von Massachusetts zog, weil er „mit Überlegung leben“, dem „eigentlichen, wirklichen Leben nähertreten“ wollte – und wusste zugleich, dass eben das dem Menschen nicht möglich ist, weil er sich zuerst seiner „Lebensbedürfnisse“, der Nahrung, des Obdachs, der Kleidung, der „Feuerung“ versichern muss, um „den wahren Problemen des Lebens in Freiheit“ nachzuforschen. Und Thoreau, der „tief leben“, der „alles Mark des Lebens aussaugen“ wollte, das „Leben auf die einfachste Formel bringen“, indem er die Jahreszeiten beobachtet, die Farne und Bäume, die Ameisen und ihre Kämpfe, ist eben kein „Vorreiter“ der lebenstechnischen Reduktion, wie sie uns heute überall als praktizierte Gegenwart angetragen wird. Er ist jemand, der um die Kälte wusste.

Frank Schirrmacher, der viel zu jung verstorbene Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass sich uns die Verhaltensweisen des Kalten Krieges einverleibt hätten, dass durch die Algorithmisierung des Menschen die Annahmen der Spieltheorie Verhaltensrealität geworden seien.

Vielleicht ist uns die Kälte in die Knochen gefahren und hat sich dort versteckt, sie hat gewartet, bis wir wieder ein „Anderes“ hatten, ein „Draußen“, das uns Angst macht und das die Erinnerung an sie hervortreibt.

Wir haben das Wissen um die Kälte verlernt und das Wissen um die Hitze, ihre dialektische Gegenmacht. Wer sitzt noch in der kalten Dachkammer und ringt um Sprache? Wer friert noch morgens, bis der Ofen warm wird, und wie hätte Descartes mehrtägiges Kaminsitzen in den „Meditationen“ zur kältesten aller Philosophien, der Besiegelung des Körper-Geist-Dualismus führen können, wäre der Kamin nicht da gewesen?

Wir sind alle behagliche Dickhäuter geworden, die weder frieren noch schwitzen. Sie war so schön, die kühle Zeit, wir sollten sie retten. Aber die Kälte ist zurück, sie macht wach. Sehen wir zu, dass wir nicht erfrieren.