Die Ironisierung der Willkür
IRONISIERUNG DER WILLKÜR VON EINTEILUNGEN?
Rückbesinnung auf ein auffälliges Detail im Anfangsteil (I) des Romans „Die wilden Detektive“
Auf der Seite 100 stieß ich schon bei meiner ersten Lektüre auf ein merkwürdiges Detail, das man wegen seiner Kuriosität, ja Skurrilität nur allzuleicht übergehen, ja verwerfen könnte. Der Tagebuchschreiber Juan García Madero berichtet da ziemlich ausführlich von einer Einteilung, die Ernesto San Epifanio am Abend zuvor vorgenommen hatte; – Ernesto San Epifanio, der auf Seite 93 als Begründer der „erste(n) Kommunistische(n) Homosexuelle(n) Partei Mexikos und“ der „erste(n) Proletarische(n) Homosexuelle(n) Mexikanische(n) Kommune“ apostrophiert worden war.
Ernesto San Epifanio soll also – Juan García Madero zufolge – bezüglich einer überschaubareren Einteilung von Literatur „gesagt“ haben, „ es existierten eine heterosexuelle, eine homosexuelle und eine bisexuelle Literatur. Romane seien gewöhnlich heterosexuell, Poesie dagegen absolut homosexuell“. Woraufhin JGM für sich selber ergänzt: „Erzählungen, so schloß ich, sind folglich bisexuell, aber das sagte ich nicht laut.“ Ich als Leser frage dagegen leise: Welchen Ort hätten in diesem sexualisierten Zusammenhang die Dramen?
Nun könnte man angesichts der phantastischen, wiewohl zum Teil ergötzlichen Auswucherungen dieses Ansatzes (S.100 – S.104) sehr rasch zur Tagesordnung übergehen; aber auch hier wird man nicht nur perspektivisch-einsinnig bzw. leicht ironisiert unterhalten, sondern kann en passant daraus sogar etwas lernen. Etwas lernen über den Mechanismus, den Stellenwert und den Nutzen möglicher Einteilungen, sogar den der vielleicht unsinnigsten und aberwitzigsten.
Ehrwürdige Vorgängerinnen einer derartigen zugegeben recht extravaganten Einteilung gibt es ja; in erotischer und in literarischer Hinsicht. Ich denke dabei zunächst an die (nicht erst heute privatmythologisch wirkende?) Rede des Komödiendichters Aristophanes über den Eros in Platons „Symposion“, aber auch an Goethes gelegentliche Definition der Ballade, die mehr als ansatzweise das Wesentliche aller drei literarischen Gattungen (also Episches, Lyrisches und Dramatisches) wie im Ei (oder in der Nuss) in sich vereine.
Woran ich aber zunächst gedacht habe, war etwas womöglich Entlegeneres. Ich habe mich sogleich an einen Aufsatz von Max Horkheimer erinnert, den er im Jahre 1934 in Zürich unter dem Pseudonym Heinrich Regius im Band „Dämmerung. Notizen in Deutschland“ veröffentlicht hatte. Den konkreten Aufsatz, den ich meine, finde ich im Moment leider nicht, weiß aber, dass darin eine Vielfalt real möglicher oder bloß denkbarer Einteilungen zitiert wird, die allesamt nicht ganz sinnlos sind, da sie als Einteilungen zumindest eine heuristische Funktion haben, will sagen, zur Erkenntnisbidung mehr oder minder geeignet sind. (Das hat sich in meiner eigenen Leseerfahrung recht oft bestätigt. Zum Beispiel bei meiner Lektüre von Elias Canettis „Masse und Macht“ oder der von Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung“. Aber auch perspektivisch noch einseitigere Darstellungen könn(t)en erkenntnisfördernd sein, wenn man sich von ihnen nicht vereinnahmen lässt, ihnen nicht besinnungslos verfällt.)
In Max Horkheimers „Dämmerung(s)“aufsatz „Relativität der Klassentheorie“ (vgl. Max Horkheimer: „Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung Notizen in Deutschland“, F.a.M. 1974, S.337f) finde ich immerhin etwas von dem, was ich ansprechen wollte.
In diesem Aufsatz legt Horkheimer selber „im Hinblick auf“ den Vorrang „umwälzende(r) Praxis“ zwar Wert auf die Überlegenheit der „Unterscheidung gesellschaftlicher Klassen“ vor „den anderen Gesichtspunkten“ (ebd., S.338), erkennt aber durchaus das zumindest relative Recht anderer Unterscheidungen von anderen Gesichtspunkten aus an und führt besonders ein Beispiel genauer aus: „Es gibt andere Unterscheidungen, andere Strukturprinzipien, die vom gleichen Interesse an der freien Entfaltung der Menschen und der Gerechtigkeit aus ebenso grundlegend erscheinen könnten wie die der gesellschaftlichen Klassen, z. B. der Unterschied zwischen Gesunden und Kranken.“
In dieser Allgemeinheit formuliert, ist auch dem Menschen und Schriftsteller Roberto Bolaño ein vordringliches und in allen seinen literarischen Äußerungen spürbares „Interesse an der freien Entfaltung der Menschen“ immer zu eigen gewesen und nie abhanden gekommen.
5 Responses to “Die Ironisierung der Willkür”
„Das dichterische Panorama war also im wesentlichen das Resultat der Schlacht zwischen echten Schwulen und Tunten-Dichtern um die Herrschaft des Wortes. (S. 101)
„Im übrigen gibt es im flüchtigen und todgeweihten Reich des geschriebenen Wortes nichts, was beide daran hindern könnte, sich miteinander zu befreunden, raffiniert voneinander abzuschreiben, sich gegenseitig zu kritiieren oder über den grünen Klee zu loben, sich gegenseitig zu publizieren oder in den Schatten zu stellen.“ (S. 104)
Bolaño ironisiert hier, wie an vielen Stellen seines Werkes, das Gezicke unter Schriftstellern (ich erinnere mich an die gleiche Ironie in „2666“ in bezug auf den literaturwissenschaftlichen Diskurs der an den literarischen Kongressen teilnehmenden verfeindeten Gruppen, dort anhand ihrer Nationalität unterschieden).
Sie alle sind dem Zuhälter (ich meine hier Verlage, den marktwirtschaftlichen Zwang, die Buchindustrie im weitesten Sinne, zu erkennen) hörig. Die Art der Hörigkeit versucht er nun ironisch mit einer sexuellen Einteilung zu beschreiben und legt sie dem „Gründer der ersten mexikanischen Partei Mexikos“ (S. 93) in den Mund. Hier kommt also auch noch die Politik ins Spiel. Ganz will ich deshalb Herrn Landsberger nicht folgen, der mit Horkheimer hier quasi die menschliche Freiheit, das über allem Schwebende, als Bolaños Absicht und die Gleichberechtigung anderer Unterscheidungsmerkmale als nur sozialgesellschaftliche Klasseneinteilung zur Geltung gebracht sieht. Der wohl eher heterosexuelle „Macho“ Bolaño hat sich und alle anderen im Spiegel des Literaturgetriebes als käufliche Tunte gesehen. Sein Kriterium der oft harten Einteilung anderer Schriftsteller scheint mir von deren gefühlter Käuflichkeit oder politischer Aussage mitbestimmt. Aber wie schön ist es doch, von einem seiner Protagonisten zu hören, dass „Borges eine hellenistische Zwergtunte“ (S. 100) und Nicanor Parra eine „Schwuchtel mit echt schwulen Zügen“ (S. 103) sei. Beide waren seine Vorbilder.
„Ganz will ich deshalb Herrn Landsberger nicht folgen, der mit Horkheimer hier quasi die menschliche Freiheit, das über allem Schwebende, als Bolaños Absicht und die Gleichberechtigung anderer Unterscheidungsmerkmale als nur sozialgesellschaftliche Klasseneinteilung zur Geltung gebracht sieht.“
Wo habe ich das denn in dieser Weise geschrieben? Wahrscheinlich habe ich mich in der Verkürzung zu undeutlich ausgedrückt.
Vielleicht ist das nur ein Reflex von mir gewesen, weil ich das Gefühl habe, die kritisch-politische Aussage Bolaños würde zu sehr in den Hintergrund treten gegenüber allgemein-menschlichen Kategorien wie eben „Gesundheit und Krankheit“. Beim nochmaligen Lesen Ihres Horkheimer-Absatzes meinen Sie aber doch wohl eine Gleichberechtigung dieser Ebenen. Mir kommt es jedenfalls so vor, als hätte Bolaño nicht nur einen „universal-existentiellen“ menschlichen Standpunkt, sondern immer auch einen sozialkritischen. Einseitig möchte ich ihn natürlich auch nicht auslegen.
Aber den hatte Horkheimer doch vorrangig auch. (Das wäre noch deutlicher geworden, hätte ich den gesamten Aufsatz zitiert.)
Lasst uns neue Sprachgewohnheiten kreieren und einführen!
Nordstorm http://www.nordstormdresses.com