César Aira: Varamo

Fiktion und Falschgeld

Zu César Airas „Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo“

Es ist Zahltag und Dienstschluss für den 50jährigen „drittrangigen Schreiber“ Varamo, der in einem Ministerium  der Stadt Colón seine unbedeutende Arbeit verrichtet, die an der  karibischen Seite des neu gebauten Panamakanales liegt. Wir befinden uns mit dieser Figur im Jahr 1923. Dem Staatsdiener wird zu seinem großen Entsetzen sein Gehalt in Falschgeld („zweihundert Pesos“) ausbezahlt. Die Novelle erzählt uns nun von seinem Feierabend bis zum Verfassen eines avantgardistischen Gedichts mit dem nichtsagenden, hochtrabenden Titel  „Der Gesang des jungfräulichen Kindes“, das ihn berühmt gemacht haben soll.

Manchmal trauen sich Verlage doch, einen Roman oder diese „historische Rekonstruktion“ Novelle zu nennen (vgl. Aléa Torik zu Bolaños „Chilenisches Nachtstück“). Zu Recht, da hier das Dingsymbol Falschgeld offensichtlich ist und das Parabelhafte die Kürze der Erzählung begleitet. Wir wohnen also der Beschreibung eines literarischen Schöpfungsprozesses bei, der doppelbödig aber wie natürlich auch  den eigenen Entstehungsprozess dieser Novelle, die wir gerade lesen, mit einbezieht. Denn eigentlich erklärt uns diese Novelle nicht nur wie es zu dem o. g. Gedicht kam, sondern sie erklärt sich selbst. Man muss schon etwas tiefer in die spanische Literaturgeschichte eintauchen, um die versteckten Anspielungen und die literarische Ironie des Textes zu verstehen. Der barock anmutende deutsche Titel macht dies allerdings auf eine vortreffliche Weise, indem er den schwülstigen Stil des Gongorismus, einem spanischen lyrischen Stil des 16. Jahrhunderts vorwegnimmt. Der Name einer Familie, die in der Erzählung auftaucht, Góngora, weist unüberhörbar darauf hin.

Das erhaltene Falschgeld belastet ihn schwer, weil er nicht weiß, wovon er nun leben soll. Ausgeben käme einer Straftat gleich und er würde im Gefängnis landen. Zuhause angelangt erfahren wir von seinem merkwürdigen Verhältnis zu seiner nicht leiblichen, senilen Mutter, die ihn als Findelkind großzog und mit der er als Junggeselle und Muttersöhnchen zusammenlebt, nebenbei gehört sie der chinesischen Minderheit Colóns an.  Als Hobby widmet sich Varamo der Präparation von Fischen. Sie werden detailgenau und minutiös mit Chemikalien behandelt und langsam, anscheinend ohne Skrupel, zu Tode gequält. Anschließend wird dieser Fisch sogar noch gemeinsam verspeist. Diese Fischszene verband ich mit der ebenso schonungslosen Schilderung im Roman des diesjährigen Bachmannpreisteilnehmers Volker H. Altwasser „Letzte Fischer“. Das Experiment, einen Fisch an ein Klavier zu präparieren stellt eine bildliche Parallele zu Airas eigenem Schaffen dar. Sein Schreiben ist eine Art Laborarbeit auf der Suche, etwas Neues zu entdecken.  Airas Erzählen lebt von bildhaften, absurden und unglaubwürdigen Geschichten, der surreale Aspekt seiner Phantastik. Wie eine Wundertüte öffnet sich auf jeder Seite ein spontaner, witzig-surrealer Einfall: ein Lahmer, der ausgerechnet die langen Wege beim Geldwechseln geht, Licht verschlingt sich selbst und macht Lärm dabei, vergiftete Lebensmittel, die zur politischen Okkupation Panamas durch die USA stilisiert werden.  Zusammengehalten wird dieses  selbst benannte mythische Erzählen, das „die große Kluft zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten überbrückt“ durch eine kunstvolle, intellektuelle Distanz, die das Unmögliche benutzt, in den Zwischenräumen des Textes Parabeln der menschlichen Existenz durchscheinen zu lassen. So kann durch die Fiktion und Phantastik, aus der Illusion bloßer scheinbar nur spielerischer Erfindung doch Wahrheit und Erkenntnis entstehen,  ein intellektuelles Märchen für Erwachsene. Der Fisch zum Beispiel erscheint mir wie ein Symbol für das Leiden der Kreatur, sei sie nun Tier oder Mensch. Mit der Zerstörung der Natur richtet der Mensch auch sich selbst. So skurril und manchmal unglaubwürdig oder scheinbar zufällig hier kleine Geschichten erscheinen, erzählt werden sie mit einer hochintelligenten, sehr präzisen Sprache. Der Vergleich mit der „écriture automatique“ scheint mir deshalb verfehlt (Benjamin Loy). Diese Erzähltechnik ist hochgradig organisiert und mit einem strengen Intellekt versehen. Auch der oft herauszuhörende Vorwurf der Beliebigkeit der Erzählkette (Leopold Federmair) oder das scheinbar Sprunghafte der Ideen kann ich für meine Lektüre nicht gelten lassen. Die Einfälle befremden, aber der Plot und die Erzählweise sind in sich absolut stringent.

Nach der Fischepisode gönnt sich Varamo bzw. der souverän herrschende auktoriale Erzähler, der den Leser mit dem Pluralis Majestatis „Wir“ einbindet etwa in der Mitte der Erzählung eine „Meditation nach Tisch“, in der er nicht nur seine existentielle Situation philosophisch durchdenkt, sondern eine Art poetologische Grundsatzdiskussion über das Erzählen abhält. Dies korrespondiert sehr gut mit den Stimmen, die Varamo hört, wenn er sich auf den Weg zu seinem Café macht. Später findet er heraus, dass diese Stimmen reale Morsezeichen zweier alter Damen sind, die ihr geheimes Schmuggeln von Golfschlägern codieren.  So werden diese wirklichen Töne als Stimmen assimiliert schließlich Bestandteil des genialen Gedichtes, das er am Ende schreibt. Sind denn Bücher nicht immer Stimmen im Kopf des Autors und des Lesers und ist die eigene Stimme zu finden nicht die Aufgabe jedes Schriftstellers? Das Aira sich des Grenzbereiches der ewigen Erfindung, in dem er schreibt, selbst bewusst ist, erzählt uns folgender Satz wie beiläufig: „Der Sinn stand unverbrüchlich fest, war aber von innen heraus bedroht durch das Unendliche.“  Um Varamo auf dem Weg zur Veritas in der Fiktion zu folgen, muss der Leser sich die abstrusen Geschichten selbst übersetzen, wie ein phantastisches surreales Gemälde, um darin vielleicht auch die Beschreibung seiner eigenen Realität zu finden. Die panamaische Gesellschaft wird vom Mammon Geld beherrscht, das ist heute global so. Die öffentliche Hand ist korrupt und alimentiert ihre Beamten mit Almosen. Wirtschaftliche Interessen anderer Staaten (USA) bedrohen die gerade gewonnene Unabhängigkeit. Die Raubdruckverleger, die am Schluss sein geniales Gedicht veröffentlichen werden, sind lediglich am Markt und am Geschäft interessiert, die Literatur selbst interessiert sie nicht, man schreibt was Geld bringt. Der Text Airas ist also nicht nur eine Parodie auf die den Marktinteressen gehorchende Literatur, sondern auch eine Karikatur der Verlagsszene. Das „Falschgeld“ des Staates erscheint  wie eine hellseherische Vorwegnahme der heutigen weltweiten Finanzkrise und der Staatsverschuldung. Auch unser aller Kultobjekt Auto bekommt sein Fett weg, indem Gleichmäßigkeitsrennen veranstaltet werden. Das karikiert auf unterhaltsame Weise unseren größten Fetisch: die Geschwindigkeit. Dem Fazit Roberto Bolaños aus seiner Rede über die argentinische Literatur „Varianten der Verbrecherliteratur“,  „Einfach mal wieder Borges lesen“, möchte ich hinterherrufen: lesen Sie Aira, er erzählt brillant. Die Pizza „Aira“ aus dem Stadtteil Flores steht fest auf meinem Speiseplan.

Dietmar Hillebrandt, 55, ehemaliger Bibliotheksobersekretär und EDV-Administrator, z. Zt. Versorgungsempfänger und drittklassiger Lyriker. buecherblog.spaces.live.com

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