»Da kommt man auf dumme Ideen«

Ein Heimleiter packt aus

Matthias Strobel, Ex-Leiter einer Notunterkunft für Flüchtlinge in Friedrichshain, spricht über Liebe, Prostitution, Drogenhandel, ein neues Leben und das Verzweifeln an der Bürokratie

Protokoll: Martin Schwarzbeck   Fotos: Petra Konschak

Der Start

Dass die Turnhalle in Friedrichshain in eine Flüchtlingsunterkunft verwandelt werden soll, haben wir keine 24 Stunden vorher mitgeteilt bekommen. Über unser Helfer-Netzwerk konnten wir 65 Freiwillige zusammentrommeln, die den Boden verlegt, die Betten aufgebaut, die Betten bezogen, Sachspenden gesammelt, das Spielzimmer und den Essensbereich eingerichtet haben. Nachts um drei kamen die ersten Geflüchteten mit dem Zug aus Wien, meist Familien und später ein kleinerer Teil alleinreisender Männer. Einige kamen mit einem Rucksack oder einer Plastiktüte, aber viele auch nur mit den Klamotten, die sie trugen. Sie waren es gewohnt, nur an sich selbst zu denken, was auch total verständlich ist. Wenn sie nach links und rechts gucken würden, könnten sie ihr Ziel aus den Augen verlieren. Der Egoismus ist sehr ausgeprägt bei den Neuankömmlingen. Nur dadurch haben sie auch diesen Erfolg: Dass sie aus einem fernen Land auf schrecklichen Wegen bis nach Berlin kommen. Sie haben sich vom ersten Essen, das sie bekamen, gleich das Dreifache geholt und unter das Bett gestellt, weil sie dachten, am nächsten Tag gibt es vielleicht nichts mehr. Oder ich erklärte ihnen, dass sie teilen sollen, aber es dauerte keine zwei Minuten, und die ausgeteilte Ware, zum Beispiel Spielzeug, war verschwunden.

Der Weg

Es hat lange gedauert, den Menschen beizubringen, dass sie hier sicher sind, dass wir sie unterstützen. Dass sie in dieser Turnhalle nicht eine Woche bleiben werden, sondern vielleicht sogar Monate und dass es wichtig ist, dass alle miteinander klarkommen. Das sind 130 Individuen, vom zweimonatigen Baby bis zum 72-Jährigen Mann, aus unterschiedlichen Kulturen, Ländern und Gesellschaftsschichten. Es gibt Menschen hier, die waren sehr, sehr reich in ihrer Heimat, aber auch welche, die haben auf einem Bauernhof ohne Strom und Wasser gelebt. Nun ist es ist ja so, dass die Leute, je nachdem aus was für Verhältnissen sie kommen, unterschiedliche Toiletten gewöhnt sind. Viele haben nur Löcher im Boden. Die setzen sich dann oft mit den Füßen auf die Brille. Menschen, die eine westliche Toilette kennen, regen sich natürlich über die auf, die sich daraufhocken und dann im wahrsten Sinne des Wortes danebenkacken.

Demokratie lernen

Da wir viele Familien mit Kindern hatten, war mein Führungsstil anfangs sehr Laissez-faire. Ich dachte, die organisieren sich schon selbst, aber es war ein ziemliches Chaos. Nach fünf Tagen kam ein Bewohner zu mir und sagte: „Du verlangst von uns, die wir alle aus Ländern kommen, die eine Diktatur haben, dass wir auf einmal in dieser Turnhalle eine Demokratie leben. Wir wissen alle nicht, wie Demokratie funktioniert. Wir brauchen am Anfang klare Regeln und Konsequenzen, wenn wir Regeln nicht befolgen. Wir möchten in einer Demokratie leben, aber jemand muss uns dort hinführen.“ Daraufhin habe ich eine Hausordnung verfasst. Die habe ich in verschiedenen Sprachen ausgehängt und den Leuten erklärt, und ab dem Tag hat sich alles geändert. Ein paar Bewohner habe ich allerdings rausschmeißen müssen, weil sie sich nicht an die Regeln gehalten haben, also zum Beispiel in der Turnhalle geraucht oder mit Verlängerungskabel und Elektroherd heimlich gekocht oder sich geprügelt. Jeder bekommt eine zweite Chance bei mir, aber danach ist es vorbei.

Selbstorganisation

Matthias Strobel
Matthias Strobel, 34, hat von der Eröffnung am 13. November 2015 bis zum 1. März 2016 eine Notunterkunft für Flüchtlinge in einer Turnhalle an der Grenze von Friedrichshain und Pankow geleitet. Dort leben 130 Menschen, hauptsächlich aus Syrien, dem Irak und Iran, darunter rund 40 Kinder. Strobel hat Wirtschaftskommunikation studiert und das Start-up Nagual Sounds gegründet, zum Heimleiter wurde das Mitglied der Initiative „Friedrichshain hilft!“ eher zufällig. Es hatte sich kein erfahrener Bewerber gefunden.

Wir haben es anfangs mit einem alphabetischen Putzplan versucht. Aber die sahen morgens: „Aha, ich stehe heute drauf.“ Und dann gingen sie den ganzen Tag in die Stadt. Die sind ja nicht blöd. Geputzt haben immer die mit dem stärksten Sauberkeitsbedürfnis. Inzwischen ist der Putzplan so organisiert, dass wer Wäsche waschen lassen will, am nächsten Tag auf dem Putzplan landet. Auch bei der Essensausgabe helfen inzwischen Flüchtlinge. Das Kinderzimmer betreuen Mütter mit, deren Kinder dort spielen. Andere Flüchtlinge helfen bei Übersetzertätigkeiten. Oder zum Beispiel bei der Eröffnung des Bankkontos. Wir haben einem Menschen, der Arabisch, Farsi und Englisch spricht, gezeigt, wie man ein Konto eröffnet. Seitdem nimmt er jeden Mittwoch zehn an die Hand und geht mit ihnen zur Bank, um sein Wissen weiterzugeben. Die Bewohner helfen sich untereinander. Als sich die ganzen 130 Mann nachts vor dem Lageso anstellen mussten, gab es nicht genug Decken und Jacken. Sie haben sie sich dann untereinander geliehen. Am Anfang wäre das undenkbar gewesen. Aber dieses Egoismusdenken ist komplett verschwunden.

Liebe

Es gibt vier aus unserem Camp, die jetzt in Beziehungen sind mit Frauen aus der Nachbarschaft, ein Pärchen hat sogar geheiratet. Aus Liebe und nicht wegen der Aufenthaltsgenehmigung. Er ist in der Zwischenzeit wieder in sein Heimatland zurückgegangen, weil er dort noch Verwandte hat, um die er sich kümmern muss. Sie besucht ihn jetzt immer, so lang ihr Visum gilt.

Eifersucht

Ein Mann aus dem Irak lebt mit seiner Frau und den drei Kindern im Camp. Vor 15 Jahren hatte der eine Freundin, die auch geflohen ist, mit ihren zwei Kindern, und zufällig auch bei uns in der Turnhalle landete. Ein krasser Zufall. Er kam dann zu mir: Bitte schmeißʼ meine Ex-Freundin aus dem Camp. Ich bin zwar seit 13 Jahren nicht mehr mit der zusammen, aber meine Frau flippt aus. Ich habe gesagt: „Das kann ich nicht machen. Auch sie hat ein Recht hier zu sein. Ihr seid erwachsene Menschen, klärt das untereinander.“

Bürokratie

Es herrscht totale Willkür darüber, wer wann die Halle wieder verlassen darf. Der erste kam nach vier Wochen aus dem Camp raus. Aber das lag nur daran, dass der Mitarbeiter beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen guten Tag hatte. Der Bewohner ist direkt durchgereicht worden, hat eine dreieinhalbjährige Aufenthaltserlaubnis bekommen, konnte sich eine Wohnung suchen. Er ist aber der Einzige, der den Prozess komplett durchlaufen hat. Ein paar Bewohner haben jetzt ihre Aufenthaltsgestattung verlängert bekommen und wurden in andere Unterküfte verlegt. Der Plan war, erst nach drei, dann nach sechs Monaten die Turnhalle für die Sportler freizuräumen. Aber es gibt zu wenig Plätze in Gemeinschaftsunterkünften. Deshalb ist die Ansage unseres Sozialsenators, dass die Turnhallen bis nach den Sommerferien geräumt werden sollen, utopisch.

Tod

Zwei Mädels aus der Nachbarschaft haben eine Flüchtlingsfamilie von uns bewirtet, in der niemand englisch oder deutsch sprach. Die Unterhaltung ging mit Händen und Füßen. Im Laufe des Abends hat die schwangere Frau immer mehr Unterleibsschmerzen bekommen. Die beiden Nachbarinnen haben den Notarzt gerufen, sind mit der Frau ins Krankenhaus, sie hatte eine Frühgeburt. Das Kind kam in den Inkubator, bekam drei Wochen später eine Gehirnblutung und starb. Die Eltern, praktizierende Muslime, wollten es möglichst schnell beerdigen. Drei andere Helfer und ich haben das Beerdigungsinstitut aus eigener Tasche bezahlt. Inzwischen ist es vier Monate her, und das Lageso hat das Geld immer noch nicht erstattet. Wenn wir nicht gezahlt hätten, wäre das Kind immer noch nicht beerdigt. Das war zum Glück unser einziger Todesfall. Sonst kommt der Tod immer nur über die Smartphones in die Halle, zuletzt wurden der Bruder eines Bewohners in der Türkei erschossen und die Freunde eines anderen wurden im Iran hingerichtet.

Krankheit

Ich hatte einen anderen Bewohner, der dringend eine Operation brauchte, weil er einen Riesen-Abszess hatte. Und zwar an einer Stelle, an der ihn niemand haben möchte, weil man sich damit nicht mal hinsetzen kann. Wir bekamen eine Überweisung vom Facharzt ins Krankenhaus und haben damit beim Lageso eine Kostenübernahme beantragt. Dort habe ich mit der Abteilungsleiterin gesprochen, die es an die Zuständige weiterleiten wollte. Dann habe ich die Sachbearbeiterin recherchiert und ihr die Situation noch einmal geschildert. Zehn Wochen später kam die Zusage zur Kostenübernahme. Ich habe großen Respekt vor den Mitarbeitern des Lageso. Die arbeiten oft am Limit ihrer Möglichkeiten. Es sind die Abteilungsleiter und -leiterinnen, denen es an Empathie, Führungsqualitäten und Arsch in der Hose mangelt. Sie drücken sich vor Verantwortung und haben Angst, Entscheidungen zu treffen.

In einer Flüchtlingsunterkunft
„Wir haben Räume aus Holz und Stoff in die Halle gebaut. Jede Familie hat so wenigstens etwas Privatsphäre. Laut ist es trotzdem“, sagt Matthias Strobel

Nachwuchs

Wir haben mehrere Geburten gehabt im Camp. Für die Familien mit den Neugeborenen haben wir andere Unterkünfte gesucht, wo sie wenigstens einen Raum abschließen können. Die Turnhalle ist kein Platz für Babys und die Bewohner freuen sich auch nicht, wenn da ein kleines Kind die ganze Nacht schreit. Glücklicherweise war die Kommunikation mit anderen Heimleitern meist sehr positiv und eine Umverlegung schnell organisiert. Aber ginge es nach dem Lageso, wären die alle noch hier. Es gibt kein Vorgehen für Härtefälle, auch Menschen mit krassen psychischen Erkrankungen oder Krebs im Endstadium kommen in die Turnhallen.

Gewalt

Ich habe versucht, das Stresslevel möglichst gering zu halten. Wenn es Differenzen gab, habe ich dafür gesorgt, dass die Parteien darüber sprechen und das klären oder wenn es gar nicht mehr ging, mussten beide Parteien das Camp verlassen und in zwei unterschiedliche Hallen. Bedrohlich fand ich die Situationen nie. Aber wir haben auch viele Familien – Eltern sind meist nicht die, die sich prügeln – und zum Teil auch eine sehr gute Security. Natürlich gibt es da auch Menschen, die dumm sind, die Ansagen nicht verstehen, aber die meisten sind in Ordnung. Und dann gibt es da auch einige, die sprechen arabisch und andere Sprachen der Bewohner, und haben wirklich Sozialkompetenz.

Helfer-Kapitalismus

Die Träger der Unterkünfte haben große Macht. Manchmal wird sie auch missbraucht. Das zeigt sich gerade in der Geibelstraße und am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg, wo die Initiative „Kreuzberg hilft!“ vom Träger, der Akzente-Sozial UG, Hausverbot in den Turnhallen bekommen hat. Der Betreiber missbraucht sein Hausrecht, um die Menschen auszuschließen, die dafür sorgen, dass die Bewohner ein einigermaßen menschenwürdiges Leben haben und die Chance zur Integration bekommen. Es gibt Träger, die nur das gute Geschäft suchen, die sich bereichern, die Personal abrechnen, das gar nicht vor Ort ist, und die von dem Geld, das sie für die Flüchtlinge bekommen, möglichst viel behalten möchten. Damit keine Missstände von den Freiwilligen-Initiativen aufgedeckt werden können, wird ihnen dann halt Hausverbot erteilt.

Christen und Muslime

Ich hatte neben Muslimen auch viele Christen in der Unterkunft. Menschen, die in ihrem Herkunftsland ihre Religion nicht ausüben durften, sich in Katakomben zum Beten treffen mussten und dafür ausgepeitscht werden konnten. Vom ersten Tag an habe ich allen 130 Bewohnern klar gemacht, dass Religion in diesem Camp niemals Ausgangspunkt für eine Diskussion oder gar einen Streit sein darf. Mittlerweile kochen muslimische Syrerinnen mit christlichen Iranerinnen regelmäßig in der Küche der nahen Pfingstgemeinde.

Bewohner der Unterkunft lernen Deutsch in einem Aufenthaltsraum
Bewohner der Unterkunft lernen Deutsch in einem Aufenthaltsraum

Begegnungen

Ein Mann aus unserem Camp wurde auf der Straße von einer Frau angesprochen, die sehr kritisch gegenüber Flüchtlingen eingestellt war. Sie war der Meinung, das die sich hier bereichern. Die beiden konnten sich auf Englisch ganz gut unterhalten. Sie arbeitet für eine große IT-Firma und als sie herausfand, dass er in seiner Heimat IT Professor war und sehr nett ist, hat sie ihn mit seiner Familie erst zum Essen eingeladen und später sogar dazu, mit ihr gemeinsam in ihrem Loft zu wohnen. Seitdem kommt sie immer wieder vorbei, gibt Sachspenden ab oder verbringt den Nachmittag mit den Eltern und Kindern im Camp.

Trennung und Wiedersehen

Wenn man nicht verheiratet oder direkt verwandt ist, kann es sein, dass man in entgegengesetzte Ecken Deutschlands verteilt wird. Ich hatte den Fall von einem Paar, das kurz vor der Hochzeit geflüchtet ist und einem Mann, der mit seinem besten Kumpel aus Syrien geflohen ist, durchs Kriegsgebiet, übers Meer – in beiden Fällen wurden sie durch die deutsche Bürokratie getrennt. Aber genauso habe ich auch rührende Geschichten erlebt, wie die von der Familie, die ewig auf den Vater gewartet hat, der sich in Syrien alleine auf den Weg machte, und plötzlich hieß es: „Er hat sich gemeldet, er ist in Deutschland, kann er nicht zu uns in die Halle?“ Ich hatte die schöne Rolle, das mit einem Telefonat klären zu können.

Prostitution, Drogenhandel, Diebstahl

Verwunderlich ist, dass in der Halle, in der es nur wenige Steckdosen für viele Handys gibt, fast nie ein Handy gestohlen wird. Gestohlen werden eher andere Dinge, Rucksäcke, Spielzeug, Kleidung. Oft werden die Sachen verkauft um wieder Bargeld für die täglichen Bedürfnisse zu haben. Kein Wunder, wenn man mit knapp über 100 Euro pro Monat über die Runden kommen muss. Da kommt man auf dumme Ideen. Drogenhandel oder Prostitution zum Beispiel. Ich hatte einen im Camp, der hat sich von seinem Taschengeld Gras gekauft und das in der Halle weiterverkauft. Drei osteuropäische Mädels haben für Geld mit den Männern in der Unterkunft geschlafen. Nach einer Zeit haben das immer mehr Leute mitbekommen und sich bei mir darüber beschwert. Als die Mädels eines Nachts übermütig wurden und gegen 3 Uhr morgens dachten, in der Frauendusche ungestört zu sein und mit Männern aus dem Camp zugange waren, kamen zwei arabische Mütter rein, die sie in flagranti erwischten. Die Reaktion war wildes Geschrei, Verbrüderung aller arabischen Frauen im Camp und eine Schlägerei. Die hat damit geendet, dass zwei arabische Frauen im Krankenhaus lagen.

Das Ergebnis

Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich geschafft habe. Fast alle kleinen Kinder sind in der Kita, die größeren alle in der Schule, von den Erwachsenen sind 80 Prozent jeden Tag im Deutschunterricht, die anderen warten auf die Bewilligung für einen Integrationskurs, zwei haben bereits eine Praktikumsstelle gefunden. Und unsere fantastischen Nachbarn unternehmen viel mit den Bewohnern und schaffen eine Vielzahl an Freizeitangeboten.

Die Zukunft

Die Flüchtlingsströme werden sich durch Grenzschließungen nicht stoppen lassen. Sie werden neue Wege finden, gefährlichere Wege. Zukünftig werden die Schlauchboote von der Türkei nach Italien oder Albanien fahren, noch weiter, mit noch mehr Toten. Denn wenn hinter dir dein zerbombtes Haus liegt, dann gibt es kein Zurück.