„Ein Staat ist ein Gebilde, das immer die Minderheit opfert, um die Mehrheit zu schützen.“
Haruki kennt wohl jeder. Es gibt wohl kaum eine Buchhandlung, die den japanischen Schriftsteller und langjährigen Aspiranten für den Literaturnobelpreis, nicht mit mehreren Titeln führt. Wer einmal einen anderen Murakami kennenlernen will, der sollte zu einem Band mit einem sehr langen Namen greifen. „In Liebe, dein Vaterland. I: Die Invasion“ heißt der erste Teil eines auf zwei Teile angelegten Romans aus der Feder von Ryū Murakami. Der Titel ist zugleich die Bezeichnung für ein Szenario, das für eine gewisse Beklemmung sorgt, weil der Japaner die Geschichte seines Landes umschreibt.
Elitesoldaten als Vorhut
Man schreibt das Jahr 2010: Japan, einst eine mächtige Wirtschaftsnation, auf den Ruinen zweier Atombomben auferstanden, wird von einer heftigen, nie dagewesenen Krise heimgesucht. Die Wirtschaft liegt am Boden. Unzählige Bürger haben durch eine Bankenkrise ihr Vermögen verloren. Es herrschen hohe Arbeitslosigkeit und Armut. Obdachlose sind in Lagern untergebracht, die von kriminellen Banden geführt werden. Die Selbstmorde-Rate ist so hoch wie nie. Nordkorea, das kommunistische Land auf der anderen Seite des Japanischen Meeres, feilt an einem unheimlichen Plan, diese Lage für sich auszunutzen. Eine Eliteeinheit aus neun hoch dekorierten und gut ausgebildeten Soldaten und Soldatinnen überquert in einem Schiff das Meer, um wenig später mit Waffengewalt das Stadion in Fukuoka, auf der Insel Kyushu gelegen, zu besetzen und die rund 30.000 Zuschauer eines Baseball-Spieles als Geiseln zu nehmen. Doch es soll nur der Anfang eines cleveren strategischen Militärschlags sein.
Weitere Soldaten – auch sie werden offiziell als Rebellen bezeichnet – folgen mit großräumigen Transport-Flugzeugen. Nicht nur die Stadt, sondern auch die Insel wird daraufhin vom Rest des Landes per Beschluss durch einen hastig ins Leben gerufenen Krisenstab, der von Tokio aus agiert, abgekoppelt. Mit weitreichenden Folgen: Kein Mensch kommt weder hinein noch hinaus. Sowohl die Stadt als auch die Insel erreicht damit auch kein Warenstrom, der wichtig ist für den Erhalt des alltäglichen Lebens. Verwaltung wie Polizei unterstützen sogar die Besatzer, indem sie Müllabfuhr und Abwasserbeseitigung für das Lager der Nordkoreaner organisieren, die Verhaftungen von sogenannten Volksfeinden, meist zwielichtige Gestalten, die zu viel Geld gekommen sind, unterstützen.
Aus verschiedenen Perspektiven wird auf dieses beängstigende Geschehen geblickt, das sicherlich so unwahrscheinlich nicht ist. Die Gedanken der nordkoreanischen Elite-Soldaten werden ebenso geschildert wie die Sicht eines namhaften Zeitungsreporters, den Blick krimineller und gewaltbereiter Bewohner eines Camps sowie die Position mehrerer Politiker, die in ihrem passiven und ohnmächtig wirkenden Handeln feststecken und kaum eine spruchreife wie umsetzbare Lösung finden. Ihr Tun wirkt unprofessionell. Es gibt keine Pläne, die für ein Szenario dieser Weise greifen könnten. Man hofft vergeblich auf die Hilfe der USA, die selbst in massiven Schwierigkeiten steckt und ihre Rolle als Weltpolizei aufgegeben hat. Manch Vertreter der verschiedenen Ministerien und Behörden lässt sich Zeit, um zur Sitzung zu gelangen. Ein Armutszeugnis per se für die von früheren Erfolgen verwöhnte Politikerkaste.
„Jeder Mensch auf der Welt war Geisel irgendeiner Form von Gewalt, nur dass die meisten Leute es nicht merkten.“
Doch nicht nur allein diese fortschreitende Besatzung der Insel, die auch ermöglicht wird durch allzu lasche Sicherheitsvorkehrungen, wirkt unheimlich beklemmend. Es ist auch der Kontrast zwischen der Hilflosigkeit der Japaner und den präzis geplanten Aktivitäten der Nordkoreaner, die zu allem fähig sind und in nur kurzer Zeit ein Lager aufgebaut und ihre Macht ausgebaut haben. Verschiedene Welten – politisch wie gesellschaftlich – prallen aufeinander. Die Elitesoldaten treibt ihr Glaube an ihr Heimatland und ihren Führer an. Jeder von ihnen hat eine spezielle und harte militärische wie universitäre Ausbildung durchlaufen. Mit bloßen Händen vermögen sie, einem Menschen das Leben zu nehmen. Um an Informationen zu gelangen, foltern sie und nehmen dafür grausame Methoden zur Hilfe. Einige der in Fukuoka handelnden Sequenzen werden dabei mehrfach geschildert: Einmal aus einer direkten Position vor Ort, ein anderes Mal in Form von Medienberichten, die weitere Protagonisten von anderen Stätten des Landes aus verfolgen. Der Leser pendelt von Ort zu Ort, von Person zu Person.
Kühler Erzählton
Das Geschehen, das nur wenige Wochen im Frühjahr 2010 umfasst und damit in einer jüngeren Vergangenheit angelegt ist, wird in einem sehr nüchternen, kühlen, fast nachrichtenhaften Ton erzählt, so werden beispielsweise die zahlreichen Mitglieder des Krisenstabs mit Namen und Funktion aufgezählt. Die Gewaltszenen werden detailreich und bildhaft geschildert und sind damit nicht unbedingt geeignet für sensible Seelen. Murakami, 1952 in Sasebo als Sohn eines Lehrer-Ehepaars geboren und als Drehbuchautor sowie Regisseur tätig, fährt ein umfangreiches Personenkarussell auf, so dass man dankbar ist für eine Liste der Namen im Anhang, zumal japanische und koreanische Namen sich nicht unbedingt schnell im Kopf des Lesers einprägen.
Was diesen spannenden und gesellschaftskritischen Roman indes besonders auszeichnet, ist das Verhältnis Mensch und Gesellschaft sowie die interessante Frage, welche Rolle der Einzelne in einem Staat spielt, die Murakami in seinem Werk, das zudem Einblicke in die Diktatur Nordkoreas und die durch Propaganda geformte Gedankenwelt der Einwohner gibt, verhandelt. Ich bin nunmehr sehr gespannt auf den zweiten Teil, der für Ende Februar angekündigt wird. Den anderen Murakami gilt es also zu entdecken! Im österreichischen Septime Verlag sind bereits drei Romane des Japaners, der als Enfant terrible gilt, erschienen.
Eine weitere Besprechung gibt es auf „postmondän“.
Ryū Murakami: „In Liebe, dein Vaterland. I: Die Invasion“, erschienen im Septime Verlag; in der Übersetzung aus dem Japanischen von Ursula Gräfe; 456 Seiten, 26 Euro
Foto: pixabay
Es ist Tatsache. Bis jetzt habe ich keinen Murakami gelesen. Der hier könnte mich interessieren.
Sind die beiden Autoren miteinander verwandt?
Guten Morgen und viele Grüße.
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Oh, da gilt es aber einiges nachzuholen ;). Ich habe keinen Hinweis gefunden, dass beide miteinander verwandt wären. Viele Grüße nach Dresden
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