Bei posthumen Ausgrabungsstücken verblichener Autoren ‒ nachgelassenen Erzählungen, lange verschollenen Frühwerken oder deren Fragmenten ‒ beschleicht mich immer ein leiser Verdacht, dass hier jedes Restchen verwertet werden soll, und so habe ich mich auch diesem Buch mit Skepsis genähert. In ihm erzählt der junge Henning Mankell von einem Arbeiterleben in Schweden von 1888 bis 1969, dem Leben von Oskar Johansson, dessen Aufgabe es ist, Sprengungen für den Straßen- und Tunnelbau auszuführen und zu überwachen.
Mankell erzählt nicht chronologisch, sondern springt in den Jahrzehnten hin und her, was aber nie verwirrend ist. Mal erleben wir mit, wie Oskar 1911 eine missglückte Sprengung nur knapp überlebt und ein Auge und acht seiner Finger einbüßt. Nach Monaten aus dem Spital entlassen, arbeitet er trotz dieser Beschädigung, trotz dieses Traumas sofort wieder als Sprengmeister. Nur ein Kapitel weiter befinden wir uns in Oskars umgebauter Militärsauna auf den Schäreninseln, der Sommerresidenz seiner späten Jahre. Hier besucht ein Ich-Erzähler in Abständen den inzwischen alten Mann. Der Gast, eine Mischung aus Freund und Interviewer, bleibt absichtsvoll konturlos und ist wohl eigens dafür geschaffen, den einfachen, ansonsten nicht individuell in Erscheinung tretenden Arbeitern wie Oskar eine Stimme zu geben.
Oskar ist Sozialdemokrat und Gewerkschafter mit Leib und Seele und träumt sein Leben lang von der Revolution. Gegen Ende der Lektüre habe ich mich allerdings gefragt, ob der Titel des Buches vielleicht ironisch gemeint ist. Hier wird nichts gesprengt, die Revolution kommt nie. Vielmehr ist es eine bestimmte Haltung, die Oskar auszeichnet und Menschen wie ihn zum Rückgrat der Arbeiterschaft, zum Rückgrat der Gesellschaft macht. Eine große Rolle spielt zum Beispiel ein Bild aus Amerika, das Oskar besitzt und das die kapitalistische Gesellschaftsordnung karikiert: obenauf der Geldsack, dazwischen Kirchenmänner, Könige und Bürger, ganz unten das arbeitende, stets mittellose Volk, das alle Last auf seinen Schultern trägt. An diesem Bild hängt Oskar, es wandert mit ihm von bescheidener Wohnung zu Wohnung, und er und seine Frau stehen oft davor, um es zu betrachten und immer neue Details zu entdecken. Eines Tages dreht Oskar aus Spaß das Bild an der Wand um, sodass es kopfüber hängt, die Eheleute lachen ein bisschen, und das war es auch schon mit dem gesellschaftlichen Umsturz.
All diese kleinen und großen Ereignisse, die Fitzelchen eines Lebens, pickt sich Mankell scheinbar wahllos heraus. Er richtet den Fokus auf einen bestimmten Punkt, entfernt sich wieder, setzt neu an ‒ immer, um diese fiktive Biografie in den Griff zu bekommen. Die behutsame Annäherung des Autors an seine Figur hat etwas ungemein Respektvolles, das mich stark beeindruckt hat.
Auch Mankells Erzählstil, oft als lakonisch bezeichnet und hier bereits unverkennbar, hat mich sehr für den knapp zweihundert Seiten schmalen Roman eingenommen. Wenn Oskar und der Erzähler sich über eine lange Strecke darüber unterhalten, dass nun der Herbst und der Winter kommen und es kühler wird, dann wäre das bei einem anderen Autor nach zwei Absätzen langweilig. Bei Mankell schimmern zwischen den scheinbar banalen Dialogzeilen die Farben der Felsen und des Meer draußen hindurch, ich sehe die Bretterbude und darin am Tisch den wortkargen und wenig sprachgewandten Oskar mit den ihm verbliebenen drei Zähnen, ich rieche den Ölofen und spüre, wie es nur in einem kleinen Radius um den Ofen warm ist. Schon in diesem frühen Roman zeigt sich Mankells Begabung, mit Worten wie mit sparsamen Pinselstrichen zu malen und mit einem kurzen Satz eine Welt auszudrücken. Das macht das Buch zu einem Lesegenuss, den ich gerne empfehle!
Ihre Kristin Lange