4.-9.2.2017 – Glückwunsch

Hallo Papi – alles Gute! 110.

Das zu Deinem Geburtstag: einen Traum und den Text, den ich daraus gemacht habe, 1992, da warst Du schon drei Jahre nicht mehr da.

Traum
Ich finde meinen Vater vor dem Fernsehapparat eingeschlafen.
Er ist so schwach, dass er sich kaum aufrechthalten kann,
fast umkippt oder in sich zusammenfällt, wenn ich ihn nicht stütze.
So darf ich mich niemals wieder entfernen.

Text
Wenn die Katzen und die Kinder gegangen sind
werde ich den Vater
am Samstagabend
mit dem Kopf voran
in die Fernsehtruhe schieben
wo ihn Frankenfeld und Kulenkampff
in Empfang nehmen.
Dann werde ich
die beiden Schwingtüren leise
hinter seinen Füßen schließen
und gehen

Wenn Regen und Wind die Schneedecke wegziehen, wird die Welt wieder lauter. Der Zug, die B 300, Motorsägen, das Ächzen von stürzenden Bäumen, Kirchenglocken stereo.
Stimmen aus dem Wald und Vögel. Sie rufen, piepsen, krächzen, schwirren, wenn der Tag hell ist.
Singen wollen sie noch nicht.

Leistung droht. Das, wovon ich erzählen will, wird zu einer Geschichte. Einem Text mit Anfang und Ende und richtigem Zusammenhang. Ich stelle sie mir interessant und lebendig und gescheit vor – da ist es vorbei. Nichts geht mehr. Das Spiel ist aus.
Weil es kein Spiel mehr ist.
Und wo Leistung ist, da ist auch Verweigerung. Da verweiger i! (geklaut bei meiner Tochter, als sie fünf war)
Das was ich mir als Ganzes vorstelle, kann ich nicht machen. Dafür reicht meine Kraft nicht mehr. Überforderung und die Freude am Machen ist weg.
Also: schreiben nur, wenn es leicht ist. Beinahe hätte ich den falschen Weg genommen und wäre in einer Sackgasse gelandet. Ihr Ende habe ich schon gesehen.

5.2.2017

Wo ist nun die verlorene Unschuld? Ich fange mal so an:

Sonntag. Angetäuschter Frühling nach einer stürmischen Nacht, die die Gießkannen aus ihren Ecken geholt und auf die Wiese geworfen hat. Warum liegen sie da? Ach so – da war dieser Wind, der die Wolken am halben Mond vorbei und mich ins Haus gejagt hat, als ich aus dem Theater kam. Als ich die Haustür hinter mir zumachte, hatte ich das Gefühl, gerettet zu sein. Gottseidank die Tür ist zu. Gießkannen und ein kleiner Haufen vom Schneemannbauch liegen herum, wo sie nicht oder nicht mehr – wer kann das wissen – hingehören. Die Vögel nennen den Tag heute vielstimmig Frühling, die Eichhörnchen, die sich die Birke hinauf und hinunter jagen, auch. Ein schwarzes und ein braunes, die Farbe des anderen stört sie anscheinend nicht – wo das schwarze doch aus Amerika kommt.

TOSCA. Diese Aufführung hat mich die alten Spuren nicht wiederfinden lassen, so wie es RIGOLETTO getan hat. Da habe ich nur weinen können.
Gestern war Lachen am Ende und Kopfschütteln. Ich höre mich sagen: das muss man gesehen haben! Den Sprung der Tosca von unserem postfaktischen Stadttheater und ihr Herauskullern aus dessen Türen. Auch meine Nachbarin lacht. Wer lacht hier nicht?
Ich merke, dass meine Sehgewohnheiten sich noch nicht an die globalisierte Aufführungspraxis von Opern angepasst haben. Ein Duett zwischen dem kleinen Südkoreaner und der großen Südafrikanerin mag ich nur mit geschlossenen Augen hören. Da helfen auch die Kästen nicht, auf die sich Cavaradossi stellt. Er muss eine Leiter hinaufsteigen, damit Tosca ihren Kopf auch mal an die Brust ihres Geliebten legen kann.(Was für ein Einfall!) Eigentlich schade, denn sie singen gut. Nur ich habe das Problem. Ich mag diese Grenze in mir nicht, finde sie völlig unzeitgemäß, von gestern eben. Mein Cavaradossi war groß.

Zwei Pausen so lang wie ein Werbeblock im Privatfernsehen. In der zweiten gehe ich auch hinaus, mal sehen, wen ich treffe. Ich war neugierig, wer würde es sein? Ich wollte auf sie oder ihn zugehen: du auch hier?!? Aber da war niemand, den ich kannte. Auch nicht vom Sehen. Ich fange an zu rechnen: wie lange habe ich in dieser Stadt gelebt? 66 Jahre minus drei? Mit Unterbrechungen. Die Menschen sind mir unglaublich fremd. Fremder als im Fernsehen. In den blödesten Serien ist auf sie Verlass. Ich gehöre hier nicht mehr dazu. Oder meine Freunde mögen keine Opern. Ich werde mit dem Hund auf den Feldweg gehen, wenn ich jemanden treffen will, der mich wiedererkennt.

6.2.2017

Nett von mir, dass es hier um acht Uhr schon warm wird. Kommt mir wie eine Überraschung vor. So früh heize ich nie. An einem Montag, wo ich die Welt außen vor lasse. Danke.
Mein Hals tut weh. Kopf und Körper sind schwer. Muss ich wirklich mit dem Hund gehen? Ja, muss ich, sonst geht er eigene Wege. Er hat sich seine Ausgänge gegraben, die er auch als Eingänge braucht, wenn er von einem großen Hund gejagt wird. Die tun das gerne, wenn sie einen kleineren weglaufen sehen.
Ich würde keine größeren körperlichen Einschränkungen ertragen, erdulden, dulden. In Unduldsamkeit bin ich ganz groß.
Wieviel lasse ich noch zu?
Ist es nicht scheußlich genug, wenn du dir bei jedem Bücken überlegst, ob es wirklich nötig ist oder vielleicht doch nicht? Wenn du dir etwas vorgenommen hast, wie die hundert Maulwurfshügel zu verteilen, sobald sie aufgetaut sind, und nach einer Stunde – bei fünfzig Hügeln – schon müde bist?  Dann mache ich die nächsten fünfzig morgen. Mit der Lust, etwas anzupacken, so schnell an eine Grenze zu kommen, ist kränkend. Möchte ich vermeiden. Besser wird es damit nicht, im Gegenteil.
„Ich verroll mich jetzt.“ Sage ich gern, wenn ich am Abend ein Telefongespräch beenden will. Habe das noch niemanden anderen sagen hören. Wo ich das herhabe? Nein, nicht vom Hund. Den Satz gibt es schon länger. Ist meiner. Ich verroll mich jetzt. Weil ich krank bin.

7.2.2017

Drei Zähne mussten meinem Hund gezogen werden. Jetzt fehlen ihm zehn. Nein, er hat keine gute Ausstattung mitbekommen dort auf den Straßen Rumäniens, wo gerade die Menschen zu Tausenden und pausenlos gegen Korruption demonstrieren. Ich sage zu Yalla: schau, da kommst du her! Bukarest. Yalla schaut nicht. Nur wenn ein Hund bellt, interessiert sie das Fernsehen. An diesem Tag hat Yallas Bellen gefehlt.
Der Tierarzt hat seine Praxis gegenüber meinem Zahnarzt. Ich überlege kurz, ob ich hinaufgehe und einen Termin mache. Ich kann es nicht länger leugnen, dass die Schmerzen im Kopf von dem Zahn kommen, über den der Arzt beim letzten Mal schon gesagt hat: wenn er wieder wehtut, tun wir nicht lang rum. Dem habe ich zugestimmt, ja, auf der anderen Seite habe ich den letzten auch nicht mehr. Aber das war was anderes. Da war ich noch keine vierzig. Jetzt gehört so eine Entscheidung zu den Überlegungen von der Art Wieviel-akzeptiere-ich-noch? Wann ist Schluss? Zugegeben: ein Zahn steht noch in keinem Verhältnis zum Leben – aber er genügt für den Anfang eines Gedankens, der eine bestimmte Richtung hat.

8.2.2017

Auch heute Nacht haben wieder die Füchse gebellt.
Wo jetzt noch Eis im Bach ist, fließt das Wasser drunter durch. Flache Weiher sind weiße Inseln im Schilf. Ein Fischreiher hebt ab, als wir vorbeikommen.
In den siebziger Jahren sind wir darauf mit den Kindern Schlittschuh gefahren. In diesem Winter kommt es mir so vor, al sähe ich dieses Weiß zum ersten Mal.
Morgen will ich mir neue Skistiefel kaufen. Meine sind zu kalt, weil schon zu alt. Im letzten Jahr haben die Füße manchmal so weh getan, dass ich aufgeben musste. Da habe ich mir vorgenommen, wenn ich noch weiter fahren will, dann muss ich neue Schuhe haben. Es werden die letzten sein, das ist sicher. Ich werde so lange Ski fahren, wie ich laufen kann, sag ich immer. Meine Mitfahrerin korrigiert: wie ich aufstehen kann. Sie hat Recht. Das Hinfallen muss vermieden werden, das Aufrappeln ist so peinlich, aber das war bei mir schon lange so. Ich muss noch sehr jung gewesen sein, als man mich lachend im Schnee liegend fotografierte.
Als mein Vater schon einige Jahre allein lebte, fielen die Schuhe, die er jeden Tag trug, fast auseinander. Er war nicht zu überreden, Schuhe kaufen zu gehen: „Warum, die sind doch noch gut!“ So habe ich mir die guten schwarzen, die er nur zum Smoking trug, genommen und ein Paar gekauft, das seinen alten am ähnlichsten war. Sie haben gepasst. Da hat sich dann mein Vater doch gefreut, geschmunzelt und mit Befehlston gesagt: „Das sind jetzt aber die letzten!“
„Sag sowas nich!“ – war meine Antwort, ich wollte es nicht hören. Jetzt denke ich es oft selbst. Als ich das vor einigen Jahren über das Bügeleisen sagte, war meine Tochter ärgerlich. Das habe ich nicht verstanden: wieviele Bügeleisen braucht man denn im Leben? Über das letzte Auto darf gesprochen werden. Bei der Frage, wann es dran ist, wird es kritisch.
Bei vielen kleinen Dingen, wo ich es – mit Erleichterung – denke, behalte ich es für mich.

Jetzt klaue ich bei mir selber einen Text von vor 20 Jahren:

Mein Kühlschrank

Manchmal kommt es mir so vor, als sei ich dazu auf der Welt, einen genau bemessenen Haufen,
der nur für mich bestimmt ist, aufzuessen. Und erst, wenn der Haufen weg ist, kann ich gehen.
Immer wenn ich meinen Kühlschrank wieder einmal fast geleert habe, denke ich: jetzt ist es soweit.
Ich warte einen Tag – und noch einen.
Dann gehe ich wieder einkaufen.

Und nun muss ich mir – noch – einen Kühlschrank kaufen! Zweimal hat er sich schon ausgeschaltet und war tagelang nicht zu überreden. Das kann jederzeit wieder sein. Vielleicht ist es dann Sommer.
Das ist aber nun wirklich der letzte!
Heute bellt Yalla wieder.

9.2.2017

Ich treffe Freunde in dem Café, wo es manchmal Araber gibt, das Gebäck aus Zucker und Sahne. Als ich beim letzten Mal keinen sah und danach fragte, verstand die Bedienung nicht, was ich meinte. Sie war neu und hatte eine östliche Färbung in ihren Worten. Ich kam mir komisch vor, als ich meine Frage wiederholte, ich hab dann beschrieben, was ich meinte. Sie fragte hinten nach und kam kopfschüttelnd wieder: heute keine Araber. Ich komme mir blöd vor und frage mich, warum das Ding immer noch Araber heißt. Mohrenkopf und Negerkuss sind doch schon lange tabu. Einen Araber darf man sich noch immer auf der Zunge zergehen lassen.

Ich werde Idrissa die versprochenen 100 € schicken und ihn dann anrufen, um ihm die Transaktionsnummer zu sagen. Dann wird er mit seinem Kamel nach Goundam gehen und einkaufen. Inshallah.
Schon wieder Telefon aus Mali mit 74 hinten. Es nervt mich, wie leicht Idrissa zum Telefon greift. Diesmal rufe ich nicht zurück. Ich sage ihm die Nummer am Montag. Die Bank hat jetzt sowieso drei Tage zu.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de