12.-17.2.2017 – Mondmonate
12.2.2017
Es gibt für meinen Text einen Ort und der heißt: ohnesinn.net. Er ist von morgen an für mich reserviert. Dann kann ihn mir keiner mehr nehmen. Juhuuu!
Aber ich will diesen Ort noch nicht betreten. Es wird eine neue Wirklichkeit sein, die ich nicht kenne und von der ich nicht weiß, wie sie auf mich wirkt. Ob sie mich beflügelt und bestärkt in dem, was ich mir vorgenommen habe, oder ob sie mir Angst macht. Das würde mich nicht überraschen.
Ich möchte noch ein paar Schäfchen in Trockene bringen, bevor ich sie freilasse. So junge Geschöpfe muss ich doch schützen vor meiner Sorge, dass ich sie nicht durchbringen könnte. Vielleicht müssen es zwölf sein.
Ich könnte von Vollmond zu Vollmond schreiben, den Text in Mondmonate teilen.
Teilen. Ich meine es richtig. Nicht in dem neuen Gebrauch (der mich immer noch stört), wo nichts geteilt wird, wenn geteilt wird. Jeder behält alles, was er gibt, und nennt es teilen.
Es gefällt mir, dass ich bei Vollmond begonnen habe. Ich habe es nicht gemerkt und nicht beabsichtigt. Umso besser. Wo ich doch dem Unbeabsichtigten immer mehr traue als dem Beabsichtigten. Den Fehlleistungen mehr als den Leistungen.
Also lasse ich dem Mond wieder einmal die Zeit vorgeben. Wie bei meinem ersten Buch. Das nannte ich Ramandan.
als die Stunde zwischen Hund und Wolf zu Ende geht
Ein Kauz ruft aus dem Wald
ein Flugzeug brummt
ein Zug
der Kauz von weiter her
ein Schuss und die Stille danach
und weit wie ein Tag
13.2.2017
Es ist noch zu früh, um bei Idrissa anzurufen. Sieben Uhr ist dort sechs. Aidra kommt immer erst aus dem Zelt, wenn die Sonne aufgeht, um Feuer für das Teewasser zu machen. Ich warte, bis der Tee getrunken ist und Idrissa die Ziegen gemolken hat.
Dann meldet er sich ungewöhnlich zurückhaltend, was sich aber sofort ändert, als er mich erkennt. Lachen und Freude. Wie es geht – hin und her, und dann: ich sage dir die Nummer. Hast du was zum Schreiben? Blöde Frage. Sand und Finger hat er immer. Oui, oui!
Dass es bewölkt ist und regnet, erzählt er. Ganz aufgeregt. Ich meine: Regen – das ist doch gut?!? Nein, es ist nicht gut für die Tiere. Verstehe ich nicht. Da hilft auch seine wiederholte mir unverständliche Erklärung nicht.
Was es wieder zu viel auf einmal?
Risiko: es ist Montag und ein dreizehnter, und ich will einen Kühlschrank kaufen. Aber morgen soll die Sonne scheinen, da will ich hier nicht weg. Wenn das Wetter schön ist, kommt ein Mann, der mir beim Aus- und Einbau helfen kann.
Wenigstens die Zeit muss ich einhalten: Entscheidungen nur zwischen 11 und 12 Uhr.
14.2.2017
Drei Bewerber gibt es für zwei Stellen in der Unibibliothek. Es ist, als müsste ich darum kämpfen. Dann drehe ich mich schnell entschlossen um, sage: nein! Alles auf Los! Auf Anfang!
Entschlossen und voller Tatendrang wache ich auf.
Es war sehr hell, als ich ins Bett gegangen bin. Gerade war der Mond aus den Bäumen gekommen. Ich musste mich zur Wand drehen, um einzuschlafen. Es muss halb vier gewesen sein, als ich aufgewacht bin. Da war der Mond gerade in der Mitte meines großen Fensters. Ich habe ihm zugeschaut, bis er über das Dach verschwunden ist. Dann konnte ich wieder einschlafen.
Gegen Morgen ist Nebel aufgezogen. Er lässt sich Zeit und uns auf Sonne warten. Sie schafft es bis Mittag und bleibt, bis die Erde sich wegdreht.
Der Montag hat sich von seiner bekannten Seite gezeigt. Den Auftrag von gestern habe ich schon widerrufen, nachdem ich kurz ins Internet geschaut habe. Hätte ja gerne den Klick in der Stadt gelassen, aber nicht für 130 Euro. Für die Differenz kaufe ich jetzt die Folien, die aus meinem Gras eine Blumenwiese schaffen sollen. Also noch kein Kühlschrank. Dabei habe ich dem Verkäufer auch meinen Satz dagelassen: das ist der letzte. Noch schnell die Nachfrage: wie alt werden Kühlschränke? Er: man sagt 10 Jahre, seiner sei 14 Jahre alt. Damit kann ich leben. Also wird das der letzte.
Eine merkwürdige Vorstellung: Wer diesen Text liest, kann gleich schauen, wie es weitergeht. Bis zum Ende des Mondmonats mindestens. Ich, die ich hier und heute schreibe, kann das nicht.
Das gibt eine große Telefonrechnung. Beide Überweisungen, die für Idrissa und die für Mamadou, sind nicht nach Mali gegangen. Wohin, das sagen sie mir bei Western Union nicht. Es muss nicht mein Fehler gewesen sein. „Die Zahl ist falsch“, kommt es aus Tombouctou und Goundam. Wir kontrollieren, vergleichen, ich telefoniere mit WU. Falsches Land, sagen sie, alles nochmal. Wieder rufe ich in Mali an, gestern und heute. Bei Mamadou sind im Hintergrund immer Kinder zu hören, bei Idrissa ist es eine laute Stadt. Wo hat er sein Kamel gelassen? Er versteht mich kaum, wir müssen dreimal hin und her wiederholen, bis ich ihm Glück wünschen kann, inshallah!
Ich bin erschöpft. Wie nach dem Deutschunterricht mit Flüchtlingen. Aus Nigeria und Somalia waren sie. Ich hatte geglaubt, mit dieser Arbeit aus dem drückenden, schlechten Gewissen herauszukommen, und bin schon bald an meine Grenze gekommen: dass ich jedem Hoffnung wünsche, aber selber keine habe. Dies war – ist? – kein Ort für Flüchtlinge, wo Mutti weinend nach Hause kam, weil sie nach der Flucht aus Ostpreußen hier angekommen mal wieder als Hura-Flichtling beschimpft worden war. Immer wieder das: Hura-Flichtling!
Ich sehe ja, dass vieles heute ganz anders ist, ich wünsche und hoffe es. Aber vielleicht darf man nicht meine Geschichte haben, um dran zu glauben.
Ich brauche die lange nicht beanspruchte, daher auch nie in Frage gestellte Dialektik. Hegel, Marx und Bloch in Tübingen. Der Verlauf der Geschichte durch die in ihr enthaltenen Widersprüche. 70 Jahre ohne Krieg.
Hier. Uns geht es gut, weil es anderen schlecht geht. Das muss einmal kippen. Vielleicht ist das jetzt. Mittlerweile ist der Horizont unendlich, und man muss alles sehen, hören, wissen. Das ist der Unterschied zu den Kriegen von früher. Muss nicht schlecht sein, ist aber so wahnsinnig schwer zu ertragen. Was macht es aus uns: wissen ohne fühlen ist böse.
15.2.2017
Was hat mich gestern Abend so rundherum glücklich gemacht? Skischuhe - Lesen in der Sonne - oder einfach nur, dass ich hier bin?
Und dann war da noch vieles, zu vieles, ich dachte: muss ich nicht notieren, weiß ich doch.
Heute habe ich vergessen, was da noch war, als ich mich mit meiner halben Bierflasche an den Ackerrand ins trockene Gras gesetzt und der Sonne beim Untergehen zugesehen habe.
Etwas habe ich nicht vergessen: ein Vogel hat gesungen. Hinter mir im Garten, noch nicht so laut, wie es ein paar Wochen später klingen wird, aber es war sein Lied. Das erste Lied nach diesem Winter.
Ihr Geld wurde vom Empfänger abgeholt. Endlich. Beide Überweisungen sind angekommen.
Und auch eine Mail von Mamadou, wo er schreibt, dass sie die Unterstützung einer ONG aus Deutschland bekommen, und hofft, dass er mich dann weniger ermüden (fatiguer – ermüden, müde, todmüde machen) wird. Wie ich es ihnen wünschen würde! Ich konnte das Traktorprojekt nicht übernehmen, egal auf welchem Weg. Mir fehlt inzwischen die Kraft und der Glaube ans Gelingen. Wo sind die Rechner, Drucker, Scanner und alles, was das Internetcafe brauchte, geblieben? Meinen übrig gebliebenen Namen soll Mamadous viertes Kind bekommen, wenn es eine Tochter ist. Na prima.
Ich würde gern so schnell reden und schreiben können, wie ich denken kann. Wie Roger Willemsen, der konnte das. Auch noch nachts um zwei, wenn wir nach einem langen Musil-Tagungstag in Klagenfurt, wo wir beide etwas zu sagen hatten, noch mit meinem Panda an den Wörthersee gefahren sind. Nannini-Express hat er mein Auto genannt, weil Gianna Nannini immer dabei war. Sogar schwimmend hat Roger nicht zu reden aufgehört, so atemlos wie immer.
Wenn ich nach der Runde mit dem Hund aufs Haus zugehe, ist es jetzt so, als würde da einer warten, dem ich erzählen kann, was ich gesehen, gehört, gedacht habe. Der das so gerne wissen will wie einer, der mich mag.
Bis dass der Tod uns scheidet. Der Wunsch ist heute so wahr wie damals. Aber diesmal liegt es nur an mir. Oder auch wieder nicht? Ich denke daran, wie es mir mit meinem Ramadan gegangen ist. Muss es denn immer so sein, dass das, was man fürchtet, das vertreibt, was man wünscht?
Do not forsake me oh my darling. Gute Zeit zum Aufhören für heute. Zwölf Uhr mittags.
16.2.2017
Die Ränder der Eisflächen in den tief liegenden Ackerfurchen fransen aus. Die trockenen Blätter sind jeden Morgen halb weiß und halb braun. Meine Feldpost meldet, dass die Rinder kommen. Ich sage: „Dann hast du die Flüchtlinge und die Rinder“ – und grinse.
„Hast du schon von den Kälberställchen gehört?“ fragt mich eine Nachbarin – dabei ist sie wütend und hat Angst vor den Folgen. Kälberställchen.
Warum immer mehr Rinder, wo doch jeder weiß, wie es um die Welt und ihre Menschen steht.
Die Stare sind – noch? – nicht angekommen. Im letzten Jahr war nur einer der beiden Kästen bewohnt und auch nur einmal. Oben hinter dem Wald sind sie schon, hier fehlt ihr Ruf – dieser langgezogene Ton von unten nach oben und wieder zurück. Vielleicht haben sie hier nicht mehr genug Nahrung für ihre Jungen gefunden, sie nicht groß gekriegt zwischen Mais und Mais. Ich wünsche mir so sehr, dass sie wiederkommen.
Als mich der Frühling so frisch angeweht hat, dass ich fast die Arme ausgebreitet hätte, kam mir der Gedanke an Paul und ich habe mich gefragt: wie wäre es, wenn ich wüsste, es ist mein letzter. Der Gedanke hat mich gekrallt, fast wie damals, als ich die Krebsdiagnose bekommen hatte. Da stand ich gerade am Herd und machte mir etwas zu essen. Ich glaube, das habe ich dann gelassen. Das war der Anfang von dem Leben, das ich jetzt lebe. Am Rand, an den Übergängen, und ich habe nicht mehr weggehört, wenn Spiritualität zur Sprache kam.
Ich habe Paul angerufen, ganz ruhig war er und gerade dabei, zum Essen zu fahren. Ich habe gesagt, dass ich ihn bald wieder besuchen möchte. Da würde er sich freuen, sagt er.
Dieser Tag ist der Geburtstag von meiner Freundin Ute, mit der ich, 1950 hier angekommen aus Oberfranken, in die Grundschule gegangen bin. Ich habe sie jeden Morgen abgeholt, kam sowieso bei ihr vorbei, sie wohnte gegenüber der katholischen Schule, wir mussten den weiten Weg zu der evangelischen laufen. Von dem Stück Schulweg, den ich allein gegangen bin, habe ich noch oft geträumt. Einmal auch geschrieben.
Haus meiner Eltern in der Weißenburgerstraße um die Ecke zur Spicherer
am Zaun entlang
dessen Latten ich jeden Tag schlagen und die Zwischenräume zählen musste
und wäre in die einmündenden Straßen verlaufen ein Brei aus Fleisch
rosarot und weich wie warmes Wachs
17.2.2017
Gestern Abend habe ich die erste Amsel singen hören. In der Nacht ist der angekündigte Regen gekommen. Der Boden wird weich.
Ich werde mit dem Hund durch den Wald den Berg hinauf gehen. Das muss jede Woche einmal sein, seit ich gemerkt habe, wie schnell mir die Puste ausging. Das war vor fünf Jahren, als ich beim Umsteigen auf dem Weg zu einer Freundin, die ihren 75. Geburtstag feiern wollte, den Zug sah, der gerade abfahren wollte, und einfach nicht schneller laufen konnte. Das war ein Schock. Und ich habe mich vor der Enkeltochter meiner Freundin geschämt, mit der zusammen ich gefahren bin. Sie konnte den Zug aufhalten.
Ich habe dann überlegt, dass in meinem Alltag eigentlich keine Treppen mehr vorkommen, seit ich hier draußen lebe. Da musste ich etwas tun und habe mir den Weg durch den Wald nach oben vorgenommen. Zuerst habe ich dreimal stehen bleiben und verschnaufen müssen, dann zweimal, einmal und jetzt schaffe ich es ohne anzuhalten. Das soll so bleiben. Dafür darf es nie ausfallen.
Nächste Woche wird die Freundin 80 und ich fahre wieder mit dem Zug zu ihr.
Ich zehre noch immer von meinem Geburtstag, esse nach und nach Reserven auf, die ich inzwischen schon vergessen hatte.
Es regnet dünn und leise. Die Tropfen in den Pfützen vor dem Fenster kann ich zählen.
Wir saßen auf einer Düne, drei Kameltage von Timbuktu entfernt, und in der Ferne bewegte sich eine Karawane von links nach recht auf Timbuktu zu. Da hatte ich „siebzehn“ gesagt. Idrissa hatte gerade die Glut vom Abend angeblasen und das bereitgelegte Holz darauf gelegt, um den ersten Tee und Wasser für meinen Kaffee zu kochen. „Immer zählst du. Warum?“ hat er mich gefragt. Stimmt: Bäume, Enten, Autos – alles bekommt eine Zahl, wenn es nicht zu viel wird. Zählen. Das war das Erste, was mir dazu einfiel. Ihm fiel es nur auf, dass mir das einfiel.
Aber damit bin ich nicht allein. Ich habe aus Tombouctou einen silbernen Ring mit dem Tifinaq-Alphabet in der Anordnung von 8 x 8 Kästchen. Ich zeige ihn gerne und möchte Bewunderung, vielleicht Staunen sehen. Da sagt dann der/die Andere: vierundsechzig. Toll.
Das ist schon ein paarmal passiert und ich frage mich immer noch, warum. Habe noch keine Antwort gefunden.
Klaue bei Benn, weil der mir bei diesem Satz hier immer, wirklich immer, einfällt:
Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und das Gute kommt.
Weiß es auch heut noch nicht und muss nun gehen.
Dabei ist Tropfen in den Pfützen zählen von allem Sinnlosen noch das Sinnvollste, denn zu viele Tropfen mag der Hund nicht und ich warte mit dem Hinausgehen, bis es weniger sind.
Mit 74 neue Stiefel. Ist das Mut oder Übermut? Wo meine Füße doch immer empfindlicher geworden sind, beim barfuß Gehen schon weh tun. Sollen die Stiefel nun besonders gut oder besonders billig sein?
Vielleicht ist hier meine Grenze. Nicht beim Aufstehen, ich komme noch immer auf die Knie, wenn ich die Bindung aufmache. Aber bei den Füßen.
Nach einer Woche habe ich doch noch Schuhe gefunden, die mir nicht weh tun und nicht zu teuer, weil weich und Gottseidank unsportlich sind. Endlich.
Soll ich die Stiefel nächste Woche mal ausprobieren? Nach dem Motto: jetzt erst recht!
Beim Heimfahren sehe ich Hanna, die ich bei Paul kennengelernt habe, mit ihrem Hund an der Ampel stehen. Ich winke, sie sieht mich auch, winkt zurück. Würde gerne mal wieder mit ihr reden, aber ich kann da nicht anhalten. Werde anrufen. Denke: in diesem Jahr werden wir zusammen an Pauls Grab stehen.
Die Pfütze ist ruhig, komm, Yalla, jetzt gehen wir.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de