XV

Trennen wollten wir uns? wähnten es gut und klug?
Da wirs taten, warum schröckte, wie Mord, die Tat?
Ach! wir kennen uns wenig,
Denn es waltet ein Gott in uns.

Den verraten? ach ihn, welcher uns alles erst,
Sinn und Leben erschuf, ihn, den beseelenden
Schutzgott unserer Liebe,
Dies, dies Eine vermag ich nicht.

Friedrich Hölderlin
(Aus: Der Abschied)

*

Dieser Sommer, in der falschen Jahreszeit begonnen: Hat er eine Zukunft, könnt ihr ihn aus dem Winter hinüberretten? Bange Frage. Ihr fandet euch, verlort euch aus den Augen, suchtet euch, fandet euch wieder. Euer Dichter musste euch Vermittler sein. Tage wie in Trance zugebracht. Traumwandler, ihr!

Wie wird es weitergehen, wie kann es weitergehen? Ihr verschiebt den Gedanken. Verdrängt. Für deinen Philosophenfreund naht der Tag der geplanten Abreise. Wirst du ihn ziehen lassen können? Damals, vor eurem Treffen, als du, halb im Scherz, sagtest: „Warte, mein Lieber, vielleicht, wenn du mich erst einige Zeit um dich hast, bekommst du mich bald satt und die Sache löst sich ganz schnell!“ Heute weißt du: diese Option entfällt. Ihr seid aufeinander zugewachsen, unaufhaltsam, täglich ein Stück mehr. Alle vorhandenen Grenzen sind längst überschritten. Viel zu weit! Zu vieles offenbart. Alles in die eine Waagschale geworfen. Sich ausgeliefert. Ungeschützt. Zwei Menschen, die sich gegenüberstehen, ohne jene Schutzhaut, mit der ein hoher Anteil der Menschheit normalerweise ausgerüstet ist. Warum nicht ihr? Ein angeborener Defekt? Genetisch bedingt womöglich? Oder unbestimmtes Schicksal? Ihr wisst es nicht. Aber ihr hattet es aneinander wahrgenommen mit dem untrüglichen Instinkt derjenigen, die sich damit auskennen, denen jemand mit ähnlicher Struktur nichts mehr vormachen kann. Längst nicht mehr.

„Wer gab uns nur die tiefen Blicke“, so schrieb er dir, in Anlehnung an ein Goethe-Gedicht. Du kanntest es nicht, suchtest es vergebens in deiner eigenen Bibliothek. Die Bildungsmisere beginnt immer in den eigenen vier Wänden! Musstest wieder einmal das moderne Medium Internet befragen. Und fandst dieses:

Warum gabst du uns die tiefen Blicke,
unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,
unsrer Liebe, unsrem Erdenglücke
wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
uns einander in das Herz zu sehn,
um durch all die seltenen Gewühle
unser wahr Verhältnis auszuspähn?

Und zwei Verse weiter:

Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
spähtest, wie die reinste Nerve klingt,
konntest mich mit einem Blicke lesen,
den so schwerlich ein sterblich Aug durchdringt

Und du schriebst zurück: „Sag mal, Du! Dein Goethe! Kannte der uns etwa schon?“

„Gefühle“ auf „Gewühle“ reimen, das allerdings sah dem großen Meister Goethe wieder ähnlich! Euer Dichter hätte sich solches wohl kaum einfallen lassen. Hatte es mit den Reimen ohnehin nicht so sehr. Sie wurden ihm rasch zu eng.

Aber sonst? Du erinnerst dich an das Lampenfieber bei eurer ersten erneuten Begegnung. Eintauchen in die erste Umarmung, überwältigt darin verweilen, demütig still. „Hey, du zitterst!“ – „Du auch!“ – Ihr musstet beide lachen, wusstet Bescheid. Nichts mehr, was noch aufzuhalten gewesen wäre. Lippen finden sich wie selbstverständlich, alle Sensoren der Haut auf Empfang, Hände, wie unsichtbar geführt, finden ihren Weg, jede sich voll Sehnsucht verzehrende Stelle, instinktiv, zielsicher. Ihr berührtet euch, als wüsstet ihr euch seit Jahrhunderten zu berühren. Nächte, zu kostbar zum Schlafen; jede Sekunde willst du festhalten, mit wachen Sinnen erleben, im Wunsch, dieses Gefühl tief in dir erhalten, es jederzeit wieder abrufen zu können.

Und nun? Euch auf getrennten Pfaden wieder entfernen? Mit eurem Dichter gesprochen: Den Schutzgott eurer Liebe verraten? Plötzlich das Bewusstsein: Es wäre euer Tod! Nicht der physische vielleicht, das nicht. Dieser pflegt sich meist unbarmherzig viel später einzustellen. Aber es wäre Mord an euren Seelen! Ihn wieder ziehen lassen, deinen Philosophenfreund, es ist dir nicht mehr möglich.

Aus Bettina Johl: Holunderblüten. Zwei Liebende auf den Spuren Hölderlins. Roman. Erschienen 2020 als Sonderausgabe von literaturkritik.de. Seit dem 20.12.2020 auch als E-Book (PDF) erhältlich.