3.4.2017 – Nazareth

das erste Blatt sieht die Welt
an demselben Ast der dies versprochen hat
als er das letzte losgelassen hat

Auf einmal geht dann alles sehr schnell: der leise grüne Schimmer der Birken von gestern zeigt sich heute schon in winzigen Blättchen. Die Christrosen stehen jetzt auch bei mir in voller Blüte – war ja auch Zeit: in zwei Wochen ist Ostern. Ich werde ihnen einen neuen Namen geben müssen. Und an den letzten Jahr gepflanzten Bäumen glaube ich, winzige Veränderungen zu erkennen. Die Stare spielen verrückt um ihre Häuschen herum und immer wieder hinein und heraus, ins andere hinein und so weiter. Dann sieht man wieder stundenlang keinen und hört sie nur aus den Tannen. Auf den höchsten Tannenspitzen singen am Abend zwei Amseln ihr Lied. Um acht Uhr fangen sie an, meistens zehn Minuten, auch mal eine Viertelstunde dauert es, bis sie sich krächzend von der Spitze in einen Baum fallen lassen. Danach sind nur noch kleine feine ferne Stimmen zu hören, immer größere Pausen bis zum nächsten, dann zum letzten Ton. Mir ist es immer, als würde ich dem Atmen eines Sterbenden lauschen, wo ich darauf gefasst bin, dass es ein letzter Atemzug ist. Für diesen Tag.
Aber der Morgen! Mit solchem Jubel in den Tag gerufen zu werden, ist Glück genug bis zum Abend. Denke ich, schwinge mich aufs reparierte Rad und fahre mit dem Hund um die Felder.
Ich halte an einem Baumstamm, Yalla springt zu mir herauf und bleibt neben mir sitzen. Die Lerchen über uns singen im Fliegen – wenn es denn Männchen sind.

Ob es hilft gegen das hilflose Zusehen, wenn ich mich einer Demo anschließe?
Freunde haben Pulse of Europe zu ihrer Sache gemacht, und ich habe gedacht, ich versuche es mal wieder. Frage ich mich doch immer wieder: warum demonstrieren wir ehemals Friedensbewegte nicht mehr? Es gäbe Gründe genug. Und außerdem wäre ich dann mal nicht allein. Bin neugierig, wie das heute für mich ist. Zuviel der Hoffnung. Kommt mir so vor, als ginge es nur um ein Europa, das uns Freude macht, Freiheit und Bequemlichkeit – für die Europäer. Schööön! Keine Silbe von Verantwortung von einem Europa für mehr als unser Europa. Ich treffe meine Freunde, sie strahlen, als sie erzählen, dass sie zwei Wochen nach Bethlehem fliegen, sie ist dort zuhause. Und jetzt Europäerin. Wir sprechen über die Fluggesellschaften und ihre unterschiedlichen Kontrollen, wenn es um Israel geht. Ich gebe meiner Freundin Grüße an ihren Bruder in Bethlehem mit, der mich dort durch die  Flüchtlingslager geführt hat.

Ich denke an meinen ersten Flug nach Tel Aviv.
Und an den Brief, den ich geschrieben hätte an meinen palästinensischen Freund, der mich mit seinem israelischen Pass nie in arabische Länder begleiten konnte.

Israel 1992

Nazareth

Der Herbst fängt an in Nazareth

Nazareth, 21.9.1991

    habibi,
    die Granatäpfel sind reif!
    Aber was sage ich Dir.

Ich beginne heute nicht mit der Frage, wie es Dir geht, Deine Antwort würde mich nicht mehr erreichen.
Nazareth liegt vor der weit geöffneten Tür. Der Wind trägt die Wärme herein in das Haus Deiner Mutter, den Lärm der Stadt unter uns, das Hupen der Autos, Kindergeschrei, immer wieder die Automatenmelodie des Eisverkäufers schon seit dem frühen Morgen, den Ruf des Muezzin von beiden Seiten, kratzend, schleifend, überlaut verstärkt höre ich ihn jetzt zum dritten Mal.
Ich mache einen Versuch hinauszutreten, gebe ihn aber sofort wieder auf, die Hitze und die Helligkeit drängen mich übermächtig zurück. Diese Wand zu überwinden und hinunterzugehen in die Stadt, wo Schatten zu finden wäre, habe ich heute nicht den Mut. Ich würde noch keinen Schritt machen können, ohne mich umsehen zu müssen, ob mir nicht doch noch jemand folgt. Ich habe nichts Auffälliges bemerkt, als ich den Flughafen verließ, auch nicht während der Fahrt hierher, wo wir wegen der dreistündigen Verspätung des Flugzeugs erst weit nach Mitternacht ankamen. Aber die Angst, dass es überall sein könnte, die gestern in mir gewachsen ist, habe ich bisher nicht wieder verloren.
Und Du bist hier mit ihr großgeworden? Ich hatte keine Ahnung.
Gestern habe ich mich – noch ahnungslos – von den Rollbändern durch das weite Gelände des neuen Münchner Flughafens ziehen lassen, weit weg von allen Hallen hinaus zur Halle F, Du kennst sie ja. Manchmal bin ich ein bisschen mitgelaufen, schon wenige Schritte machten mich schnell und leicht mit meinen beiden Koffern, einer Tasche dazu. Die Koffer sind Steine, Deine Familie ist groß, und ich will weit und lange fort.
Aber innen, da war ich ganz leicht, da habe ich gesungen und getanzt, bin gehüpft und gesprungen, zweimal auf dem einen, zweimal auf dem anderen Bein, übers Kreuz natürlich, hin und her, und manchmal habe ich gejubelt, bis mir die Ohren dröhnten.
Je näher ich der Halle F kam, desto langsamer bin ich geworden, ich konnte mir ja Zeit lassen, war viel zu früh dran, trotzdem stand schon eine Schlange vor der Passkontrolle. Ich ging zur Seite, dorthin wo die Sonne noch wärmte, die Altweibersommersonne aus unserem bayrisch blauen Himmel. Morgen würde der Herbst anfangen, und vor einer Woche haben die Israelis und die Palästinenser das Friedensabkommen unterzeichnet.
Da habe ich mich auf den Weg gemacht. Mit dem syrischen Visum in der Hand habe ich den Flug gebucht, also: Montag. Es ist entschieden. Ich zähle die Tage an den Fingern ab, es sind nur noch fünf.
Sofort bin ich durchs Haus gerannt, hinauf und hinunter, wo fange ich denn an, was tue ich zuerst, damit ich rechtzeitig mit allem fertig werde – ich habe die Gartenhandschuhe ergriffen und bin auf das Garagendach gestiegen. Die Dachrinne. Sie muss von den Weinblättern freigelegt werden. Diese Arbeit kennst Du noch nicht. Wenn ich weg bin, wird der Herbst kommen und die Blätter, die ich nicht bunt werden sehe, werden inzwischen abfallen und die Rinne verstopfen.
So habe ich die noch grünen Ranken gepackt und – als ich mit dem Abreißen schon fast fertig war – in ein Wespennest gegriffen.
Ja. Ein Wespennest.
Hast Du schon einmal ein Wespennest gesehen?
Gesehen habe ich es auch nicht, dazu war es zu spät, denn schon haben sich alle Wespen, an die wir uns im Sommer widerwillig gewöhnt hatten, auf mich gestürzt, nicht nur die, die ich berührt habe, nein alle, wirklich alle, sie hielten zusammen, sie wollten mir ans Leben. Ich habe wild um mich geschlagen, denn weglaufen, ins Haus rennen, konnte ich nicht, dazu hätte ich die wacklige Leiter hinunterspringen müssen, das wäre ein Beinbruch geworden, aus mit dem Fliegen. So habe ich solange um mich geschlagen, bis sie das Interesse an mir verloren. Als es ruhiger geworden war – immer nur noch eine, die mir einen Stich verpasste –, habe ich den Abstieg über die Leiter riskiert, ins Haus verfolgten sie mich nicht. Dort habe ich dann zitternd die Stiche gezählt: vier am Rand der Handschuhe, drei an den die Innenseiten der Arme und unter den Achseln, zwei unter den Hosenbeinen, zwei auf dem Rücken, einer auf der Brust. Der hat am meisten wehgetan. Logisch. Ich habe immer wieder – beinahe andächtig – die wachsenden, hart und heiß werdenden Stiche betastet und mich gefragt, woher die Wespen gewußt haben, dass ich auf die Reise gehen will.
Wenn ein Körper das übersteht, kann er auch fliegen. Ich werde auf die Reise gehen. Auch wenn ich heute nicht mehr atmen kann, werde ich auf die Reise gehen. Jetzt weiß ich, dass das mein Reisefieber ist.
Gestern war es soweit. Zuletzt habe ich den Katzen einen Futtervorrat zurechtgemacht, der lange reichen muss, dann habe ich die Koffer vor das Haus gestellt, den Schlüssel versteckt und die Haustüre hinter mir zugezogen. Ein bisschen wirr habe ich zu dem Taxichauffeur geredet, gefragt, wie man ohne Auto zur Halle F, die doch von allen anderen Hallen entfernt so weit draußen liegt, komme. Damit konnte er nichts anfangen, obwohl er, wie er erzählte, schon oft geflogen ist. Aber zum Bus, der zum Flughafen fährt, hat er mich gebracht.
Nun stand ich also vor der Halle F und atmete auf. Glücklich, dass auch die Wespen mich nicht hatten hindern können. Jetzt war ich hier, und Freude und Neugier haben mir die Füße vom Boden genommen. Hundertmal haben sie mich inzwischen dorthin getragen, was will ich noch hier, ich fliege schon lange, bestimmt aber seit mich die Laufbänder ergriffen haben. Dieses letzte Stückchen nur muss ich nun mit meinen Füßen zurücklegen. Ich brauche ja nur noch ein paar Schritte zu gehen.
Stimmen, Menschen, Sprachen. Ich höre Deutsch, Englisch, Hebräisch, Arabisch, fange an zu unterscheiden. Arabisch ist diesmal kaum dabei, es ist eine israelische Fluggesellschaft. Die Zeiten sollen sich ändern. Als ich hebräisch angesprochen werde, antworte ich englisch. Meine Sprache kennt ja keiner, weil ich allein bin, und wenn ich nicke, um die vorbeizulassen, die schon in die Abfertigungshalle gehen wollen, genügt ein Lächeln: Geht nur schon, ich will noch nicht hinein.

Der September geht zu Ende, es wird kühl in Deutschland, wenn die Sonne nicht mehr scheint. Meinen feinen wollenen Blazer, den Du noch nicht kennst – vielleicht gefällt er Dir gar nicht – ziehe ich abwechselnd aus und wieder an, wenn ich durch den Schatten muss. Wenn ich zurückkomme, werde ich eine zweite Jacke aus dem Koffer darüber ziehen müssen. Inzwischen wird er überflüssig sechs Wochen auf dem Bügel hängen.
Ich habe einen Moment nicht aufgepasst und bin in die weiterschiebende Reihe geraten. So soll es denn losgehen, war es doch nur noch eine schwache Sonne an diesem sonst so ungastlichen Ort, die mich hielt, kein Tisch, kein Stuhl, kein Kaffee, keine Zeitung. Stattdessen Bundesgrenzschutz – immer wenn ich den sehe, erinnere ich mich an Dein Erschrecken, als ich neben so einem Ding parken wollte, um Deinen Bruder abzuholen: „hier kannst Du doch nicht halten!!!“  und ich habe gelacht – damals machte es mir Spass, Dich zu ärgern – und den Beamten, der sofort auf mich zukam, um mir dasselbe zu sagen, harmlos gefragt: warum nicht?
Sonst gibt es da nur noch ein Glashaus für den Fall, dass die Sonne, wie meistens – so sagst Du –, nicht scheint. Weiter nichts.
Und wenn ich zurückkomme, werden überall Schatten sein. Nicht aber dort, wo ich heute noch ankommen werde.
In dieser Weise unvorbereitet – mein unschuldiger nagelneuer Zweitpass ist schnell durchschaut – stehe ich zwei Minuten später vor einem kleinen Stehpult einem israelischen Sicherheitsbeamten gegenüber. Und auf dem niedrigen Podest zwischen uns mein Gepäck. Das Nadelöhr – verdammt, komme ich denn zum ersten Mal?! – ich hatte es vergessen. Natürlich, da muss ich durch. lch schüttle mich: Wach auf! Träum nicht, hier musst du aufpassen, noch bist du nicht weg.
Gefragt, ob ich englisch spreche, bejahe ich nickend, schränke es allerdings sicherheitshalber – was mir nichts nützen sollte – mit ein paar englischen Worten wieder ein.
Der Mann beginnt mit dem Lesen meines Passes, meines Tickets und dann mit seinen Fragen. Wo ich herkomme, wo ich hin will, warum ich dorthin will, ob ich schon einmal dort gewesen bin, warum damals, warum jetzt wieder und mit wem. Wer mich hergebracht hat, was ich tue, wenn ich in Tel Aviv ankomme, wer mich abholen wird, wen ich besuchen will, ob sie von meiner Ankunft wissen, wann ich mit ihnen zuletzt gesprochen habe. Wen ich noch besuche, sonst niemand? Nein. Ja.
Ich antworte auf alle Fragen so gut ich kann. Warum habe ich bloß daran nicht gedacht und mich entsprechend präpariert. Was zu sagen ist und was nicht.
Trotzdem: Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht aus dem Stand eine Geschichte zustande brächte, die hier passt, die der Junge mir abnimmt. Ich denke an das, was ich nicht sage, mehr als an das, was ich hier glaubhaft machen will.
Wenn sie etwas merken, dann ist es dies. Ich erzähle, wie es mir einfällt, erfinde, selbstverständlich soll es sein, leicht und nebenbei. Heute tue ich dies und morgen jenes, es könnte ja sein, warum nicht.
Eine leichte, schmale Geschichte für das Nadelöhr.
Eine Geschichte, in der kein Wort von Deiner Familie vorkommt, denn plötzlich, als sie mit den Fragen anfingen, habe ich mich an Deinen inzwischen von der Zeit überholten Rat erinnert, Euren Namen nicht zu nennen. So müssen schnell andere Namen her, auch die habe ich dabei, mit den Telefonnummern gestern Abend noch routinemäßig in mein Tagebuch geschrieben. Ich hole sie nun bereitwillig hervor. Zu bereitwillig.
Habe ich wirklich geglaubt, mit Freundlichkeit und irgendeiner leichten Geschichte würde ich durchkommen? Gar nichts habe ich geglaubt, ich habe vergessen.

Jedenfalls habe ich nicht gewusst, dass das Nadelöhr so eng und ich Kamel so groß sein würde.
Der Beamte, ein junger und kräftiger Mann mit sehr kurzen schwarzen Haaren – sein Gesicht hat die ganze Zeit über nicht den geringsten Ausdruck gezeigt, nur ein knappes Nicken, immer bevor er die nächste Frage stellte – entfernt sich jetzt, verschwindet durch die nächste Sperre mit meinen Nummern und dem Ticket und dem Pass.
Was macht er? Prüft er die Telefonnummern? Das wird ernst, mir vergeht das Lachen. Manche Nummern – die ich diesmal gar nicht verwenden wollte – sind schon zwei Jahre alt, vielleicht stimmen sie nicht mehr. Oder er wählt sie und sie stimmen noch und er erfährt, dass ich mich dort gar nicht angemeldet habe. Dass keiner von mir weiß.
Ich habe Herzklopfen. Was wird passieren. Was machen sie mit mir. Was habe ich getan, was hätte ich nicht tun dürfen?
Sie lassen mir Zeit, es mir auszudenken.
Dann kommt der junge Mann – die meisten der Sicherheitsbeamten sind sehr jung, ich habe mich inzwischen umgesehen – zurück. Aber nicht mehr allein, ein älterer, nicht viel jünger als ich, ist bei ihm, sie sprechen miteinander. Der andere hat nun meine Papiere in der Hand, er stellt sich als der Chef der Sicherheitsabteilung vor. Jetzt fragt er. Der Jüngere bleibt neben ihm stehen, beobachtet mich ohne jeden Seitenblick mit seiner gleichbleibend ausdruckslosen Aufmerksamkeit. Dieselben Fragen, nicht ganz dieselben Antworten von mir. Er fragt mehr: nach meinem Beruf, was ich schreibe, und warum. Was geht ihn das an? Interessiert es ihn womöglich? Soll ich erzählen? Ob ich ein Buch von mir bei mir habe und warum nicht. Kann er denn deutsch? Warum sprechen wir dann englisch? Ich rede immer noch, als probierte ich gerade mal eine erste Fassung aus. Man muss ja merken, dass das nicht mein Ernst ist. Und der hier, der lässt nicht mit sich spaßen. Er geht weiter, ins Detail.
Warum nach dem Golfkrieg nach lsrael. Deutschland. – Deutschland?
Na, Sie wissen es doch! – warum tut er so – Wollen wir darüber reden?
Ob ich über Israel schreiben will. Weiß ich noch nicht, vielleicht. – Was will er überhaupt?
Dann habe ich noch schnell eine Adresse nachgeschoben, Palästinenser, Bethlehem und Bible College, ein guter Ort für die Geschenke, die sie finden werden, wenn sie den Koffer aufmachen. Christians? Yes, Christians. Aber dafür ist es jetzt auch zu spät, das nützt nun nichts mehr.
Irgendwann muss ich mich in Widersprüche verwickelt haben in meinen Antworten, die ich dem einen und dem anderen gegeben habe über das, was ich tun würde. Der Chef wird böse.
Streng und scharf.
You have to tell the truth and nothing but the truth.
Nichts darf ich für mich behalten? Ist es denn ein Gericht? Wofür bin ich angeklagt? Und keine Aussage darf ich verweigern?
Was sollte ich noch sagen. Spätestens da ist mir der Mut gesunken, aus war es mit der Leichtigkeit, sie hatte keine Chance, schuldig oder nicht schuldig, ich wußte es selber nicht mehr, auf die andere Seite habe ich gewollt, ohne mein ganzes Leben ausbreiten zu müssen, das Leben, in dem Du vorkommst. Sonst wollte ich eigentlich nichts.
Mein Pech.
Dafür werden nun die Koffer ausgepackt.
Wer etwas verbergen will, wird mit restloser öffentlicher Aufdeckung bestraft.
Ich sitze neben meinen Sachen, die in vier Container umgefüllt – die beiden vorgesehenen genügen nicht, die Dinge quellen auf – fortgetragen werden, durch eine Türe verschwinden, die sich nur ausgewiesenen Sicherheitsbeamten öffnet. Mein roter Pass – der mit dem Visum für Syrien – scheint nicht zu stören, er ist kommentarlos zur Kenntnis genommen und in die Tasche zurückgesteckt worden. Ob ich rauchen möchte. Danke, habe ich niemals getan.
Aber weglaufen möchte ich, umkehren – den Katzen das Futter wieder von den Tellern nehmen? –, das Ticket hinschmeißen. Sagen: Nein, ich fliege nicht. –
Und meine Freude, wohin mit ihr? – Aber ich habe mein Ticket ja gar nicht mehr, um es hinzuschmeißen.
Sie wollen nur mein Bestes. Sicherheit. Ich weiß. Dagegen ist nichts zu sagen. Ich will es ja verstehen.
Warum habe ich eigentlich nicht die Wahrheit gesagt? Der Wunsch in dem Augenblick, als diese Fragen anfingen, ein Reflex, irgendetwas oder alles zu verbergen. Als wollten sie mir an mein Leben, das musste ich schützen, das ging sie nichts an.
Das, was mir wirklich ernst ist, so ernst, dass es beinahe schon wirklich sein könnte, gebe ich – so befragt – nicht her.
Vielleicht hätte ich mich sonst mit mir auf eine Version einigen können, mich für eine einzige entscheiden.
Bodycheck. Die Frau, die ihn vorzunehmen hat, ist höflich, freundlich, wie alle zupackenden Helfer, als wollten sie mich versöhnen. Sie ist fast zwei Köpfe kleiner als ich und stellt sich auf die Zehenspitzen, um meine Schultern abzutasten, mit den Schuhen geht sie weg, bleibt aber nicht lange, nicht so lange wie die Koffer und die Container. Schließlich wird eines nach dem anderen zurückgebracht, ich darf mit dem Packen beginnen, zusammensammeln, zusammen legen, die Cremetöpfchen schließen.
Es war gut, dass Du mir von Geschenkpapier abgeraten hast. Sie packen sowieso alles aus. Der erste Koffer ist wieder geschlossen, als der Chef zurückkommt, in einer Hand meine Minox, in der anderen ein gelbes Formular, das er auszufüllen beginnt, während er mir mitteilt, dass er mir meine Kamera nicht mitgeben könne, ich hätte Glück, dass er erlaube, sie mit dem nächsten Flugzeug zu schicken. Fortunately, sagt er und wiederholt es sehr betont – soll ich mich bedanken?! – : fortunately! Ich muss etwas unterschreiben, das meiste ist hebräisch, ein bisschen englisch, soviel, dass ich lesen kann, dass keiner hier Verantwortung übernimmt, wenn etwas verloren- oder kaputtgeht. Was soll ich tun. Ich unterschreibe. Ich will ja immer noch fort.
Er gibt mir einen Durchschlag, sagt wann und wo ich mich in Tel Aviv zu melden habe. Und noch einmal: the truth, nothing else.
Was meint er nur damit? Meine Wahrheit über gestern ändert sich mit jedem, dem ich sie erzähle. Und die über heute dazu noch in jedem Moment. Und übermorgen?
Wie soll ich wissen, was ich morgen und übermorgen getan haben werde? Wie soll das gehen?
May be, sagt er, hätte ich sagen müssen, nicht mehr und nicht weniger. Mit einem Maybe wäre ich unverdächtig gewesen? Ja.
Das glaube ich nicht.
Ganz abgesehen davon: Ich würde heute nicht damit fertig werden, alle Wahrheiten über morgen zu erzählen. Aus mit dem Fliegen.
Und dann hat er noch etwas von seiner Mutter gesagt, was ich nicht verstanden habe. Was hat sie mit der Wahrheit zu tun. Genau soviel wie mein Vater, der sie mir ins Poesiealbum geschrieben hat. Und ich sage – wollte er doch wissen, warum ich schreibe und wie –, dass ich niemals zweimal die gleiche Geschichte erzählen werde.
Das ist mein letztes Wort.
Die Koffer sind fort, kein Wort über das zweihundertprozentige Übergewicht, ich sitze im Warteraum, die Maschine wird drei Stunden Verspätung haben.

Mein Ticket habe ich noch nicht wieder. Als ich danach frage, erfahre ich, dass der Chef es mir erst geben wird, wenn es soweit ist. Und wann es so weit ist, das weiß nur er.
Sie trauen mir noch immer nicht.
Ich muss in Nazareth anrufen, sagen, dass niemand mich empfangen soll, dass niemand mich kennen darf, falls sie mir folgen. Dort ist keiner zu erreichen, haben sie jetzt gesehen, dass ich telefoniert habe? Verdächtig und nochmals verdächtig? Trotzdem versuche ich es noch einmal, weiß ich doch nicht, was besser ist. Ich wollte Euch keine Probleme machen, Ihr müsst dort leben, ich werde wieder gehen, aber Dein Bruder, der mich abholen soll –
Boarding – mein Ticket? Hier treffe ich zwei andere Frauen, Deutsche, wie ich, die an derselben Stelle ohne Ticket nicht weiterkommen. Eine Mutter und eine Tochter, die – getrennt voneinander befragt – eine unterschiedliche Auskunft über das Alter einer Handtasche gegeben haben, sind wie ich untersucht worden und müssen auch an dieser Stelle, wo alle anderen durchgehen, auf den Chef warten. Keiner weiß, wo er gerade ist. Als er endlich kommt, werden wir miteinander zum Flugzeug geleitet und bekommen nebeneinander liegende Plätze.
Nichts ist überstanden. Sie werden uns auch noch in Israel folgen. Nach den drei Stunden im Warteraum nun noch viereinhalb Stunden Angst bei EL-AL, Gott – da oben.
Vier Stunden, drei Stunden, zwei. Eine. Die letzte halbe Stunde macht das Herzklopfen fast unerträglich. Wenn mich einer beobachtet, kann er es mir ansehen. Wenn es doch nur schon vorbei wäre. Sie brauchen nur Meldung an die Passkontrollen zu geben, dann ist es auch dort nicht vorbei.

Ich lasse die Koffer zweimal ungefasst an mir vorbeiziehen. Erst beim dritten Mal gebe ich mir einen Ruck, packe zu.
Der Passschalter, die Frau dahinter fragt mich, wo ich wohne. Ich noch einmal: verschiedene Hotels. Sie reicht mir den Pass zurück!
So kann ich gehen? Einfach gehen? Das kann nicht wahr sein. Wirklich.
Tatsächlich muss ich noch zu Lost and Found, den Verlust der Kamera bestätigen lassen. Dann kann ich gehen.
Draußen wartet schon lange Dein Bruder in der feuchten heißen Nacht und wundert sich über meinen Blazer. Er weiß noch nichts. Nur dass wir viel zu spät sind. Aber das ist man gewöhnt von den israelischen Maschinen. Ich erzähle ihm die ganze Geschichte – immer wieder zurückschauend – auf der Fahrt hierher.
Diese Nacht ist nun vorbei. Euer Haus hat mich aufgenommen. Wie ein Versteck kommt es mir vor. Hinaus will ich nicht. Mir genügt der Blick auf die Stadt.
Meine einzigen Kontakte zu dieser Außenwelt sind bisher die Telefongespräche, mit denen ich versuche, meine Kamera wiederzubekommen. Erfolglos natürlich, denn mit der größten mir verfügbaren Aufgeregtheit erreiche ich nicht einmal die Dringlichkeitsstufe l in diesem Land. So kriege ich meine Kamera niemals wieder. Und mein Fatalismus – mach dir nichts draus, es ist nicht so schlimm, Hauptsache: du bist jetzt da! – reicht nicht aus, um nicht traurig zu sein.

Nun weißt Du, wie meine Reise angefangen hat.
Fast immer sind es die Deutschen, denen sowohl bei der Einreise wie auch bei der Ausreise diese Behandlung zuteil wird, unsere Geschichte – sie macht den Neuanfang schwer.

Ich bleibe in dem warmen und freundlichen Aufgenommen-Sein Deiner Familie, bis ich dieses Land wieder verlasse. Die Zeit, die ich habe, würde nicht genügen, meine Angst, auch wenn sie keine neue Nahrung bekäme, wieder zu verlieren. Wie soll es besser werden, wie kann es gut werden, wenn es so ist.
Nein, wir haben wirklich keine Ahnung.
Aber ich kann jetzt die Vorsicht verstehen, mit der Du Deinen Fuß auf den Boden setzt, wenn Du durch die Türe unseres Hauses nach draußen trittst.

Ich umarme Dich
h.

© H. Tarnowski


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de