25.5.-5.6.2017 – Es gibt kein richtiges Leben im falschen

25.5.2017

Ich diktiere ein Sterbeprotokoll, weil ich selbst nicht schreiben kann.
Ich bin eine arabische Analphabetin.

Das hat mir gegen Morgen ein Traum so gesagt.
Dann die mir inzwischen lieb gewordene Gewohnheit, mit dem Kaffee den Staren zuzuschauen. Ganz unbesorgt. Oder sorglos? Die Jungen hüpfen auf ihrer Leitung herum und die Alten bearbeiten jetzt beide Häuschen. Wunderbar. Ich freue mich.
Den ganzen Tag begleiten mich die feinen kleinen Stimmen mit ihrer anrührenden Zartheit. Hier, bei mir. Und wenn die Sonne kommt, der Duft der Azaleen.

Aber draußen wird es böse. Es ist wieder soviel zerstört: Ackerränder, letzte Wiesen, die gerade wie verrückt zu blühen anfingen. Ich werde nicht noch einmal zum Bürgermeister gehen. Der will es allen recht machen, auch jedem, der Angst vor einer Zecke hat.
Wann kann ich sagen: dann ist es nicht mehr mein Land?
Nie. Dieses kleine Stück Welt ist der Ort, den ich verteidige für mich allein.
Als eine Freundin anruft und vorschlägt, in die Stadt zum Essen zu fahren, sage ich: lieber nicht. Ich bin ein bekennender Stadtmuffel.

Eine Schnecke will ihr Haus in mein Haus tragen. Auf der ersten Treppenstufe kehrt sie um. Ich lasse sie ins nasse, weiche Grün fliegen, als sie in ihrem Haus verschwunden ist.

Ein Hauch
ein Schatten
genügt der Schnecke
um sich zurückzuziehen

Dabei wachsen meine Zweifel an dem, was ich tue. Ich mache zu viele Fehler. Sprühe Pfefferminzöl gegen die Mäuse auf die Blätter der Mohnpflanzen, die ich verpflanzt habe, statt um sie herum. Darauf komme ich erst nach einer Woche, als die Blätter schwarz sind.
Die Blätter der Fairy Roses sind sofort verdorrt, als ich sie umgesetzt habe, weil sie an dem Kraftort nicht hochkommen können, wenn ich die Wiese wachsen lassen will. Das ist es: ich stecke mitten in einem Paradigmenwechsel zwischen Ordnung und Wachsenlassen, was die Natur vorschlägt. Dabei entstehen Verbindungen, die es nicht geben darf: Eine Pappel wächst aus einem Weidenbusch, ein Bergahorn aus der Stechpalme, zwei Eichen an den Füßen meiner Birke, der zum ersten Mal an den unteren Ästen Blätter fehlen. Die dünnen Zweige sind fast unbelaubt. Mir fällt mein Freund, der Oberförster ein: die Birken werden verschwinden, weil die Zeiten für sie zu trocken geworden sind.
Ich möchte einen Menschen finden, dem ich vertrauen kann, wenn er sagt: dieses ja, dieses nein, weil… Für mich allein ist es maßlose Überforderung. So maßlos wie sie ist, so kraftlos fühle ich mich am Nachmittag, wo ich doch im Garten arbeiten sollte. Die Arme zu schwer, sie zu heben, die Knie zu steif, sie zu beugen, und der Kopf ganz woanders: hier.
Wörter und Blumen – kann das nicht zusammen bestehen? Oder darf es das nicht? Von wegen: keine anderen Götter neben mir?!? Sähe mir ähnlich.

Auf der steinigen Einfahrt ist die erste Mohnblume aufgegangen. Ich muss die Pflanze tief ausgraben und zu mir nehmen, bevor ein Auto darüber fährt und sie auch weg ist.

Von Paul habe ich nun schon lange nichts gehört. Als ich vor ein paar Tagen anrief, sagte man mir, ich könne ihn besuchen. Er schlief noch. Aber ich halte mich an unsere Abmachung, dass er sagt, was er möchte. Es kommt mir so vor, als wollte er noch einen Geburtstag leben. Der war ihm immer wichtig und der nächste wird Anfang Juli sein.

26.5.2017

Soviel Kreta war nie.
Wir – Yalla und ich – laufen zwischen masurischen Bäumen und Seen – ich sehe Seen, auch wenn es nur kleine Weiher sind –, wo dieser Frühsommermorgen noch frisch und kühl ist. Ach, Masuren. Jede Nacht an einem anderen See und dann hinein! Hier sind die Weiher nicht frei für mich, nur die Vögel.
Dann führt ein Trampelpfad einen Hang hinauf, dem auch der Tornado die Bäume weggerissen hat, und da leuchtet der ganze Hang. Der Pfad wird zu einem Ginsterspalier, ich gehe ihn hinauf und wieder hinunter durch ohrenbetäubendes Summen.

Heute beginnt Ramadan.
In Aleppo. In Timbuktu. In Ouaga. In Deutschland. Für ohnesinn ist es eine Mitte.

27.5.2017

oben
fangen die Enten das Licht
sie ziehen vorüber
mit leuchtender Brust

Es ist also wieder einmal Ramadan. Ich denke an die Jungs aus dem Senegal, die mir immer mal wieder im Garten helfen. Ob sie vor der Morgendämmerung aufstehen, um noch etwas zu essen, bevor man einen weißen Faden von einem schwarzen unterscheiden kann und der neue Tag beginnt? So wie es Mohammed bestimmt hat. Wir gehen in die längsten Tage, und da ist es dann noch nicht vier Uhr und kein Vogel zu hören. Einen Monat lang ist die Sonne der Feind allen Lebens. Essen und Trinken und Lieben – das gibt es nur wieder, wenn sie untergegangen ist.

Schon beim Aufstehen fürchte ich die Schwäche vom Nachmittag. Greife wieder zu Dispenza, damit er mich an der Hand nimmt für diesen Tag.
Für mehr Kraft oder für mehr Akzeptanz, dass ich schwächer geworden bin. Und wenn ich meine Kraft für die Wörter brauche, dann nehme ich sie eben für die Wörter. Und für die Freunde, die gerne zu mir kommen, als ich sage, dass ich ihnen etwas Wunderschönes zeigen will: den Ginsterberg. Aber darauf muss ich erst mal kommen…
Ich freue mich sehr. Bruno hat den gleichen Krebs wie Paul. Nach den Operationen bekommt er eine sanfte Langzeitchemo und es geht ihm immer besser, allmählich kommt er wieder zu Kräften. Er ist ganz zuversichtlich, ich bin es auch. Wir kennen uns aus der Unizeit, Kleist und Kafka und Hauptmann und so. Ich habe ihn dafür bewundert, wie er von den Dingen, die sich immer wiederholten, sprechen konnte, als hätte er sie gerade entdeckt. So muss man lehren. Nicht wie ich: nichts wiederholen, alles was ich wiederholen musste, war mir schon im Mund verfault. Immer Neues suchen… Das kann ja nicht gut gehen – oder doch? Vielleicht ohne Sinn?
Dass wir beide aus Ostpreußen kommen, zur gleichen Zeit geflohen sind, haben wir erst festgestellt, als die Uni schon lange hinter mir und kurz hinter ihm lag. Jetzt bin ich froh, dass es Bruno und Agnes in meinem Leben gibt. Sie haben den ersten Block – nicht Blog – gerne gelesen, und Bruno möchte weiter darüber reden. Als Literaturwissenschaftler? Da fange ich sofort an, mich zu fürchten –
Aber eine Anekdote kann ich anbringen und erzähle, wie ich von einer erotischen Beziehung zwischen einem Sechzigjährigen und einem Zweiundzwanzigjährigen gelesen habe: Die Kunst des Feldspiels. Dabei denke ich natürlich an Der Tod in Venedig und mir fällt der Name des alten Mannes nicht ein. Keine Anstrengung hilft. Ich schlafe unzufrieden ein.
Beim Kaffeemachen am Morgen habe ich den Satz im Kopf: Warum fällt mir bloß der Name für den Aschenbach nicht ein?!? Eine Schande für eine Germanistin. Was??? Da war er! Natürlich ist das zum Lachen. -  Aber mit Literatur könnte ich nicht mehr arbeiten.
Also lachen wir. Und reden über alles, wie immer, uns ist noch nie der Stoff ausgegangen, immer wollten wir bald damit weitermachen, dann kamen die Dinge des Lebens dazwischen, zuletzt diese böse Erkrankung. Den Ginsterberg zu sehen, wird eine Freude sein, und jede Freude ist gut.

28.5.2017

Durchsichtig
scheinen vor der Sonne
die Flügel
der Meise

Sie sind von der Seite gekommen, woher noch kein Auto zu mir gefahren ist: durch die Wiese und über das Maisfeld in den Spuren des Traktors.
Wir sind froh, jetzt hier zusammen zu sein vor meiner Frühsommerblumenwiese bei dem Ginsterwunder. Wenn ich nicht diesen Satz im Kopf hätte, den ich dann ausspreche: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Natürlich sind wir da einer Meinung. Trotzdem finden wir es schön auf unserer Insel. So sind wir. Klammern uns an den Ginster.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Wie oft mir dieser Satz eingefallen ist, wenn ich wieder einmal nicht verstand, warum etwas nicht gut ging, nicht gelingen wollte, nicht gelingen konnte.
Als ich bei meiner Arbeit mit den Flüchtlingen an meine Grenzen kam, weil ich etwas geben wollte, woran ich nicht glauben konnte.
Ich verspreche etwas, das niemand halten kann, wenn nicht – ja was?
Vor 50 Jahren – so alt ist der Satz mittlerweile schon – hat Adorno damit die Notwenigkeit verbunden, den Kapitalismus zu wenden. Wo gibt es diese Hoffnung heute noch? Dass der globale Kapitalismus an sein Ende kommt? Wie schlimm muss es noch werden, dass es wieder besser werden kann? Wie sollte das aussehen – die Menschen sind die gleichen und sie machen immer neue, immer bösere Erfindungen wie den Leiharbeiter, zum Beispiel.
Marx muss sich im Grabe umdrehen. Entfremdung war eine sehr menschenfreundliche Beschreibung dagegen.
Aber eine, die so wenig an ein gutes Ende glauben kann, sollte den Mund halten.

Ich kämpfe hier jeden Tag für Blumen für Insekten für Vögel und wenn ich durchs Gartentor gehe, stehe ich vor den toten Feldern bis zum Horizont, deren Ränder wieder jemand niedergemacht hat. Das geht schnell, und schon ist da nichts mehr. Ich komme mir so ohnmächtig vor. Jeden Tag wieder.

29.5.2017

Der Tagmond ist noch eine bleiche Sichel. Ramadan.

Wichtig für die Jahreschronik: gestern habe ich das erste Mal in der Schmutter gebadet. Das Wasser ist so warm wie noch niemals im Mai.
Es ist Sommer und heiß. Das Eintauchen tut gut, auch der Hund springt in den Fluss und watet darin herum. In den Ästen etwa einen Meter über dem Wasser hängt trockenes Treibgut, Stroh und Zweige, vom letzten Hochwasser. Das muss lange her sein, der Fluss hat die Wurzeln inzwischen wieder freigelegt. Sie stehen einen Meter hoch trocken am Ufer. Das macht als zwei Meter Unterschied. Ganz schön viel.
Das Hineinkommen ist immer einfach, auch wenn das Wasser weit unten ist, ich musste nur hinunterrutschen. Aber das Herauskommen ist es nicht. Bin ich mir wieder schwerer geworden? Nirgendwo kann ich Tritt fassen, ziehe mich am Gras auf den Knien hinauf. Ganz schön unwürdig. Aber ich sehe mich ja nur selbst. Werde eine Konstruktion erfinden müssen, denn das Eintauchen in diesen Fluss ist mein Sommer.

30.5.2017

Gestern Abend waren noch nie gehörte Stimmen in der Luft. Kurz bevor alle verstummten und es still wurde. Ein neuer Vogel oder eine neue Zeit?
google
hat mir mit den vielen Stimmen nicht geholfen, nur den Hund ans offene Fenster geholt. Der wollte wissen, was da los ist. Mir fehlt mal wieder mein Freund, der Oberförster. Einfach fragen können. Wer ist das? Schade, dass er erst im November kommt.

In dieser Sommernacht haben die Frösche keine Pause gemacht. Von irgendwoher hat es immer gequakt. Das ist jetzt wirklich ein Specht ganz in der Nähe und keine verunglückte Meise. Ein Kleiber war auch schon da, ist hackend und klopfend die Birke kopfüber hinunter und wieder hinauf gelaufen.

Seit ich hier schreiben kann, als würde ich mit anderen reden, ihnen von mir erzählen, nehme ich mehr Dinge aus der Welt auf als früher. Da habe ich oft abgeschaltet, mich ausgeschaltet. Ich weiß nicht, ob ich mehr aushalte. Schau mer mal.

31.5.2017

Diesen Morgen schenken die Götter
so neu wie er ist
blitzt er vor Gewaschensein
der erste und letzte aller Morgen
dem Himmel sei Dank

Ich komme nass bis an die Brust vom Gang durch das Ginsterspalier zurück.
Das langersehnte Wasser ist gestern Abend vom Himmel gefallen, fast waagrecht geflogen gekommen. Als es vorbei ist und ich hinausgehe, erschrecke ich vor dem Schwarz auf der Treppe, beinahe wäre ich auf eine dicke Kröte getreten. Sie wollte zur Tür. Wie matt und trocken ihre Haut ist, dunkel wie Erde. Eine Fledermaus fliegt weg. Als ich wieder zur Treppe komme, ist die Kröte fort. Irgendwo in den Pflanzen wahrscheinlich, wo ich gerade noch ein Maus hab verschwinden sehen. So schnell ist die Kröte nicht, sie müsste springen.
Ich glaube, es sind dieselben Vögel in einer späteren Zeit. Ihr Gesang hat jetzt eine andere Bedeutung. Vielleicht ist er nicht mehr lebensnotwendig. Nur noch Information: hallo, hier bin ich! Wo seid ihr? Oder – einfach: Leben!

Die Widersprüche aushalten, weil sie es sind, mit denen sich die Welt entwickelt. Kann das immer noch gelten? Diese Hoffnung, die mir einmal Hegel in den Kopf gesetzt hat, wurde von Bloch an mich weitergegeben und mutatis mutandis – ich liebe dieses Latein, soll heißen: wenn geändert worden ist, was geändert werden muss –, klingt heute fast frisch, wenn Nida Rümelin Über Grenzen denkt und eine Ethik der Migration schreibt.
Weiß nicht, wann bei mir die Kraft, Widersprüche auszuhalten, nachgelassen hat. Vielleicht seit ich verstanden habe, dass Widerspruch sehr oft ein Euphemismus für Krieg ist. Ich vermeide Fremdwörter, wo es nur geht, aber hier muss -mismus sein. Beschönigung und Verharmlosung sind selbst schon beschönigend und verharmlosen. Da hat sich Resignation breit gemacht, wo einmal Hoffnung war.
Mit Christa Wolf und Kassandra bin ich noch sehr heftig für das Aushalten eingetreten. Aber das ist schon lange, lange her. Vor dieser Zeit. Wer spricht heute noch von Christa Wolf. Kassandra passt schon besser: sie hat die Gabe, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, und den Fluch, dass ihr keiner glaubt.

Greenaway: Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber. Wir haben vor fast 30 Jahren einmal diesen Film zum Anlass genommen, um über Ästhetisierung des Bösen zu streiten.
Darf man aus dem Bösen Schönes machen? Ich sagte streng: nein! Und hatte meine Gründe.
Die habe ich nicht mehr. Zu oft habe ich Nachrichten abgeschaltet und bin ins Kino gegangen, um von dort einen vermittelten Blick auf die Welt zu haben.
Wenn die Abwehr unterlaufen wird, kann man mehr sehen, erkennen, zulassen, und vielleicht ändern. Denke ich jetzt. Insahallah.

1. Juni 2017

Der Name muss ausgeschrieben werden, denn es ist der Monat der Glühwürmchen.
War das schön: nach dem Aufwachen den Eichhörnchen zuschauen, wie sie von Baum zu Baum springen, fliegen und gar nicht still halten können, und nicht wissen, was sie tun. Heute war wieder eines in der Thuja, wo keine Amseln mehr sind wie noch vor wenigen Wochen, nur auf dem Holz darunter erzählen weiße Flecken, dass sie vor nicht langer Zeit da waren. Sie singen ganz oben, wie immer. Ob sie sich für die zweite Brut einen anderen Platz gesucht haben, wohin ihnen die Eichhörnchen nicht wieder folgen? Gibt es den überhaupt?
Ich mache den ganzen Tag ein Fenster auf und wieder zu, um ein anderes aufzumachen.
Der erste Kaffee am Morgen am Küchenfenster. Es schaut nach Osten, wo die Sonne über dem Wald aufgeht. Um 7.06 Uhr laufen die ersten Strahlen durch die ganze Küche. Wenn ich mit dem Hund gegangen bin, gehe ich an den Schreibtisch neben dem Fenster nach Süden. Und am Nachmittag kommt sie durch das Fenster nach Westen, daneben ist der Fernseher, so kann ich gleichzeitig da hinein und dort hinaus schauen, vor allem im Winter, wenn ich nicht draussen sein kann. Am Abend hängt dort an den Tagen, wo er eine Sichel ist, der Mond. Am nächsten Morgen schaue ich hier zuerst hinaus, bis ich den ersten Star sehe. Dann mache ich wieder das Küchenfenster auf.
Timbuktu hat sich noch gar nicht gemeldet. Mamadou braucht doch immer schon zum Monatsende das Medikament für seinen Sohn. Ich möchte es als gutes Zeichen verstehen – dass er eine Möglichkeit gefunden hat, Geld zu verdienen. In diesem Monat wird er zum vierten Mal Vater. Sie wünschen sich nach den drei Jungen ein Mädchen und das soll meinen Namen bekommen. Weiß nicht, ob ich versuchen sollte, das zu verhindern.
High noon. Das ist die Kirche aus dem Dorf. Ich höre für heute auf. Muss probieren, ob mein Auto anspringt, vorgestern war eine Türe nicht richtig zu, da hat am Abend noch ein Licht geleuchtet. Ich möchte heute zu Paul fahren. Es ist Zeit.

2.6.2017

Ich wäre gerne mit Vogelstimmen in die Welt verwoben so lange ich hören kann. Als mich der erste Weckruf in den Tag holt, ist es viertel vor fünf.
Gegen Morgen zieht sich auch mein Dämmerschlaf zurück und ich versuche mich zu erinnern: was war eigentlich gestern Abend? Ich bin es ja schon gewöhnt, dass ich mich nicht oder nicht gleich daran erinnern kann, was ich im Fernsehen gesehen habe, aber heute hatte ich das Gefühl: da war was Schlimmes. Ich habe Angst davor, dass es mir wieder einfällt.
Ja: der Trump und das Klima. Das war es.
Ich denke an Ouaga und dass man dort einen dicken Pullover mitnehmen musste, wenn man einer Einladung der Amerikaner folgte.
Wir haben darüber Witze gemacht und uns vorgestellt, wie das in USA sein muss. Inzwischen ist uns das Lachen vergangen. Noch mehr Unglück, Leid, Krieg auch und Tod.

Wie war das mit der Dummheit und der Bosheit? Hat nicht schon der alte Sokrates gesagt, dass Dummheit immer auch Bosheit ist? Ich werde oft wütend, wenn ich Dummheit am Werk sehe. Wenn ein Auto mit Vollgas auf die rote Ampel zufährt, zum Beispiel.
Wenn ich dann den Menschen am Steuer sehe, ist alle Wut weg. Ich höre Joan Baez: Be not too hard for life is short and nothing is given to man.
Und: We shall overcome. Auch schon lange her.

Plötzlich merke ich: da fehlt doch etwas in meinem Bild. Der dürre Gipfel der Birke am Weiher vor dem Wald ist weg. Wirklich. Weg.
Den muss der Sturm mit dem waagrechten Regen vorgestern mitgenommen haben. Ich stehe schnell auf, finde in meinem und im Nachbargarten nichts. So wäre er noch weiter geflogen?
Dann mache ich die Morgenrunde mit Fahrrad und Hund und hoffe, dass die Schlange nicht mehr da ist, nach der gestern der wilde Hund unserer Hundefreunde geschnappt hat. Sie bewegte sich nicht, als ich sie mit einem Stock berührte, vielleicht hat sie sich tot gestellt. Sie hat geblutet. Es war eine Ringelnatter, das weiß ich jetzt von google, wegen der gelben Flecken am Kopf. Ein wunderschönes Tier. Heute war keine Spur von ihr zu sehen, ich wünsche ihr alle Selbstheilungskräfte, die sie braucht.

Gestern bin ich zu Paul gefahren. Habe mit seinem Sohn telefoniert, der meinte, das sei gut möglich. Ich wollte nicht länger in ungefähren Vermutungen herumirren. Wollte einfach auftauchen, und wenn nötig, wieder gehen. Und es war gut. Hätte ich am Telefon erst gefragt, hätte er nein gesagt, wie er es dann machte, als ein Anruf kam.
Aber er war ganz wach und klar und erzählte oder antwortete sofort und ausführlich auf alle meine Fragen. Dass er gehen möchte und nicht kann. Jeden Abend darum betet. Und nein: der Geburtstag im Juli muss nicht mehr sein. Er schüttelt den Kopf.
Als ich ihn frage, ob er zufrieden ist mit seinem Leben, nickt er sofort, stellt den rechten Daumen nach oben, und nickt noch einmal.
Sagt, dass er nicht weiß, wie er das verdient hat, so ein gutes Leben gehabt zu haben. Dass er sehr dankbar ist. Vor allem für die Menschen, die es gegeben hat und um ihn herum immer noch gibt. Und dass er froh ist, dass er sich mit seinem Sohn aussöhnen konnte.
In seinen Träumen ziehen die Länder an ihm vorbei, durch die er – meistens mit dem Motorrad – gefahren ist, Amerika, Afrika, Spanien… Das genießt er.
Ich habe ein Foto von Tafelbergen in der Sahara – nachdem wir uns in Tamanrasset nicht begegnet sind – in einen Umschlag gesteckt mit ein paar Worten und einem Danke dafür, dass ich ein kleines Stück mit ihm gehen durfte.

4.6.2017

Wenn man sieht, welche Kräfte sich gegen Trumps Aktionen aufmachen, könnte man doch wieder der guten, alten Dialektik vertrauen – und Hoffnung haben?
Und: Frohe Pfingsten!
Regen – wie so oft zu Pfingsten, manchmal mit schlimmen Überschwemmungen – angesagt und langersehnt, diesmal ohne Überschwemmung. Kino statt grillen. Oder nichts. In Zeiten des abnehmenden Lichts. Vielleicht.
Das Licht nimmt noch zu. Wenn ich ins Bett gehe, denke ich: es ist noch so hell und ich bin schon so müde. Und auf die Glühwürmchen muss ich noch warten, die leuchten erst, wenn es richtig dunkel ist, nicht vor elf Uhr.
Ich habe eine neue Freundin in Finnland aus einer sehr alten Zeit. Heute hat sie geschrieben, mehr können wir kaum miteinander tun: die silberne Beleuchtung unserer Sommernächte – und ich kriege das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Und dass ich kommen soll.
Noch einmal etwas ganz Neues erleben? Und dabei nicht alleine sein? Statt des ganz Alten: Sylt, meine Insel seit Kindertagen, wo ich sicher sein kann, dass ich, wenn sich der Autozug über den Hindenburgdamm in Bewegung setzt, augenblicklich weiß: ich – jetzt – hier, das ist es, sonst nichts. Um mich in einer Kuhle in den Sand zu legen unter dem Himmel und über dem Meer bei Tag und bei Nacht.
Beim Gedanken an das Neue spüre ich Herzklopfen – wie früher. Neugierige Aufregung. Lust auf entscheiden, planen, organisieren.
Alles so Sachen, von denen ich mich vorauseilend verabschieden wollte. Nicht mehr, nicht mehr, nicht mehr – jetzt bin ich hier und da bleibe ich und es ist gut. Sylt – weil es dazugehört.
Soll jetzt Finnland auch dazugehören? Würde ich, wenn ich auf Sylt bin, denken: und warum bin ich nicht nach Finnland gefahren? Und dann die Antworten aufzählen? Nicht gut. Aus Finnland ruft mich eine Stimme, es ist eine warme Berührung, ich staune und möchte sie nicht zurückweisen – wenn ich kann. Ich würde in Finnland erwartet – wenn das keine Freude ist!
Das Neue zu sehen und spüren zu wollen, läuft gegen mein Streben auf das Ende zu. Dieses: da geht es hin und dann ist Schluss! Ich mache die Dinge immer schneller, um ans Ziel zu kommen. Eine Bewegung, die ich nicht wirklich gut finden kann. Ich spare Zeit, wo es nur geht. Und am Nachmittag weiß ich nicht, was ich machen soll. Es kann ja noch viel Zeit kommen und ich wäre nur gerannt.
Aber Langsamtun geht nicht. Wäre wie eine angezogene Bremse. Auch nicht auszuhalten.
Vielleicht wäre das Neue auch ein Weg? So etwas wie ein Anfang? Ich muss sehen, ob ich mir das morgen auch noch vorstellen kann.

Und dann noch diese Überraschung, als ich am Morgen auf mein Land schaue. War es je so schön wie heute?
Es ist weiter, tiefer, größer geworden mit dem doppelten Blick.

5.6.2017

Geträumtes steht auch hier, wie in meinen Tagebüchern, immer rechts:

Wieder mal ein Albtraum vom Vertrieben-Werden, zu Unrecht und ganz plötzlich.
Ich kann gerade noch mitnehmen, was in den Combo passt und was ich tragen kann.
Mehr brauche ich nicht. Die Möbel bleiben stehen.
Ich muss weg, muss fliehen, sonst tun sie mir noch etwas an,
die jetzt hier sind und gleich noch kommen.

Die Bilder, die mit dem Aufwachen aufgetaucht sind, waren auch nicht besser.

Ich bin gestern dann dem Vorschlag meiner Freundin gefolgt und nicht ins abnehmende Licht gegangen, sondern: Einsamkeit und Sex und – was? – Mitleid. Ach so, ja.
Diese Bilder hätte ich heute lieber nicht im Kopf. Zu spät. Und zu alt, ich. Aus einer anderen Zeit. Welcher Zeit?
Es ist, als wären beim Kaffee-Machen alle diese furchtbar armen Menschen in meiner Küche. Ich nehme meine Tasse und gehe schnell wieder hinaus.

Da ist dann doch nicht Masuren.
Nach Masuren bin ich eine Woche nach einem großen Hochwasser mit vielen Überschwemmungen gekommen, wo die Stege zu den Seen Inseln geworden waren, ganz ohne Verbindung mit dem Ufer.
Hier habe ich gestern einen Schlüssel bekommen, um in den großen Weiher nebenan zu steigen, was seit Jahrzehnten mein Wunsch war, seit der Zeit, als wir noch mit unseren Kindern dort schlittschuhgelaufen sind. Der Wunsch ist mir vergangen. Im Schlamm bin ich gelandet, nachdem ich auf dem Hintern durch die Brennnesseln hineingerutscht bin. Warmer, schwarzer Schlamm schon einen halben Meter unter der Oberfläche. Allen Flüssen und Weihern fehlt gerade das Wasser. Ich kann mit Mühe auf dem Rücken liegen, schwimmen ist das nicht. Hier sind die Enten daheim, die mich oft an meiner Quelle und dem kleinen Weiher besuchen. Sie weichen mir aus und warten am Ufer, bis ich vorbei bin.

© H. Tarnowski


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de