25.11.2017 – 16.35

25.11.2017

10.35
Noch zehn Stunden waren es, als ich heute aufgestanden bin.
Ein flammendes Morgenrot.
Morgenrohot, Morgenrohot, leuchtest mir zum frühen Tod. Gestern noch…
Dieses Lied hab ich von meinem Vater. Ich höre ihn bei jedem Morgenrot.

Ob sie es gewusst hat, dass es ihr letzter Tag sein würde?
Noch sechs Stunden.
Inzwischen war sie beim Arzt und der Tag nahm seinen Lauf.
Die Stunden sind sehr viel länger als an anderen Tagen.
Ich werde nie wissen, was sie mit diesen Stunden getan hat.
Noch fünf. Ich höre hier auf.

Ouaga 25.11.1995

Ouagadougou hieß für sie: Du warst noch nie so lange so weit weg.
Als ich aus Ouaga zurückkam, teilte sie mir die Entscheidung mit, unsere Stadt zu verlassen, weil sie sich in meiner Abwesenheit so unglaublich wohl gefühlt habe.
„Noch nie ging es mir so gut wie in dieser Zeit, wo du so lange fort warst! Zum ersten Mal so lange und so weit, nicht mehr zu erreichen. Toll. Jetzt gehe ich auch. Jetzt kann ich es. Das glaubst du nicht?! Ich werd’s dir zeigen! Ich werde eure Stadt verlassen.“
Mit der Stadt die Wohnung, die Freunde, den Vater, mich, ihre Mutter. Ihr Auto gab sie auf.

Sie konnte nichts unzerstört verlassen.
Sie zerstörte es umso mehr, je mehr sie es geliebt hat.
Sie hatte schon angefangen, Hand an ihre geliebte Wohnung zu legen. Die sorgfältig in diese Küche eingebauten Bretter, die nirgendwo hinpaßten als an diese schrägen Wände, hat sie mit den Schrauben und Dübeln aus den Wänden gerissen, „die brauche ich wieder!“ gesagt, sie vor die Türe gestellt und dort stehen lassen.
Schränke standen offen, halb ausgeleert, riesengroße Kartons davor – wo hatte sie die her? -  übervoll mit rasch durcheinander hineingeworfenen Dingen, zu schwer, um sie von der Stelle zu bewegen.
Bilder waren abgenommen, lehnten mit dem Gesicht an der Wand. Große Löcher in den Tapeten, wo zuvor Regale waren, ließen den Sand herausrinnen. Aufgebrochene Wände.
Ein Ankommen gab es nicht.

Ihr Sprung von dem Hochhaus und Ouaga gehören zusammen. Mein Aufbruch dorthin davor und danach.
Sie hat auch nur fortgehen wollen. Nicht sterben, fortgehen. Fortfliegen. Seit sie das Wissen um den offenen Zugang zu dem Balkon einem Drogenabhängigen abgekauft hatte, ist sie immer wieder da hinaufgefahren und wieder hinunter. Es war die Sicherheit des Auswegs.
Diesmal kam sie mit der doppelten Beruhigungsdosis vom Arzt – der mußte es gut gemeint haben – und fürchtete nichts mehr.
Da hat sie keiner zurückgehalten.
Keiner konnte sie halten, sagen wir, um uns zu schonen oder zu trösten.
Wie hätte ich sie auch halten können.

Als sie in der Dämmerung des 25. November mit dem Aufzug in den 17. Stock des Hauses fuhr, das auf dem halben Weg zwischen meinem Haus und unserer Stadt liegt, trug sie den Mantel, der einmal meiner war.
Nicht den neuen, den wir an ihrem Geburtstag vor ein paar Wochen gekauft hatten. Ich hatte danach gegriffen, um mit irgendeinem Mantel anzufangen, und sie hat sofort „ja!“ gesagt und gemeint, es sei genau der Richtige, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die anderen zu werfen, die waren ihr so egal, wie einem nur etwas egal sein kann, es wäre jeder erste Mantel gewesen, sie sagte: „der ist schön!“ – damit ich sie in Ruhe ließ. Wie müde sie war. Fünf Wochen vor dem Ende.
Wir hatten uns im Café zum Geburtstagsfrühstück getroffen. Sie war schon da, saß schwer und unglücklich in einer Ecke. Ich war – wie immer – ein paar Minuten zu spät. Ihr verständnisvolles Wie-immer-Lächeln. Meine Traurigkeit. „Warum?“ fragte sie mich.
„Ich würde mich so gerne mit dir freuen an deinem Geburtstag.“ Freuen.
Wir wollten mit Sekt und Orangensaft anstoßen, ich stieß mein Glas um, es zerbrach. Das erschreckte sie.
Dann zog sie die zerknüllte Anmeldung für die Klinik, die uns Hoffnung gegeben hatte, als wir miteinander hingefahren waren, aus der Tasche. „Meinst du, ich soll sie abschicken?“
Wir gingen zum Briefkasten.
Ihr Geburtstagsgeschenk. An mich.

Aber sie wollte nicht.

Am Freitagnachmittag zog sie meinen Mantel an.
Als ich ihn im feuerroten – warum so rot – Plastiksack zusammen mit Jeans, Pulli, Unterwäsche, Socken und Schuhen zurückbekam, war das unterste Knopfloch weit ausgerissen. Der Knopf hat versucht, sie zu halten. Aber er hat es nicht verhindern können, daß sie über das Geländer stieg. Vielleicht hat er um 16.35 ihr Fallen um den Bruchteil einer Sekunde verzögert.

Laß mich los, sonst kann ich nicht leben. Hat sie gesagt.
Laß mich los.
Sie versuchte, sich loszureißen. Zwei Jahre lang. Dann gab sie auf.

Als ich sie losließ
ließ sie sich fallen
17 Stockwerke tief

Im dreißigsten Jahr alle Knochen gebrochen.

„Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“, und ließ sich hinabfallen.

Zwei Tage zuvor war die Entscheidung gefallen, daß ich wieder nach Ouaga gehen würde.
Wo du doch das letzte Mal so krank, so alt zurückgekommen bist? Hast du vergessen, daß du es gar nicht bis zum Ende ausgehalten hast?
Gerade deshalb. Das kann es nicht gewesen sein.

Sie kann es noch nicht gewußt haben. Oder doch?
Ich habe es ihr nicht gesagt, wahrscheinlich habe ich nicht einmal daran gedacht bei unserem letzten Telefongespräch, das kein Gespräch war, sondern ein Weinen, ein so hoffnungsloses Schluchzen auf ihrer und ein hilfloses Trösten auf meiner Seite. „Ich geh jetzt ins Bett“ hat sie gesagt und aufgelegt. Vielleicht noch: „ciao“. Ich werde auch aufgelegt und irgendetwas, womit ich gerade beschäftigt gewesen war, weitergemacht haben, traurig, nachdenklich.
Das Weinen. Es kam von woanders. Es kam aus dem Riß zwischen ihr und der Welt. Ich bin nicht zu ihr gekommen, ihr die Hand zu reichen. Für eine kurze Zeit zu tun, als wäre ihr damit geholfen. Mir wäre geholfen, nicht zu sehen, daß ihr nicht zu helfen war. Daß ich ihr nicht helfen konnte.
Dieses Weinen. Dieses untröstliche Weinen. So unverständlich wie am Anfang. Ich höre mich weinen, als sie meinen Körper verlassen hatte. Tagelang. Dann das Schreien. Ihr Schreien. Ich verstand es nie. Hatte keinen Trost für sie und unsere Trostlosigkeit.

Ich geh jetzt ins Bett.

Zwei Tage später höre ich, wie ihre Schwester in das Telefon schreit:
n  e  i  i  i  n !

Wie ich gelernt habe, die endgültige Belanglosigkeit dieser letzten Worte auszuhalten, weiß ich nicht mehr.

Ich geh jetzt ins Bett.

Wäre ich zu ihr gefahren nach unserem Telefongespräch, vielleicht wäre sie heute noch da.
Zu welchem Unglück hätte ich sie damit verdammt.
Hätte sie bleiben sollen, nur daß ich kein totes Kind in meinem Leben habe? So wie ich wegen meiner Eltern geblieben bin und später wegen meiner Kinder? Das kannst du ihnen nicht antun!

Nach einer Stunde kam die Polizei. Daß sie sie ist, zu sagen, dazu haben sie mich noch gebraucht. Mein Nicken genügte. Dann gingen sie wieder. Bevor ich sie hinausjagen konnte.
Dabei gab es auch eine Spur von Erleichterung, als das Gefürchtete eingetreten ist. Daß ich nichts mehr falsch machen konnte. Daß ich keine Angst mehr haben mußte, daß etwas passiert. Daß die Angst mit dem schlimmsten Ende ein Ende gefunden hat.
Grauen und Bewunderung vor dieser Größe. Vor ihr bleibt nichts. Gar nichts. Am wenigsten ich.

Um 16.35 am 25.11.1994 war sie tot.

heute 16.35
Das ist die längste Minute des Jahres. Ein Bann, dem ich nicht ausweichen kann. Als könnte die Zeit doch einmal stehen bleiben.
16.36
Es wird dunkel und ich warte nicht mehr.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de