21.12.2017 – Mauretanien

 21.12.2017

Vor 20 Jahren Mauretanien. Es ist wieder mal die Zeit, in der ich mich dorthin aufgemacht habe, zum ersten Mal im Dezember 1997. Ich bin mit Freunden im Toyota von Bayern nach Ouaga gefahren. Frankreich, Spanien, Marokko, Westsahara, Senegal, Mauretanien.
Dort nach einer Wüstenrunde weiter nach Mali und Burkina Faso.

 

Mauretanien 1997

Straße der Hoffnung
Mit dem Auto nach Mauretanien?

Da kannst du tagelang durch die Einsamkeit des Atlasgebirges und an der Küste der Westsahara entlang gefahren sein, aufgehalten nur von gelangweilten Polizisten, die jedesmal wieder den Namen deines Vaters und deiner Mutter handschriftlich in ihr Buch eintragen – in Dakhla ist es mit der Einsamkeit vorbei. Hier muß jeder durch, der über Marokko nach Mauretanien will. Jeden Dienstag und Freitag wird ein Konvoi zusammengestellt und durch vermintes Gebiet an die Grenze Mauretaniens begleitet. Der Kampf um das Land zwischen Marokkanern und Polisario, welche die Sarhaouis, die Bevölkerung der Westsahara vertritt, hat gefährliche Spuren hinterlassen. Neben der Strecke bis zur Grenze nach Mauretanien können überall Minen sein. Nachrichten von den letzten Kämpfen liegen noch nicht lange zurück.
In Dakla legen wir die Sandreifen an. Für Zoll, Polizei und Gendarmerie braucht man zwei Tage. Am Dienstagmorgen versammelt sich der Konvoi. Es sind überwiegend Deutsche und ein paar Franzosen. Viele Autos sollen in Westafrika verkauft werden und sind, wie der dort so gefragte Mercedes, nicht gerade wüstengeeignet. Aber die Autoschieber können sich darauf verlassen, daß ein Geländewagen sie herausziehen wird, wenn sie versanden. Denn alle kommen nur gemeinsam über die Grenze. Beim Warten lernt man sich kennen. Viele machen die Fahrt jedes Jahr. Um zu helfen oder zu verdienen, zumindest die Reise. Ein Schwabe hat das Auto voller alter Kleider, die er übers Jahr sammelt, um sie Weihnachten in Afrika zu verkaufen. Es ist ein gutes Geschäft, sagt er. Eine Gruppe Franzosen fährt einen Bus für ein Krankenhaus nach Ghana. Touristen wie wir, die in der Wüste Mauretanien entdecken wollen, tauschen Erfahrungen aus.
Die Pässe werden uns abgenommen. Marokko ist vorüber. Am Mittag setzt sich der Konvoi in Bewegung. Kein Zweifel, daß wir uns auf der meist befahrenen Transsahara-Route befinden, nachdem die Durchquerung Algeriens zu gefährlich geworden ist. 53 Wagen ziehen durch flaches, leeres Sandland. Steinmännchen markieren die Piste, verlieren sich, als die Steinwüste von Sanddünen abgelöst wird. Es gibt Autos, die dorthin wollen und solche, die da nur durchkommen müssen. Da heißt es schieben, ziehen, graben. Gegen Abend kommt der Konvoi auf einem Fußballplatz an.
Am Morgen des Heiligen Abends sitzen wir neben dem Konvoi im Sand und warten auf unsere Pässe. Die Autonummern sind notiert. Wir lassen Luft aus den Reifen. Der Sand wird tiefer. Symbole explodierender Bomben sind die einzigen Verkehrsschilder an unserem Weg zur Grenze. Bei Sonnenuntergang sind wir nach verschiedenen Pannen am Kontrollpunkt. Ein liegengebliebener R4 muß später noch geholt werden. Die Devisenerklärung findet in der Dämmerung statt, im Dunkeln geht es weiter, dann noch einmal Zoll, Polizei, Gendarmerie. Die Personalien werden in einer Steinhütte beim Schein einer Kerze notiert. Wir müssen achtgeben, nicht in eine Moschee zu stolpern, sie besteht aus nichts weiter als einem mit Steinen eingefaßten Quadrat. Um 10 Uhr können wir auf der Piste weiterfahren und sind nach einer Stunde auf einem Zeltplatz mitten in Nouadhibou. Am nächsten Morgen trifft man sich bei der Polizei wieder. Der Polizeichef, auf den wir zwei Stunden gewartet haben, heißt uns mit einer kleinen Ansprache in seinem Land willkommen. Das freut sich über jeden Fremden, und ich habe sofort das Gefühl, hier willkommener Gast zu sein. Das Restaurant an der Straße besitzt gerade fünf Tassen, davon eine ohne Henkel. Für jede Tasse Kaffee läuft der Junge über die Straße, um ein Tütchen Nescafé zu kaufen. Für die zweite Tasse holt er die leere ab. Ich bezahle mit den frisch gewechselten Münzen: Die Ouguiyas zeigen Palmen, Sichel und Stern.
Nouadhibou ist wie alle Städte Mauretaniens nach den Dürren von 1973 und 1984 schnell gewachsen. Ein Viertel aller Mauretanier mußte in die Städte ziehen, weil der Hunger Menschen und Tiere, Kamele, Rinder, Ziegen, ihre ganz Lebensgrundlage, vernichtet hat. Der Wüstenstaat Mauretanien ist eines der ärmsten Länder der Erde. Seit 1960 unabhängig wie alle französischen Kolonien Westafrikas, steht es unter Militärherrschaft. In der „Präsidialen Republik“ ist der Islam Staatsreligion.
In Nouadhibou trennen sich die Wege. Der größere Teil des Konvois fährt an der Atlantikküste in die Hauptstadt Nouakchott. Ein nicht ungefährliches Abenteuer: man muß die Gezeiten richtig einschätzen können, weil die Piste bei Flut im Wasser verschwindet. Von Nouakchott geht es weiter in den Senegal oder über die Route del‘Espoir – die Straße der Hoffnung – nach Mali.
Wir wollen in der Wüste die Spuren ältester islamischer Hochkultur finden und fahren entlang der Mauretanischen Eisenbahn, die Eisenerz aus der Sahara an die Wüste bringt, ins Leere. Kamelknochen liegen überall herum, sind im Sandsturm oft erst spät zu erkennen. Leere Schneckenhäuser und Muscheln zeugen von Leben. Zu Urzeiten muß hier ein Meer oder fruchtbares Land gewesen sein. Wir folgen den Spuren im Sand, jeden Abend wird mit Satellitennavigation der Standort bestimmt. Durch das Adrar-Bergland sind die Wege leicht zu erkennen. Wir begegnen Hirten mit ihren Kamelen, die die Vorliebe der Europäer für die feingezackten Pfeilspitzen aus Vorzeiten kennen, die sie zwischen den Felsen gefunden haben und uns jetzt zum Kauf anbieten. In Atar verkaufen die Jungen das Brot nicht wie sonst üblich von großen Brettern auf dem Kopf, sondern aus Schubkarren. Es ist das letzte Brot bis Chinguetti, einer Oase aus dem 12. Jahrhundert, wichtige Etappe des Transsaharahandels und immer noch eine der sieben heiligsten Stätten des Islam.
Die Moschee trotzt der Wüste, die sich ein Haus nach dem anderen zurückholt. An den Mauern kriecht der Sand herauf und die offenen Innenräume füllen sich mehr und mehr. Die Bewohner haben sich ein Stück weiter ein Zelt oder eine Hütte aufgebaut.
Der Markt ist da, wo Frauen vor halboffenen Türen sitzen, die in dunkle Räume führen. Die Frauen winken und fordern mich lächelnd zum Eintreten auf. Lebensmittel, Stoffe, Geschirr, Handwerkliches. Ich kaufe ein Instrument, das aus einer alten Emailschüssel mit vier Saiten besteht. Vor den Türen liegt ein bißchen Gemüse, winzige Tomaten, Zwiebeln und Minze. Männer in leuchtenden Gewändern vom Blau des mauretanischen Himmels sitzen im Sand und reden. In ihren Gesichtern liegt ein würdiger Ernst und eine strenge Zurückhaltung. Fröhlichkeit dagegen zeigen die Gesichter der Schwarzen, die in diesem Land immer noch die Unterdrückten sind. Die Sklaverei ist in Mauretanien zwar seit 1980 verboten, aber die Abhängigkeit der immer noch verachteten, ehemals aus dem Sudan als Sklaven eingeschleppten Schwarzafrikaner – ein Viertel der Bevölkerung – von den hellhäutigen Mauren arabischer Abstammung besteht weiter. Hier geht das weiße Nordafrika fließend in das schwarze Westafrika über. Mittags spielen Jungen auf dem Heimweg von der Schule Fußball in einem Dünental. Ihre kleine Mannschaft zeigt so viele Schattierungen wie die französische Nationalmannschaft.
Eine Karawane hat sich im Dünental fertiggemacht und bricht nun auf. Drei bis fünf Tage braucht man von Chinguetti nach Ouadane, der nächsten Oase, mit dem Kamel. Wir erreichen Ouadane vor Sonnenuntergang. Wehrhaft steht es auf einem felsigen Hügel, die Steinoase leuchtet. Eine junge Frau kommt ans Autofenster und fragt nach einem cadeau. Unsere französischen Wörter versteht Aminetu nicht. Als wir aussteigen, fordert sie uns auf, ihr zu folgen, und wird unsere Führerin durch das verlassene, verfallende Ouadane. In ihrem langen hellblauen, dünnen Schleier, der sie umhüllt vom Kopf bis zu den nackten Füßen, geht sie uns voran über die Steine in den schmalen Gassen, wo die Mauerreste aufeinander stürzen. Jede Türe mit einem kunstvoll geschnitzten oder mit Lederriemen verknoteten Schloß zeigt sie uns. An einer Kreuzung setzt sie sich neben einen glatten hellen Stein. In den sind runde Vertiefungen geschlagen und dazwischen Linien gezogen, die diese zu Dreiecken verbinden. Ein Spieler bekommt Steine, der andere trockenen harten Ziegenkot. Wer durch Überspringen dem anderen die meisten Figuren wegnehmen kann, hat gewonnen. Halma?
In der Auberge Ouadäne Agweidir verweigert mir der Wirt mit einem angedeuteten Lächeln den Händedruck. Seine Frau erklärt: Muslimische Männer geben nur Männern die Hand und die Frauen nur den Frauen im streng islamischen Mauretanien.
Es geht hinauf in die Steinwüste des Kraters Guelb ei Richat mit drei geschlossenen Ringen. Wir finden den Übergang nach Norden durch den vierten Rand nicht. Nach drei Stunden geben wir auf, kehren um. Als wir Zelte entdecken, fahren wir auf sie zu und sind sofort von blau-schwarz eingehüllten Frauen umringt. Kein Mann außer einem einzigen Alten ist zu sehen, die anderen sind bei den Herden. Die Gesten der Frauen schicken uns dorthin, wo wir herkommen. In Windeseile ist ein Feuer gemacht und schon steht das Teekännchen auf der Glut. Saida und Sara lassen es sich nicht nehmen, meine Hände mit Henna zu bemalen. Mit kleinen Hölzchen ziehen sie verschlungene Linien über die Finger und binden dann ein Stück Plastik um die Hand, damit die Farbe einziehen kann und ein paar Wochen erhalten bleibt. Es ist ein Geschenk für den Gast.
Wir begegnen einer deutschen Reisegruppe, die aus Tidjikja kommt. „Wunderbare Strecke, müssen Sie unbedingt machen!“ Für diesmal ist Mauretanien für uns in Nouakchott zu Ende. Aber das nächste Mal nehmen wir die Straße der Hoffnung.

© H. Tarnowski


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de