Unmögliches Theater?

Wolfram Lotz propagiert in seiner Dramenanthologie „Drei Stücke“ die Autonomie der Fiktion

Von Jan Niklas JokischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Niklas Jokisch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die meisten Theaterleute sind // (natürlich gibt es Ausnahmen) // Arschgesichter.“ Unter diesem Motto steht Der große Marsch, das erste der Drei Stücke des prämierten Jungdramatikers Wolfram Lotz. Tatsächlich könnte dies aber auch der Leitsatz der gesamten Anthologie sein, denn die Stücke von Wolfram Lotz sind nicht einfach Theaterstücke, sondern Stücke über das Theater selbst. So finden sich Polemiken auf die Rolle des Regisseurs und die linke, kritische Ausrichtung des zeitgenössischen Theaters ebenso wie Auftritte von bedeutenden Figuren der Dramen- und Theatergeschichte wie Hamlet und Heinrich von Kleist.

Lotz’ Dramen sind deshalb auch nicht von ihrer Handlung bestimmt. Zwar passiert in jedem der Stücke viel, doch diese Einzelereignisse fügen sich schwerlich zu einer vollständigen Geschichte. In dieser Hinsicht erinnern die Stücke stark an das Absurde Theater, wie man es von Eugène Ionesco oder Samuel Beckett kennt. Figuren treten aus dem Nichts auf und verschwinden ebenso plötzlich auch wieder. Dialoge drehen sich inhaltsleer im Kreis und werden letztlich ergebnislos abgebrochen. Niemand versteht so ganz, was passiert und warum es passiert.

Die Handlungslogik – genauer: ihr Fehlen – wird dabei mehrfach im Stück ironisch reflektiert. So ist vielen der Regieanweisungen der pseudo-erklärende Zusatz „weil das eben so ist“ beigefügt und viele der Figuren müssen letztlich resigniert hinnehmen, dass die Dinge so sind, wie sie sind, und niemand weiß warum.

Entsprechend dieser Erklärungslosigkeit – und konform zum Absurden Theater – verhalten sich auch die Themen der Stücke. Fast immer geht es um die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz, die Angst vor dem Tod, die Orientierungslosigkeit des Selbst in einer Welt ohne transzendentale Bezugspunkte. Überraschenderweise ersticken die Stücke jedoch nicht an der Schwermut ihrer Themen. Vielmehr wird jede pathetische Schwere stetig durch eine selbstreferenzielle Sprachkomik und überspitzt absurde Polemik destabilisiert.

So kommt in Einige Nachrichten an das All eine Figur vor, die als „Leiter des Fortgangs“ bezeichnet wird und deren Funktion im Stück ausgesprochen darin besteht, dass das Stück seinen Fortgang nimmt. Der „Leiter des Fortgangs“ erzählt eingangs von dem Moment, als ihm als Kind zum ersten Mal die eigene Sterblichkeit bewusst wurde. Diesem zutiefst menschlichen Moment folgt eine zweiseitige Auflistung der absurden Aktivitäten, in die er sich seitdem gestürzt hat, um dieser Angst zu entkommen. Es ist diese geschickte tragikomische Synthese aus der Verletzlichkeit der menschlichen Bedingung und ihrer parodistischen Überspitzung, die entschieden zum Charme der Anthologie beiträgt.

Der wohl herausragendste Aspekt der Stücke liegt jedoch in ihrer Selbstreferenzialität als Text und ihrer Reflexion über die eigene (Un)Möglichkeit. Die Stücke scheinen sich ihrer Medialität in jedem Moment bewusst zu sein und testen ihre Grenzen dahingehend vollkommen aus. In Die lächerliche Finsternis – ein Hörspiel, das eine geschickte Parodie sowohl auf Joseph Conrads Roman Heart of Darkness als auch auf dessen filmische Adaption Apocalypse Now von Francis Ford Coppola darstellt – reflektiert der Erzähler an einer Stelle ironisch über die medialen Grenzen des Hörspiels, indem es heißt: „tut mir leid, dass man es jetzt nicht sehen kann, man kann ja alles nur hören hier.“ An anderer Stelle wird dafür von dieser Limitation gerade Gebrauch gemacht, wenn ein Anwalt am Hamburger Landgericht die somalische Küste als Beweismittel in den Gerichtssaal bringen lässt, der Zuhörer aber nur eine Aufnahme von kreischenden Möwen und der Brandung hört.

Lotz scheut jedoch auch das Entwerfen von unmöglichen Situationen nicht. So spricht er sich in Rede zum unmöglichen Theater – einem seiner beiden der Anthologie angehängten Manifeste – entschieden gegen einen mimetischen Dramentext aus, der bereits mit Blick auf die Limitationen der Inszenierung geschrieben sei. Stattdessen propagiert Lotz eine Autonomie der Fiktion. Der Text soll sich nicht der Wirklichkeit anpassen, sondern diese verändern. Die Bühne wird somit zum Raum, in welchem Unmöglichkeit und Wirklichkeit aufeinanderprallen und neu verhandelt werden müssen.

So besteht das Bühnenbild in der letzten Etappe von Der große Marsch aus vier aufwärtsfahrenden Rolltreppen, die im Vorbild M.C. Eschers so angebracht werden sollen, dass sie alle im Quadrat so einander anschließen, dass man nicht nur von Rolltreppe zu Rolltreppe unentwegt im Kreis fahren kann, sondern dabei auch immer aufwärtsfährt. Die Regieanweisung reflektiert über die Unmöglichkeit dieser Konstruktion knapp und ironisch: „Das Ganze ist zwar physikalisch unmöglich, aber es steht tatsächlich auf der Bühne.“ Ähnlich auch im vierten Akt von Einige Nachrichten an das All, der mit der Regieanweisung „Dort, wo zuvor die Bühne war, ist nun ein unendliches schwarzes Meer“ beginnt.

Das Spiel mit der theatralen Unmöglichkeit wird von Lotz aber noch subtiler auf rein textueller Ebene ausgeführt. So sprengt der letzte Akt von Einige Nachrichten an das All die Definition der Regieanweisung selbst, indem in dieser plötzlich ein autodiegetischer Erzähler auftaucht, der von einem angenehmen Tag erzählt, den er „Irgendwo anders, nicht mehr im Theater“ erlebt hat. Lotz’ prosaische Umsetzung des Nebentextes stellt damit die Frage: Wer spricht, wenn die Regieanweisung spricht? Darüber hinaus arbeitet Einige Nachrichten an das All mit insgesamt 64 Fußnoten. Diese reichen von wenigen tatsächlichen Kommentaren zum Stück, über kurze, aber höchst atmosphärische Sätze und Prosaskizzen, die den Text durch ihren assoziativen Gehalt angenehm erweitern, bis zu einer Definition der Fußnote selbst, die ironisch darüber reflektiert, wie sehr Fußnoten den Textfluss behindern können. Die bewusste Verwendung von genuin textuellen Aspekten macht die Dramen reflektiert unmöglich. Was im Dramentext als Text möglich ist, ist in der Inszenierung nicht umsetzbar. Gerade in diesem Zwiespalt blüht die mediale, architextuelle Komik von Lotz.

Drei Stücke glänzt besonders durch diese Selbstironie. Es ist ein stetiges Spiel mit den Regeln des Textes, des Theaters, der Wirklichkeit und der menschlichen Existenz. Es ist ein Spiel mit der eigenen Unmöglichkeit. Und letztlich ist es wohl gerade dieses Bekenntnis zur Unmöglichkeit, das die Stücke überhaupt erst ermöglicht.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Wolfram Lotz: Der grosse Marsch – Einige Nachrichten an das All – Die lächerliche Finsternis. Drei Stücke.
Herausgegeben von Friederike Emmerling und Stefanie von Lieven.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
239 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783596296316

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