Die Abgründe des Alltags
In ihren Erzählungen „Wer nicht?“ zeichnet Claudia Piñeiro fesselnd-seltsame Normalitäten
Von Michi Strausfeld
Sechzehn höchst unterschiedliche Erzählungen hat die argentinische Bestsellerautorin Claudia Piñeiro über viele Jahre geschrieben und nun publiziert. Als Szenen aus dem Alltagsleben könnte man sie bezeichnen, denn sie erzählen von Treue und Verrat in einer Beziehung, dem komplizierten Verhältnis von Kindern und Eltern, Familiengeheimnissen, Eifersucht, Neid und Unsicherheiten: Wer kennt das nicht, hat nicht einiges davon selbst erlebt oder zumindest davon gehört? Ja, wer nicht?
Die Texte verhandeln Probleme der argentinischen Mittelschicht, aber viele enthalten darüber hinaus eine politische Ebene. Die Texte interessieren auch in anderen Gesellschaften oder Kulturen, denn die Konflikte ähneln sich. Die Protagonisten führen ein scheinbar normales Leben, ohne irgendwie aufzufallen, bis ein unvorhergesehenes Ereignis die falsche Ruhe stört. In der Geschichte Zwei Koffer erfährt eine Frau vom plötzlichen Tod ihres Mannes im Flugzeug und erhält zu ihrer Überraschung zwei gleiche Koffer. Wieso zwei? Schließlich erfährt sie vom langjährigen Doppelleben ihres Mannes und seiner Zweitfamilie. In Bei Papa hat ein Mann Schwierigkeiten, mit der durch seine Frau initiierte Scheidung und der damit einhergehenden Trennung von seinen Kindern fertigzuwerden. Dank seiner Arbeit als Wohnungsmakler übernachtet er in immer anderen Unterkünften, mal ein paar Tage, mal Wochen. Als seine Ehefrau ihm sagt, er müsse den Geburtstag seines Sohnes feiern und dass die Kinder daher erstmals bei ihm schlafen werden, wählt er in seiner Angst eine möblierte Wohnung, dessen Besitzer in London lebt. Als jedoch besagten Besitzer die Heirat seines Sohnes für einige Tage zurück nach Buenos Aires führt, kommt es zu einer unerwarteten Begegnung. Ein Schuh und drei Federn erzählt von einem Programmierer, der den Auftrag erhält, in seiner Heimatstadt einem Kunden das neueste System zu installieren. Seit Jahren hat er weder den verwitweten Vater noch den Bruder kontaktiert, die unverändert im gleichen Trott leben. Bevor er am nächsten Tag abreist, wagt er einen Kurzbesuch, der kein gutes Ende findet. In Ist das alles? raubt eine übereifrige Mutter der erwachsenen Tochter jeden Freiraum, jede Luft zum Atmen, bis diese ausrastet. Im Frisiersalon Carla & Ruben fragt man sich, wie Einkünfte durch eine neue Idee lukrativ gesteigert werden können.
Die Erzählungen sind ungleich lang, einige umfassen nur ein paar Seiten. Sie sind auch ungleich dicht. Einige könnten Fingerübungen für einen Roman sein, andere sind so eindrücklich, dass man sie kaum vergessen kann. Die Autorin, die sich 2019 intensiv für das Recht auf Abtreibung eingesetzt hat und zu einer Galionsfigur wurde, hält die Problematik der illegalen Eingriffe fest: In Abfall für die Hühner ersetzt eine Stricknadel die medizinische Behandlung. Beängstigend ist die Atmosphäre in der in Kurzzeitvermietung angemieteten Wohnung, weil das Ehepaar jede Nacht Schmerzensschreie hört. Die Frau versucht, das Geheimnis zu ergründen. Hier wagt sich die erfahrene Krimiautorin erstmals ins Terrain des Terrors vor, die Beklemmung überträgt sich.
Piñeiro gelingt es, ihre Leser dank ihres präzisen und schnörkellosen Stils zu interessieren, manchmal zu fesseln. Viele werden nach der Lektüre überzeugt davon sein, dass hinter jeder Normalität, hinter jedem schönen Schein ein Abgrund lauern kann. Schließlich lautet die Widmung: „Für alle, die imstande sind, sich in andere hineinzuversetzen. Ob sie nun seltsam sind oder nicht“ – man muss sich nur darauf einlassen. Und eines ist sicher: Dieser Autorin gehen in den nächsten Jahren die starken Plots nicht aus. Soeben erschien ihr neunter Roman in Buenos Aires: Catedrales. Thema sind Abtreibung und gesellschaftliche Heuchelei. Wir dürfen gespannt sein.
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