Elon Musks Biograf oder Ian Flemings legitimer Nachfolger?

Alard von Kittlitz überzeugt mit seinem Debüt „Sonder“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt ein Buch über Elon Musk mit dem Untertitel Wie Elon Musk die Welt verändert, auf dessen Umschlagrückseite zu lesen steht, der beschriebene Mann sei „der da Vinci des 21. Jahrhunderts“. Starke Worte aus der Marketingabteilung des Verlages. Auf Seite 24 des Romans Sonder von Alard von Kittlitz kann man fast als Replik auf das oben Genannte lesen: „Wieder dieser langweilige Ausdruck, ‚weltverändernd‘, das hat für Peter keinen sonderlichen Sound mehr, genau wie das blöde ‚disruptiv‘.“

Dieser Peter ist Peter Siebert, ein Produktdesigner aus Hamburg, Anfang 30. Er ist bindungslos, viel beschäftigt und hat außer seiner Mitarbeiterin, seinem Bruder und seinem Therapeuten keine nennenswerten Sozialkontakte. Das Buch beginnt in Neuseeland, wo er für Pepsi ein neues Getränk designen/entwickeln soll. Mitten in der Arbeit wird er aus unerfindlichen Gründen gekündigt – das ist ihm, der vor nicht allzu langer Zeit in der angesagten Zeitschrift Douche sehr positiv porträtiert wurde, noch nie passiert. In diese Überraschung platzt ein Anruf einer Anwältin, die ihn zu einem mehrtägigen Kennenlernen nach West Virginia einlädt, ohne Details über das Projekt, den Auftrag, die Hintergründe zu verraten. Mit ihrer Mischung aus Freundlichkeit und Autorität lockt sie ihn, sodass er zu seinem neuen Auftraggeber jettet. Allerdings macht er, da er ohnedies über L. A. fliegen muss, noch Halt bei einem speziellen Anbieter exquisiter Drogen und lernt am Flughafen in bester aufgekratzter Stimmung die unfassbar schöne Anne kennen. Ein fulminanter Auftakt zu einem Buch, das man als Spionageroman, als Tech-Thriller, als Entwicklungsroman und – vor allem – als Roman über die Kraft der Liebe, der Leidenschaft und ihre fatalen Auswirkungen lesen kann.

In der Welt von Peter Siebert dreht sich vieles um Ästhetik, um guten Geschmack, um gesellschaftliche Position. Alard von Kittlitz spielt perfekt auf dieser Klaviatur, nennt edle Marken, beschreibt ausführlich Kleidung und Habitus seiner Protagonisten, schafft damit eine Atmosphäre, die weit weg ist von ordinärem Alltag. Und weit weg ist Peter Siebert auch von allem, was er bisher kannte, als er in West Virginia eintrifft und von Clementine Bouvet und Wee Yang auf seine kommende Aufgabe hin getestet und ansatzweise eingewiesen wird. Es geht um nichts anderes als – siehe oben – technische Entwicklungen, die die Welt verändern werden. Dazu benötigt man in allen Schlüsselpositionen die besten Köpfe und sehr viel Geld. Das Geld kommt vom vielleicht reichsten, ganz sicher aber vom innovativsten Mann des Planeten, einem Visionär mit Namen Drew Itautis, der nach vielen Jahren erfolgreicher Arbeit im Valley mit seinem Unternehmen joule nun nach anderen Gipfeln strebt. In einer großartigen Passage des Romans, die auf Itautis‘ 80-Meter-Yacht „Gorgon“ spielt, wo der Chef und Siebert gemeinsam kiffen und sich unterhalten, heißt es:

„Bei joule kann ich keinen Beitrag mehr leisten“, sagt Itautis. „Das schnurrt von selbst so weiter und bringt eigentlich nur noch Geld. Geld ist wichtig, als Schmiermittel, aber als Selbstzweck ist es natürlich total uninteressant. Ich kann nicht weiter bei joule in irgendwelchen Finanzierungsrunden sitzen für Apps, die Lkw-Ladungen optimieren oder so.“

Der Rezensent sieht in Drew Itautis einerseits Personen der Zeitgeschichte, wie Bill Gates, Steve Jobs oder eben Elon Musk.
Und möglicherweise ist dies ein augenzwinkerndes Spiel des Autors, der unglaublich viele Anspielungen in sein Buch gepackt hat und der sich vielleicht einen Spaß daraus macht, sich vorzustellen, dass Leserinnen und Rezensenten nach all diesen ausgelegten Fährten googeln werden. Andererseits könnte diese Figur aber auch ein weiterer der genialen Bösewichte sein, die den Agenten James Bond immer wieder zu Höchstleistungen zwingen und die die Weltherrschaft erringen wollen.

Und, ja, auch in Sonder kommt man ganz schön rum: Neben den bereits genannten Orten geht es noch nach Tokio, nach Papua-Neuguinea, nach Australien, in die Toskana und ins Engadin. Besagter Reichtum, die riesige Yacht und eben der teuflische Plan sind sämtlich Attribute, die großartig in das Universum von 007 passen. Doch dieses Buch ist viel mehr: Es ist ein kluges Buch mit tiefsinnigen Gesprächen, in denen Nietzsche zitiert wird, es ist ein kultiviertes Buch, in dem toller Jazz und klassische Musik von Bedeutung sind und in dem ein argentinischer Künstler auf schicksalhafte Weise das Band zwischen Anne und Peter verstärkt. Und das Wichtigste: Es legt ausführlich Zeugnis ab von Drew Itautis‘ Idee, den Menschen und der Menschheit Gutes tun zu wollen. Das soll in Form einer Technik geschehen, die die Gehirnleistungen deutlich verbessern wird. Ob das philanthropische Moment dieses Tuns tatsächlich im Vordergrund steht oder ob Itautis vielmehr eine gigantische Manipulation im Sinn hat: Das will eine geheimnisvolle Figur namens Amaguq, die gerade dabei ist, eine Leak-Plattform für Open Source-Technik aufzubauen, herausfinden. Und hier kommt wiederum Anne ins Spiel, die Peter Siebert seinerzeit nicht ganz zufällig am Flughafen getroffen hat…

Man liest dieses Buch mit wachsender Begeisterung und Spannung, was auch daran liegt, dass Alard von Kittlitz ein sehr guter Erzähler ist, der immer Herr seines Stoffes ist. Das Buch wirkt trotz der vielen Orte, Geschehnisse, Entwicklungen und Überraschungen nie überladen, was auch an der ungewöhnlichen Erzählperspektive liegt. In der ersten Person Plural beschreibt der Wir-Erzähler einer Kamera gleich das jeweilige Geschehen und bezieht mit seinem „Wir“ die Leserschaft quasi mit ein. Und der Autor macht etwas sehr Besonderes: Er porträtiert in sieben Kapiteln – jeweils am Ende – eine Figur, die nur ganz kurz auftritt und die er dann zur Hauptfigur macht. Im ersten Kapitel in Neuseeland beispielsweise ist diese Figur ein Pepsi-Mitarbeiter, dem von Kittlitz eine unglaubliche Biografie zuschreibt. Später sind es eine international gesuchte Ökoterroristin, ein japanischer Schwertgelehrter, ein Mädchen aus Papua-Neuguinea usw. In diesen Kurzbiografien zeigt der Autor erneut sein Können, stellt es aber nicht eitel aus, sondern gibt seiner Fantasie und Erzähllust noch mehr Raum. Man freut sich bald auf diese Exkurse fernab der eigentlichen Geschichte, wartet bald auf das nächste Kuriosum und versteht, dass es auch genau andersherum sein könnte: Alard von Kittlitz könnte auch die Geschichte des, sagen wir mal, japanischen Schwertgelehrten als Roman erzählen und Peter Siebert oder Drew Itautis wären die Nebenbiografien. Es ist dies eine bestechende Idee, die zu weiteren Assoziationen bei der Lektüre anregt: Man kann an Carlos Castaneda, an Marion Poschmanns Roman Die Kieferninseln oder an David Cronenbergs Film eXistenZ denken, aber auch an Schultze und Schulze aus den Tim und Struppi-Comics – wie gesagt, der Autor hat viele Anspielungen untergebracht. Sonder ist ein höchst unterhaltsamer und komplexer Roman, der hohe Erwartungen an seinen Nachfolger weckt.

Titelbild

Alard von Kittlitz: Sonder. Roman.
Piper Verlag, München 2020.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492070249

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