Was ist eigentlich junge Literatur? Spurensuche auf dem PROSANOVA

Vom 8. bis 11. Juni gab es für AnhängerInnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nur ein mögliches Reiseziel: Hildesheim. Auf einem verlassenen Industriegrundstück fand hier das PROSANOVA Festival für junge Literatur statt – dieses Jahr unter dem Motto „Material, Prozess und Protokolle“. Aber was genau versteht man eigentlich unter junger Literatur? Team Ullstein (KollegInnen aus Lektorat, Presse und Blog) setzte sich in den Zug, um sich einen Eindruck zu verschaffen, was auf Text-, Bild,- und Tonebene im literarischen Kontext alles möglich ist.

von Marie Krutmann 

 


Was wäre ein Literaturfestival ohne gemütliche Orte zum Lesen?

 

Alle drei Jahre zieht es zahlreiche Mitglieder der Literaturszene ins überschaubare Hildesheim in Niedersachsen zum PROSANOVA – dem Festival für junge Literatur. Aber was genau ist das eigentlich, junge Literatur? Texte von möglichst jungen AutorInnen? Nein, nein. Junge Literatur kennt kein Alter, so erklären die VeranstalterInnen des Festivals, allesamt RedaktuerInnen der Literaturzeitschrift BELLA triste,  gleich zum Auftakt des Festivals, welches in diesem Jahr auf einem leerstehenden Industriegelände stattfindet. Junge Literatur meint vor allem neue Texte, in denen die AutorInnen Ungewöhnliches wagen, mit Formaten experimentieren und bislang ungehörte Stimmen zu Wort kommen lassen. Auf dem PROSANOVA 17 versammeln sich daher, neben noch unveröffentlichten AutorInnen, ebenfalls bekannte Gesichter wie die von Olga Grjasnowa, Margarete Stokowski, Anke Stelling oder Roman Ehrlich, die sich in Sofalandschaften, auf Wiesen oder Klappstühlen niederlassen, um in einem leerstehenden ALDI, im schummrigen Kegelcenter oder einer großen alten Eisenhalle mit frisch immatrikulierten und ehemaligen Studierenden des Fachs „Kreatives Schreiben“ über Sprache, Recherche und gute Texte zu sprechen.

 


Roman Ehrlich, Guido Graf, Lann Hornscheidt und Margarete Stokowski im Gespräch darüber, wie sich unsere Sprache verändert.

 

Womit wir bei der Frage wären, was denn eigentlich ein guter Text ist. Als wir am Donnerstag am späten Nachmittag auf dem Festivalgelände ankommen und uns einen ersten Überblick über das Programm verschaffen, fällt auf, dass für ein Literaturfestival relativ wenig gelesen, dafür aber sehr viel diskutiert wird. Hier geht es nicht um fertige Ergebnisse, sondern – wie der diesjährige Titel des Festivals „Material, Prozess und Protokolle“ schon sagt – um den Prozess des Schreibens und die Frage danach, wie gute Texte entstehen können.

In der Veranstaltung „Skriptor Prosa“ bekommen zu Beginn sowohl das Publikum als auch die eingeladenen AutorInnen auf dem Podium (Shida Bazyar, Anke Stelling, Donat Blum und Tilmann Strasser) den noch unveröffentlichten Text der Autorin Julia Rüegger ausgehändigt, welcher nach einer kurzen Lesung in einem 80-minütigen Gespräch genaustens unter die Lupe genommen wird. So werden Abläufe wie das Lektorat, die dem Publikum normalerweise verborgen bleiben, sichtbar gemacht.

 


Skriptor Prosa im Kegelcenter mit Anke Stellin, Julia Rüegger, Donat Blum, Shida Bazyar und Tilmann Strasser.

 

Während es bei der Skriptor-Diskussion im Kegelcenter trotz der spannenden Einblicke in die Arbeit am Text noch sehr theoretisch zugeht, erwarten uns (dank moderner Technik) im alten ALDI multimediale Überraschungen. Die Lyrikerin Maren Kames sitzt im Dunkeln an ihrem Laptop, während ihre Stimme durch die Lautsprecher hallt und offen legt, wie es ist, wenn man noch ganz am Anfang eines neuen Textes steht: „Ohweiohweiohwei, ohjeminemine…“. Parallel dazu läuft auf einem Bildschirm vor unseren Augen ein Video, in dem Kames den Prozess des „Drifts“ spiegelt: Umherschwimmende Koi Karpfen, Rennautos, die durch Kurven schliddern. Wer sich dem Schreiben eines literarischen Textes widmet, muss zunächst eine Weile driften, bis er oder sie weiß, in welche Richtung die eigenen Gedanken und Worte gelenkt werden. Wobei „eigene“ Gedanken ein Paradoxon ist, wenn man der Performance genauere Beachtung schenkt.

Zwischen die murmelnde Stimme der Autorin mischen sich unter anderem Songs von Bands wie The National, denen die Autorin einzelne Namen, Begriffe oder ganze Sätze „klaut“ (Kames selbst nennt es sampeln) ins Deutsche umgewandelt übernimmt und in einen neuen, eigenen, Kontext stellt. Diesen Prozess sehen wir zeitgleich, während der Song „Sorrow“ läuft und im Video eine Herde Kühe über die Weide trabt, auf einem zweiten Bildschirm. „Ich werde über dich gehen“ heißt es zu Beginn im Text, dessen Entstehen wir live am Bildschirm mitverfolgen. Später tippt Kames: „Ich will nicht über dich gehen“ und schließlich „Ich will nicht über dich kommen“, während es bei The National heißt:

„Don’t leave my hyper heart alone on the water.

Cover me in rag and bone sympathy

cause I don’t wanna get over you.

I don’t wanna get over you.“

 

 

Achso, daher kommt das! Es ist eine Inszenierung, die den Glauben erweckt, wir seien live im Kopf der Autorin, die durch ihre Umgebung, durch Songs und Videos und Geschichten anderer driftet, bis sich daraus ein eigener Text entwickelt. Und das wiederum erscheint mir authentisch, ästhetisch und originell umgesetzt. „Man muss mit jedem Text neu sprechen lernen“, tippt Kames schließlich und schafft damit eine perfekte Verbindung zum Gespräch zwischen Margarethe Stokowski, Roman Ehrlich, Lann Hornscheidt und Guido Graf, die sich in der Diesel-Halle dem Wandel unserer Sprache widmen.

 

 

Wie Sprache und Macht zusammenhängen, lerne ich außerdem noch einmal ausführlich in Hornscheidts Workshop „Exit Gender“. Gibt es etwas neben, zwischen, über oder unter „Mann“ und „Frau“? So lautet eine der Ausgangsfragen. Definitiv! Doch wie setze ich diese Varianten von Geschlecht in einem Text um, ohne dass es den Schreib- und Lesefluss stört? Indem ich beschreibe, was eine Person macht und welche Eigenschaften außer Geschlecht sie auszeichnet.

Voller Eindrücke, neuer Erkenntnisse und Literaturtipps auf der persönlichen „must read“-Liste fährt Team Ullstein (Linda Vogt aus dem Lektorat, Susann Brückner aus der Presse und ich) schließlich zurück nach Berlin und freut sich auf all das, was da zurzeit im Prozess ist und hoffentlich bald zu Büchern wird. Das war eine schöne „Klassenfahrt“ nach Hildesheim! Schade, dass es so etwas nur alle 3 Jahre gibt…

 

 

Text, Fotos und Video von Marie Krutmann 


Marie Krutmann

Marie Krutmann

Marie Krutmann ist Redakteurin bei den Ullstein Buchverlagen. Sie unterstützt die Presseabteilung im Bereich Storytelling und Content Creation. Zu ihren Aufgaben gehört die Redaktion des Verlagsblogs sowie die Betreuung der Social Media Kanäle.

Foto: © privat

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4 Kommentare

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