Matu

gangway #27

Schlecht Geschlafen

© 2003 by Matu and gangan books australia

 

Mann, ist das dunkel hier.

Ich kann im Dunkeln nicht schlafen. Das ist, als würde man nackt durchs Weltall treiben.

Ah, da kommt ein bisschen Licht durch die Rolläden, und ich kann die Blumen auf dem Fensterbrett sehen. Warum haben Oma und Opa Blumen in ihrem Schlafzimmer? Vergessen sie wohl ab und zu, sie zu gießen? Ich würde das bestimmt dauernd vergessen. Ich kann sie riechen, die beiden, hinter den Blumen. Sie riechen alt und sie bewegen sich nicht. – Ob es wohl noch mehr Zwölfjährige gibt, die heute bei ihren Großeltern übernachten und nicht einschlafen können?

Dieser Geruch… alt und sauber, frisch gewaschene und gemangelte Bettwäsche. Ob ich auch mal so riechen werde? Vielleicht in 50 Jahren, wenn ich so alt bin, wie Opa jetzt. Vielleicht hat es damit zu tun, daß sie schon so lange gelebt haben und es bedeutet, daß nicht mehr viel kommt. Wie lange werden sie wohl noch leben? 10 Jahre, 20? Eher 10 oder 15. Männer leben kürzer als Frauen, hat Papa gesagt, im Durchschnitt. Alle sagen immer ich bin so intellligent, weil ich verstehe was so was heißt wie „im Durchschnitt“ und weil ich so viele Wörter kenne und mich so gut ausdrücken kann. Toll, das nützt mir auch nichts. Wenn ich nur schlau genug wäre, mir was auszudenken, damit ich einschlafen kann.

Ob Opa Angst hat, daß er bald sterben muss? Ist er wohl traurig deswegen?

Muss man überhaupt traurig sein, zu sterben? Jeder stirbt und wenn man tot ist, ist man weg. Nein, man ist nirgendwo. Aber wo ist das? Alles, was ich mir vorstellen kann ist irgendwo. Aber ich glaube, nirgendwo ist gerade nicht irgendwo. Manno, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Dabei werde ich auch sterben, ganz sicher. Hoffentlich dauert das noch lange, aber irgendwann… Wie lange wohl noch? Wenn ich noch fünfmal so lange lebe, wie ich jetzt schon gelebt habe, dann bin ich ,äh, 72. Mann, ist das alt. Aber dann bin ich tot, für immer! Eigentlich könnte ich auch jetzt gleich sterben, das macht hinterher sowieso keinen Unterschied. Ich hab’ Angst. Mama, hilf mir!

Ich halt’ mich an den Blumen fest, sonst werde ich noch verrückt. Wie die riechen.

Wenn man tot ist, ist man nichts. Wie das Nichts wohl aussieht?

Blödmann, schon wieder. Nichts sieht nicht aus, sonst wäre es ja etwas. Es ist noch nicht mal schwarz und leise, weil es… das wäre ja auch schon ‘was. Ich werde auch eines Tages nur noch „nichts“ sein, nur kann ich mir das jetzt noch nicht vorstellen.

Augen zu!

Ich will nicht mehr daran denken; dieser ganze Scheiß ist wie eine Blase in meinem Kopf, die immer größer wird, und ihn zum explodieren bringen will. Ich drücke sie zusammen, damit es nicht geschieht. Jetzt wird sie kleiner und immer kleiner. Mein armer Kopf, wie heißt das noch, was Fernseher manchmal machen, ah ja, er implodiert beinahe.

Augen auf!

Puh, das ist nochmal gutgegangen. Mein Schädel ist noch heile.

Bitte Schlaf, komm jetzt. KOMM! K o o o m m !

 

Noch lange wälzte er sich hin und her und versuchte, nicht ans Nichts und nicht an den Tod zu denken, aber nach drei, nach sieben und auch nach zwölf Minuten war er immer noch wach und erst viel später döste er langsam ein.

 

 

Am nächsten Morgen sitzen Mutter und Sohn als letzte an einer leergegessenen Tafel.

 

Was ist bloß mit dem Jungen los? Sitzt hier am Frühstückstisch, die Sonne scheint, er hat keine Schule und macht ein Gesicht, als sei einer gestorben.

„Hast du schlechte Laune?“

„Ich bin müde.“

Das sagt er immer, wenn er schlechte Laune hat. Naja, das geht vorbei. Wahrscheinlich hat er heut’ nacht schlecht geschlafen.

Ich kann nicht mit ihr darüber reden. Ich kann mit keinem darüber reden. Die würden mich für verrückt halten; ich bin zwölf und habe Angst vor’m Sterben. Dabei macht das gar nichts, wie alt man ist, denn wenn man für immer tot ist, machen 50, 60 Jahre keinen Unterschied. Und solange ich nicht weiß, was ich über den Tod denken soll, kann ich nicht über Wurstbrötchen und schönes Wetter sprechen.

Gleich muss ich weinen. Und dann sieht sie es.

Ich muss ‘raus!

„Wo gehst du hin?“

Rums, das war die Haustür. Was mach’ ich bloß mit ihm?…

Was war das für ein Geräusch?! Hhhhh!!! Ein Auto!

Oh mein Gott!

 

Das Lokalblättchen vom 26. April (eigener Bericht)

Am gestrigen Morgen ist in der ____ Straße ein 12jähriger Junge bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Frau ____ (32), die Mutter des Jungen, sagte der Polizei: „Wir haben beim Frühstück gesessen und dann ist er auf einmal ‘rausgerannt. Dann hab’ ich ein Geräusch gehört, einen dumpfen Knall und bin hinterher. Und da lag er dann!“

Der Fahrer des Unfallwagens sagte, daß der Junge ihm plötzlich und unerwartet vor das Auto gelaufen sei.

 

Alles sei so schnell gegangen, daß er nicht habe reagieren können. Aber er habe das Gefühl, daß ihn der Junge hätte sehen müssen, und ihn vielleicht sogar gesehen habe.

Überhöhte Geschwindigkeit ließ sich laut Polizeiangaben nicht feststellen. Ob gegen den Fahrer ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet wird, stand bis Redaktionsschluss noch nicht fest.

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