Monika Wogrolly

gangway #28

In Graz bin ich

© 2003 by Monika Wogrolly and gangan books australia

 

Thomas Bernhard meinte, in Graz müsse man nicht gewesen sein. Aber neulich, als ich in Innsbruck in den Zug einstieg, wehte es mich an, schon angesichts des Wortes auf der Tafel mit den Bestimmungsorten: Innsbruck – Selzthal – Leoben – Graz; in der Erinnerung sind mir gewiss Zwischenstationen entfallen. Aber wozu Zwischenstopps einlegen? Ich fliege direkt nach Graz. Ich zieh mir die Bergschuhe an und eile auf den Schöckl. “Es gibt ja bei euch keine Berge”, hat am Vorabend ein gepiercter Tiroler bei Mc Donald’s zu mir gesagt. Wir tauschten Blicke und Pommes, da ich ein reguläres Fish-Mac-Menue hatte, aber er hatte Super-size. Er war Feinmechaniker und schätzte mich auf achtundzwanzig. Ich ihn auf siebzehn. Beides war weit verfehlt, er war älter, ich auch, und die Nacht gab sich mit uns solidarisch und ging gegen eins.

“Um eins noch ein warmes Essen!”, rief jemand am nächsten Tag, dem ich davon erzählte. Also wie ist das mit Graz? “So etwas wie Wärme”, sage ich, “so wie wenn ich Marylin Monroe bin und mit dem Glockenkleid, dem Fifties-Kleid über diesem Luftzug stehe, du weißt schon.”

Der Tiroler nickt und meint, kein Studium zu schaffen. Ich gebe ihm die größere Packung Pommes, er mir die kleinere. Die Angestellte hat sie erst nachbringen müssen und vertauscht. “In fremden Städten geh ich gern zu Mc Donald’s”, murmle ich. “Da fühlt man sich zu Haus. Zum Beispiel vor zwei Jahren in Oslo. Fünf Fish-Mc-Menues in sieben Tagen. Rekord!” – “Und in Graz nicht?” – “In Graz geh ich lieber auf den Schöckl statt zu irgendeiner Fastfoodkette. Jetzt gibt’s auch Burger-King-Menues, dort beim Seiersberg-Einkaufscenter.” –

“Ich wähle den steilsten Weg”, sage ich, “den soll auch Wolfi Bauer in seinen besten Tagen dreimal wöchentlich absolviert haben: beim Schöckelkreuz geh ich los und fast senkrecht hinauf...” – “Und wie geht’s dem Wolfi Bauer jetzt?” – “Er hat wieder Power.” – “Willst du?” – “Danke, ich hab eigenes Ketchup. Also wir haben auch Berge...” – “Oh...” –

Das Gefühl beim Einsteigen in den Eisenbahnwaggon, ehe der Schaffner mich, wie seit Jahren alle Schaffner, zurechtwies für meine auf den schäbigen Sitzbezügen gelagerten Füße mit Schuhen, ein Dampf, ein Luftzug, angenehm und irgendwie an der Grenze zu tödlich.

Und als ich in Graz am neuen Bahnhof ankomme, seh’ ich als erstes Gammler um einen Tisch herum sitzen, dort bei der Straßenbahn. Welch ein Anblick! Irgendwie intim. Nicht wie die Karlsplatz-Gestalten, bei denen du dich fragst, wie lang es sie noch gibt. Unsere Gammler sind Monumente. Globalisierungsbedingt schwankt meine Sprache manchmal etwas; sollte ich nicht statt Gammler Sandler sagen, Clochards, Obdachlose, Männerheiminsassen, Alkoholiker, Schizophrene, Vagabunden, Arbeitslose, Tagediebe, Gottes vergessene Kinder?

Ich bin Marylin und spüre die warme Luft unter mir, wovon es mir das Kleid bauscht. Mir bauscht es die Haut, die Sehnen treten hervor, während ich, an den Tiroler Feinmechaniker bei Mc Donald’s zurückdenkend, die Schöckel-Höhle erreiche. Ist Bauer hier nie hineingestürzt? – Ich auch nicht.

Nun – ich könnte um achtzig Euro einen ersten Tandemflug in Paragliding wagen, gleichsam als Rucksack eines Anderen. Ich schaue hinunter, denke daran, auch schon bei Schnee und Eis hier herauf geeilt zu sein, zwanzig Minuten damals und heute – wegen zu vieler Gedanken, die das Tempo drosselten – dreißig. Später kehre ich auf eine Salatplatte beim Schöcklbartl ein, das Gasthaus, das ich dem schon wieder nicht bewirtschafteten Alpenvereinshaus vorziehe.

Wir haben einen neuen Bürgermeister, denke ich. Das ist der Höhenkoller, bedingt durch akute Sauerstoffunterversorgung des Gehirns und Zunahme der roten Blutkörperchen in mittleren Höhen, sage ich mir, solche Gedankensprünge zu haben: von Bauer zum Paragleiten zur Salatplatte zu Nagl zu weiß-nicht-wohin-noch zu fliegen –

Ein Potpourri der Namen und Orte in meinem Kopf. Jetzt will ich wieder hinunter. Ewiges Auf und Ab. Bauer tat das dreimal die Woche! Stimmt das auch?

“Du magst Tirol so, weil ihr bei euch keine Berge habt”, belehrte mich der Feinmechaniker und hatte einen unglaublich schmalen Schädel.

Ich bin nicht Marylin. Ich komme in Graz an. Immer wieder. Warum? Wegen der warmen Luft, wegen dem Gemisch aus Auspuffgasen, Honig und Asphalt. Wegen der Tränen und der Reue. An jeder Ecke steht ein Gespenst, das Gerippe der Vergangenheit, sehe ich mich küssend und Kinderwagen schiebend, laufend und stehend, mit einem, zweien, hunderten Menschen, überall gelebt, gelacht, gewohnt und wieder davongerannt, glühen alte Augenblicke auf. Nur hier sind sie erhalten.

Der warme Luftzug sagt mir: In Graz bin ich.

 

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