Rainer Kodritsch

gangway #30/31

Holzwinkel online

© 2004 by Rainer Kodritsch

 

Es war gerade wieder jene Zeit, wo der Frühling unbemerkt anfängt in den Sommer über zu gehen. Die Kirschbäume hatten ihre zartrosa Blüten schon abgeworfen und sie für kleine grüne Knötchen eingetauscht. Knötchen, die unbeachtet langsam vor sich hinreifen, um dann ganz plötzlich alle Welt mit den ersten roten Kirschen zu beglücken. Das ganze Land atmete Wärme und unter der Jugend war die Vorfreude auf kommende Ferientage deutlich zu spüren.

Es war auch diejenige Zeit, welche ich immer schon am meisten geliebt hatte, besonders als Schulkind. In der Erinnerung ist in mir noch immer das Glück von unbeschwertem Indianerspiel mit meinen Kammeraden lebendig, nach Baumhäuser bauen, nach, mit selbstgefertigtem Pfeil und Bogen durch die Gegend streifen um feindliche Stellungen auszuspionieren. Kein mahnendes Wort der Eltern in den Ohren haben, wenn man Morgens so lange man wollte im Bett blieb und in das tiefe Blau des Himmels hineinträumte, der sich fast täglich hinter dem Fenster zeigte.

Holzwinkel, so heißt das Dorf in dem ich aufwuchs, hat sich seit den Tagen meiner Kindheit nur unwesentlich verändert. Die Einwohnerzahl ist so viel ich weiß die selbe geblieben, und die markantesten Gebäude sind noch immer die hohe alte Steinkirche am Ende des Markplatzes, sowie die Volksschule mit ihrer seltsamen, fast chinesisch anmutenden Dachkonstruktion. Irgendwie ist sie viel zu groß geraten und will so gar nicht zu den übrigen Gebäuden passen. Die beinah städtisch anmutenden Handwerkshäuser rund um das Zentrum erfreuen sich inzwischen zwar eines bunt-frischen Anstrichs und an den Fronten der wenigen Geschäfte prangern Neonschriften über breiten Auslagenscheiben. Doch solche Neuerungen gehören zu den üblichen Zeiterscheinungen, die wohl kaum dem allerkleinsten Ort erspart bleiben und über die sich bei auch bei uns längst niemand mehr erbost.

Folgt man dem Lauf des Faschnitzbaches flußabwärts, der ganz Holzwinkel in zwei Hälften schneidet und es damit in ein linkes und ein rechtes Holzwinkel teilt, dann stößt man zwar bald auf einige neuere, erst in den letzten Jahren gebaute Reihenhäuser, ansonsten aber ist kaum eine wesentliche Veränderung seit meinen Leben als Indianer zu bemerken. Abgesehen vielleicht von den paar hinzugekommenen Fremdenpensionen, die sich fast unbemerkt zwischen die umliegenden alten Bauernhäuser geschoben haben. Seit einiger Zeit hat sich nämlich so etwas wie ein bescheidener Tourismus entwickelt, welcher der vordem eher ärmlichen Gemeinde einen gewissen Wohlstand eingebracht hat. Dieser Wohlstand zeigt sich in Form einer neuen, sehr bizarr anzusehenden Straßenbeleuchtung, einem kleinen Springbrunnen zwischen Post und Gemeindeamt, zahlreichen, leuchtend gelben Papierkörben an allen nur möglichen und unmöglichen Stellen und ein paar hinzugekommene Blumenbeete entlang der Ortseinfahrt.

Die Holzwinkler lieben ihr Dorf und sind sehr bemüht, es den Fremden, die in der Wintersaison kommen, sauber und adrett zu präsentieren. Denn der Winter ist eben jene Jahreszeit, die den Ort für Gäste attraktiv macht. Das bezeugt schon der supermoderne Vierersessellift, der erst kürzlich gebaut und die Schifahrer auf die sich gleich hinter Holzwinkel erhebende Ochsenkappe bringt. Von dort sieht man sie dann je nach Können und Temperament im Kampf mit den Steilhängen. In kniesteifer und rührend anzusehender Unsicherheit die einen, in todesverachtender Tollkühnheit die anderen.

Trotz des unverkennbaren wirtschaftlichen Aufschwungs, den das Dorf durch den sanften Tourismus, wie das offizielle Beiwort lautet, erlangt hat, verdienen die wenigsten Bewohner ihren Lebensunterhalt im Ort selbst, sondern pendeln in die benachbarte, zirka zehn Kilometer entfernte Stadt Ossburg, wo es eine Menge klein — und mittelständische Unternehmen gibt. Die, welche nicht zu pendeln brauchen, betreiben meist selbst einen Gewerbe und versorgen so die Einwohner mit dem Nötigsten. Oder sie sind direkt oder indirekt am Tourismus beteiligt. So gibt es neben einem Gemischtwarenladen noch eine Bäckerei, die Trafik, ein Trachtenmodegeschäft, die Fleischhauerei, zwei Cafès und drei Gasthäuser. Nicht zu vergessen die Tankstelle mit angeschossener Autoreperaturwerkstatt am unteren Ende von Holzwinkel. Und natürlich den unvermeidlichen Gendarmerieposten, der in keinem Dorf der Gegend fehlen darf.

So lebt es sich ruhig und beschaulich in meinem Heimatflecken, besonders jetzt in der warmen Jahreszeit. Die Fremden zieht es außerhalb des Winters nur vereinzelt zu uns. Zwar liegt der Ort romantisch eingebettet zwischen den Ausläufern des Herrsteingebirges, doch die Kuppen und Anhöhen sind, abgesehen von der schon erwähnten Ochsenkappe, meist bis oben bewaldet, und bieten so für den Bergsteiger oder Wanderer wenig Reiz. Auch fehlt es an attraktiven Bademöglichkeiten. Der kleine Waldsee, gerade mal 20 Gehminuten vom Ortskern entfernt, eröffnet an seinen Ufern nur spärliche Liegemöglichkeiten, und für ein Freibad haben die Mittel des neuen Wohlstandes dann doch noch nicht gereicht.

Die Bürger gehen allesamt brav ihrer täglichen Arbeit nach. Ich kenne nicht einen einzigen der je versucht hätte, in irgend einer Form gegen den Strom zu schwimmen. Alle ordneten sich, seit ich mich zurück entsinnen kann, stets in das wie ein gleichmäßiges Uhrwerk ablaufende Räderwerk des Alltags ein. Pflicht und Ordnung sind die wichtigsten Eckpfeiler des dörflichen Zusammenlebens, das war immer schon so und daran hat sich auch bis zum heutigen Tage nichts geändert.

Doch wie es den Anschein hat, sind ohnehin alle mit dieser Lösung zufrieden — alle außer mir.

Ich bezeichnete mich zwar nie definitiv als Außenseiter, doch zu jener Zeit war ich mit meinem Leben alles andere als zufrieden. Ich hatte gerade das Gymnasium vorzeitig abgebrochen, welches ich bis zur siebenten Klasse im benachbarten Ossburg besuchte. Mit meinen Lehrern endgültig überworfen, kotzte mich das ganze Schulsystem an und mich noch länger mit dem geisttötend langweiligen Unterrichtsstoff herumzuquälen, dazu fehlte es mir an Motivation. Vor allem aber fehlte es mir an Hoffnung, doch noch irgendwann die letzte Klasse zu erreichen. Jetzt auszusteigen bedeutete zwar den Verlust von zwei vollen Jahren, doch weitermachen hätte unter Umständen noch Schlimmeres bedeutet. Und was sind schon zwei Jahre angesichts des ganzen Lebens, das noch auf mich wartete.

Mir war mit einem male klar geworden, daß ich nicht für eine akademische Laufbahn geeignet war. Wofür ich aber geeignet sein könnte, das wußte ich deshalb auch noch nicht Um meinen Eltern zu beweisen daß doch noch nicht alles verloren war, hatte ich mir sofort nach meinem Ausstieg in der benachbarten Stadt eine Lehrstelle gesucht. In einem grafischen Betrieb, einer Druckerei. Warum gerade in dieser Branche, weiß ich selber nicht zu sagen. Bis dahin hatte ich jedenfalls nicht die geringsten Ambitionen in diese Richtung gezeigt. Ich glaube, das einzige was mich dabei wirklich anzog war der Klang des Wortes „Grafik“. Es hatte für mich irgend etwas Bedeutsames, Wichtiges. Das war aber auch schon alles. Natürlich gestand ich das niemandem ein, am wenigsten mir selber. Was tut man nicht alles um sich etwas vorzumachen. Und ich machte mir viel vor, damals. Zum Beispiel, daß mich die Arbeit als Offsetdrucker interessieren würde. In den ersten beiden Wochen glaubte ich sogar selbst daran. Nicht so meine Eltern. Denen war die ganze Sache von vornherein suspekt. Aber sie hielten sich in ihren Kommentaren diskret zurück und ließen mich machen. Und damit hatten sie natürlich vollkommen recht. Hätten sie sich dagegen gestellt, dann würde ich mich wohl nur noch mehr in meine Selbsttäuschung verbissen haben.

Und wirklich, es dauerte kein ganzes Monat und ich mußte meinen Fehler einsehen. Die Arbeit gestaltete sich zur einzigen Katastrophe. Ich begann sie zu hassen, mehr und mehr. Das schlimmste dabei war aber nicht die so sehr schmutzige und ungesunde Tätigkeit eines Druckerlehrlings, sondern die Vorstellung, daß ich ab nun mein ganzes Leben fünf Tage in der Woche, von früh am Morgen bis spät am Abend, dem immer gleichen, monotonen Trott unterworfen war. Und das Jahr für Jahr, unterbrochen nur von der Lächerlichkeit der paar kurzen Urlaubswochen die einem von Staats wegen zugestanden wurden. Jahr für Jahr, immer das Gleiche, ohne Abwechslung, ohne die geringste Chance auf eigene Gestaltung des Lebens. Keine Abenteuer, keine Spannung und Gefahr, nichts, was man sich in seiner Jugend so erträumt. Dafür heißt es arbeiten, arbeiten, Geld verdienen, Geld ausgeben, Geld beiseite legen, für später, für schwerere Zeiten, für dies, für das. Und immer wieder von neuem Geld verdienen und noch mehr verdienen. Geld hier, Geld dort, es wieder ausgeben, wieder sparen, für eine bessere Wohnung, ein besseres Auto, für Kleidung, Urlaub, Kinder und der Himmel weiß für was noch alles. Bis man dann irgendwann alt und erschöpft, seiner besten Jahre und Kräfte beraubt, das lang ersehnte, von allen herbeigewünschte Ziel erreicht hat, und einem endlich, endlich in den wohlverdienten Ruhestand zu treten erlaubt wird. Dann darf alles Versäumte nachgeholt werden. Dann darf man leben, darf träumen, darf aufatmen. Dann ist alles gut. Dann, dann, dann — aber erst dann.

Und das zu erreichen, so versuchte man mir klar zu machen, sollten auch mein Bestreben sein, sollte das sein, worauf ich mich freuen dürfe, meine Zukunft, mein Glück, mein Leben.

Kann es für einen knapp Siebzehnjährigen etwas schlimmeres geben? Für mich, war das das Schlimmste. Allein die Vorstellung daran bereitete mir mindestens eben solche Furcht wie der Gedanke, unschuldig des Mordes angeklagt und zu lebenslänglicher Haft verurteilt zu werden. Lebenslängliche Haft, das war das wahre Wort für meine Empfindungen.

Und dagegen rebellierte ich, wehrte sich alles in mir und ich suchte Tag und Nacht nach einem Ausweg, einer Möglichkeit der Flucht aus diesem Gefängnis. Doch ein Ausweg war vorerst nicht in Sicht. Meine Lehre einfach abzubrechen, darin sah ich im Moment nicht die Lösung. Was hätte ich denn statt dessen anfangen sollen? Ich wußte es nicht und so sah ich mich vorerst gezwungen, weiter zu machen. Aber ich lauerte verbissen auf den Augenblick, wo ich erkennen würde, was ich zu tun hätte. Ich war mir ganz sicher, der Augenblick würde kommen — irgendwann. Die Frage war nur, wann. Denn lange konnte ich so nicht mehr weitermachen, ohne dabei ernsthaften Schaden an meiner Seele zu nehmen. Das fühlte ich ganz deutlich. So grübelte und dachte ich in einem fort über meine Möglichkeiten des Ausbruch aus dem Straflager.

 

 

Und wer weiß wie lange ich noch gegrübelt hätte, wenn nicht die bald darauf eintretenden Ereignisse meine Aufmerksamkeit in eine völlig andere Richtung lenkten. Auslöser und Mittelpunkt dieser Ereignisse war ein Fremder, der eines Tages in unserem Dorf auftauchte. Er war von unscheinbarem Äußeren, mittelgroß, etwa vierzig Jahre alt. Ein beigefarbener Staubmantel verdeckte zur Hälfte sein graues Beinkleid, ein ebenso grauer Filzhut schmückte den Kopf, und in der einen Hand trug er eine kleine gelbe Ledertasche, in der anderen einen Regenschirm. So stand er am Straßenrand, in dieser, für diese Jahreszeit, viel zu warmen Kleidung. Ganz offensichtlich wartete er auf irgend etwas. Zuerst fiel er keinem Menschen sonderlich auf, auch mir nicht. Wer kümmert sich schon um einen X-beliebigen Unbekannten, der da am Gehsteig steht und wartet. Als ich ihn aber zum fünften oder sechsten male an der selbe Stelle antraf, immer in der selben Kleidung, immer mit dem selben freundlichen Lächeln auf den Lippen, dem sanften Blick, begann ich mich zu wundern. Was ist das bloß für eine seltsame Gestalt, fragte ich mich. Er wirkt so friedvoll und gelassen. Doch scheint er auf etwas zu warten. Doch auf was? Ich konnte mir keinen rechten Reim darauf machen. Jedenfalls handelte es sich an der besagten Stelle weder um eine Busstation, noch um sonst einen Ort, der eine derart häufige Anwesenheit rechtfertigen würde. Und immer dieser weiche, friedvolle Gesichtsausdruck. Ich mußte zugeben, dieser Mensch begann mir Rätsel aufzugeben.

Inzwischen war er natürlich nicht nur mir aufgefallen, sondern auch den meisten andern im Dorf. Trotzdem dachte niemand daran, ihn einfach um den Grund seines Hierseins zu fragen. Und das, obwohl die Holzwinkler sonst gern Gespräche mit Fremden anknüpfen. Schon allein, weil es sich für das Geschäft gut auswirkt. Im Allgemeinen lieben es Touristen ja, mit Ortsansässigen in Kontakt zu kommen. Und die Holzwinkler sind nicht auf den Mund gefallen. Doch in diesem Fall waren alle wie von einer Lähmung befallen Auch mir ging es nicht anderes. Irgend etwas hielt uns davon ab, einfach vor ihn hinzutreten, ihm Guten Tag zu wünschen und über irgend etwas Belangloses, meinetwegen über den letzten Politskandal, mit ihm zu reden. Jedenfalls soviel ich weiß, tat niemand dergleichen.

Dafür begann man über ihn zu munkeln. Die Hausfrauen stecken beim Kaufmann die Köpfe zusammen, tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Ein Verrückter sei das, ein Narr, was sonst. Vielleicht einer der aus der Irrenanstalt in Bremberg entkommen war, wer weiß. Womöglich ist er sogar gefährlich und mit seinem freundlichen Lächeln beabsichtigt er nur uns zu täuschen und in Sicherheit zu wiegen. Man soll sich nur in acht nehmen. Vor allem gehören die Kinder geschützt.

Solche und ähnliche Dinge bekam man bald immer öfter zu hören. Und die ersten besorgte Eltern verbaten auch tatsächlich bald ihren Sprößlingen, sich in seiner Nähe aufzuhalten.

 

 

Nach einer weiteren Woche gab man sich keine Mühe mehr, die Sache heimlich zu handhaben Das Thema drängte ungeniert an die Öffentlichkeit und in den Wirtshäusern wurden lautstarke Debatten über den seltsamen Fremden geführten.

„Wenn ihr mich fragt, ich halte den Kerl schlichtweg für einen Verrückten“, brummte am Biertisch der Fleischergeselle Karl Reinbrechter mit seiner unverwechselbaren Baßstimme. „So einer kann doch nicht ganz normal sein. Steht jeden Tag von morgens bis abends an der gleichen Stelle und schaut blöd vor sich hin. Was will er denn überhaupt?“

„ Genau das frag ich mich auch“, meinte der Bäckermeister Josef Karnitz. „Mir war der Kerl von Haus aus suspekt. Schon am ersten Tag ist er mir aufgefallen“. Und dabei machte er ein finsteres Gesicht, während er den Rauch seiner Zigarette dem Reinbrechter um die Ohren blies.

„Ja wirklich, ein komischer Vogel, das muß ich auch sagen“, mischte sich hinter dem Schanktisch der rotbackige Wirt ein. „Allein schon wie der angezogen ist. Wie eine Mischung aus Inspektor Colombo und Tante Eusebia.“

Lautes Gelächter der Umstehenden munterte ihn zum Weiterreden auf.

„Es geht einen zwar nichts an, es kann ja jeder machen was er will, aber einfach nur auf der Straße stehen, einfach so, so etwas hat es bis jetzt noch nie gegeben. Jedenfalls nicht bei uns in Holzwinkel.“

„Richtig“, bestätigten ihm der Bäckermeister, „so etwas hat`s noch nicht gegeben.“

„Man sollte die Gendarmerie benachrichtigen. Ich versteh sowieso nicht, warum sich die noch nicht um den Burschen gekümmert haben. Sonst sind sie ja auch gleich da, besonders wenn man sie nicht braucht.“

„Haha“, lachte Karl Reinbrechter auf, „meinst wohl wenn du mit deinem BMW mit hundert Sachen über den Marktplatz flitzt.“

„Hundertzwanzig, Reinbrechter, Hundertzwanzig warn es. Dafür haben sie mich aber auch gleich ins Röhrl blasen lassen. Als ob es für die nichts wichtigeres in der Welt zu tun gäbe. Aber bei so einem Typen da, da machen sie nichts. Gar nichts. So einer darf rumstehen so viel er will, und die schauen noch zu. Eine Sauerei ist das.“

Seine beiden Gesprächspartner nickten ihm beistimmend zu.

„Eins sag ich euch. Ich werde heute noch am Posten anrufen. Denen erzähl ich was. Für was zahlt man den seine Steuern. Die sollen mal was vernünftiges tun für ihr Geld.“

Auch von den anderen Tischen kam allgemeines Kopfnicken herüber. In dieser Sache war man sich jedenfalls einig.

In solcher und ähnlicher Weise liefen die Gespräche ab, wenn es um das besagte Thema ging. Ich selbst wunderte mich gar nicht, daß die meisten Dorfbewohner so aggressiv reagierten. Für sie war dieser Mensch ein unerklärlicher Fremdkörper in ihrer Gemeinde und allein deshalb schon unerwünscht. Was meine eigenen Gefühle betraf, so ließen sie sich wohl am Ehesten mit neugierig bis leicht zugetan beschreiben. Jedenfalls empfand ich keine direkte Abneigung gegen den Unbekannten, lenkte mich sein Erscheinen doch ein wenig von den finsteren Zukunftsgedanken ab, die mich damals gerade so quälten. Außerdem fühlte ich mich mit ihm als Außenseiter in gewisser Weise verwandt. Im Innersten begriff ich mich selbst ja auch unverstandenen. Allein schon deshalb brachte ich ihm eine gewisse Sympathie entgegen. Doch fand dieses leise Wohlwollen in keiner Weise einen sichtbaren Ausdruck. Nie wäre ich zu jenem Zeitpunkt auf den Gedanken gekommen, mich offen auf seine Seite zu stellen, ja mich vielleicht sogar zu seinem Verteidiger aufzuschwingen. Zu unsicher war ich mir dazu und viel zu suspekt war mir die ganze Sachlage noch. Doch blickte ich voll gespannter Erwartung auf die weitere Entwicklung der Dinge.

 

 

Inzwischen waren tatsächlich die ersten Beschwerden bei der Gendarmerie eingetroffen. Nicht nur vom Bäckermeister Josef Karnitz, auch von anderer Seite. Doch die Staatsorgane hatten in diesem Fall natürlich schon längst von sich aus ermittelt. Es war aber nichts wesentliches dabei herausgekommen. Jedenfalls nichts was sie veranlaßt hätte, den Fremden vom Platz zu verweisen. So mußten sich die Bürger vorerst einmal mit Vertröstungen zufrieden geben. Das hielt die Gemüter aber nur eine kurze Zeit in Schach. Als nichts geschah und der Fremde Tage später immer noch unbehelligt an der selben Stelle stand, lief das Maß über. Täglich trafen nun die Beschwerden beim Bürgermeister ein. Bald sah sich dieser gezwungen einzugreifen, wollte er nicht eine empfindliche Niederlage bei der nächsten Wahl riskieren. Und die stand bald bevor.

Er versprach jedem hoch und heilig, den Fremden zur Rede zu stellen, sobald es seine Amtsgeschäfte zuließen. Im Grunde aber war ihm dieser Auftrag höchst widerwillig, denn er war ein friedliebender und wohlwollender Charakter. Was aber sein mußte, mußte sein. Da half nichts. Diese Sache konnte ihn seine Stellung als Bürgermeister kosten. Nach einigem hin und her, einigem zögern, rang er sich durch. Bedeutsam setzte er seinen besten Hut auf, um sich mehr Würde zu geben griff er sogar Spazierstock und maschierte wackeren Schritts zu der Stelle, wo der Fremde zu stehen pflegte.

„Guten Tag der Herr“, sprach er ihn an. „Ich bin hier in der Gemeinde der Bürgermeister.“

Der Fremde sah ihm freundlich in die Augen

„Um es kurz zu machen, die Einwohner von Holzwinkel sind seit einiger Zeit ein wenig...., nun wie soll ich sagen....,nun ja...., sagen wir ein wenig irritiert, durch Ihr erscheinen. Sie stehen hier schon seit mehreren Tagen..., ach was sag ich...., seit mehreren Wochen. So etwas ist .., nun, gelinde gesagt, nicht ganz üblich. Dabei ist nicht einmal ersichtlich, warum oder wozu. Die Leute machen sich natürlich so ihre Gedanken, verstehen Sie...,schließlich ist das nicht..., äh... ja üblich..., äh..., jedenfalls nicht hier bei uns in Holzwinkel, verstehen Sie.“

Der Fremde zog gelassen den Hut, verbeugte sich höflich und schmunzelte amüsiert.

„Aber natürlich kann ich sie verstehen“.

Die Antwort kam mit klarer und fester Stimme.

„Ich kann Sie sogar sehr gut verstehen. Es ist nicht üblich, da haben Sie vollkommen recht. Nun, Herr Bürgermeister, um der allgemeinen Neugierde Genüge zu tun, der Grund warum ich hier stehe ist schnell erklärt. Ich warte hier auf einen Freund, der versprochen hat, mich abzuholen. Das ist alles. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Der Bürgermeister sah ihn verdutzt an.

„Sie warten bloß hier, weil Sie abgeholt werden?“

„Genau so ist es.“

„Ja aber..., aber das ist doch nicht..., verzeihen Sie wenn ich es so direkt ausspreche...., das ist doch nicht normal. So lange wartet doch kein Mensch auf der Straße, nur weil er abgeholt wird.“

„Daß es nicht normal ist, da mögen Sie recht haben. Doch nur weil es nicht normal ist heißt das noch lange nicht, daß es nicht wichtig wäre. Und glauben Sie mir, Herr Bürgermeister“, und dabei sah er ihn streng aber immer noch liebevoll an, „es ist wichtig. Für meinen Freund ist es wichtig, daß ich hier bin, wenn er kommt.“

Der Bürgermeister bekam große Augen. Darauf wußte er nicht recht zu antworten. Hilfesuchend drehte er den Kopf den paar Neugierigen zu, die auf der anderen Straßenseite stehen geblieben waren. Doch die blickten nur stumm auf den Mann mit der gelben Ledertasche.

„Ist es denn verboten zu warten, so lange man möchte?“

„Äh ..., also...“

„Wenn es verboten ist, dann werde ich auch nicht länger hier bleiben.“

„Nein nein..., natürlich ist es nicht verboten..., nur....“

„Nur?“

„Ja..., ich weiß nicht....Es ist ...,wollen Sie..., wollen Sie noch lange hier bleiben?“

„Genauso lange wie es notwendig ist.“

„Genauso lange...., wie es notwendig ist“, wiederholte er wie geistesabwesend.

„So ist es. Die Gendarmerie war übrigens vor ein paar Tagen hier und hat mir ähnliche Fragen gestellt. Somit hat mich das Auge des Gesetzes bereits erfaßt“

„Jaja, darüber bin ich informiert.“

„Dann ist es gut.“

„Äh..., ja, natürlich, es ist gut.....“

Da ihm nichts mehr einfiel, zuckte er nur hilflos mit den Schultern.

„Ja dann..., dann darf ich mich wohl wieder verabschieden.“

„Ganz wie Sie möchten. War mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Sie kennen gelernt zu haben, Herr Bürgermeister. Übrigens, mein Name ist Jeremias Wunder“, und er reichte ihm eine feingliedrige Hand.

„Wurzinger. Josef Wurzinger.“

Damit war das Gespräch beendet. Während sich das Grüppchen Neugieriger rasch verteilte, kehrte der Bürgermeister in seine Amtsstube zurück.. Er war verwirrt und verunsichert, was denn nun eigentlich von dem Fremden halten sollte. Daß er auf jemanden wartete, soviel wußte er jetzt. Na gut. Doch das war nicht besonders aufschlußreich. Was hat das schon zu besagen, sprach er zu sich selbst. Jeder wartet irgendwann einmal auf irgendwen. Und daß er Jeremias Wunder hieß, auch das wußte er. Was für ein seltsamer Name übrigens, Jeremias Wunder. Der Bürgermeister überlegte. Er wurde ja, seit er das Amt übernommen hatte, mit allen möglichen Namen konfrontiert. Aber den Nachnamen Wunder hatte er noch nie gehört. Wunder, Wunder. Wie kann jemand nur Wunder heißen, ging es ihm durch den Kopf. Doch schnell riß er sich wieder aus seinen Gedanken. Was kümmerte ihn schon dieser Name. Namen waren nicht wichtig. Jedenfalls nicht für ihn. Wenn überhaupt für jemand, dann für die Gendarmerie. Und die hatte ja schon ermittelt. Im Grunde wußte er also nicht mehr als vorher. Habe ich mich abwimmeln lassen, fragte er sich? Was habe ich denn überhaupt von ihm gewollt? Richtig, zur Rede wollte ich ihn stellen, einfach zur Rede stellen. Sonst nichts. Um endlich Klarheit in die Angelegenheit zu bringen. Diese lästige Angelegenheit, die mir ohnehin zuwider ist und die ich rasch erledigen haben möchte. Erreicht habe ich eigentlich gar nichts. Soll ich noch einmal zu ihm gehen...? Nein, das wäre Unsinn und würde zu nichts führen.

Unschlüssig sah er zum Fenster raus. Dort lachte die Sonne von einem blitzblauen Himmel herab. Ein leichter Wind war aufgekommen und trieb sein Spiel mit den Blättern der Japanischen Zierkirschen vor dem Rathaus. Nur einen kurzen Augenblick lang ließ er sich von dem hübschen Anblick gefangennehmen. Er durfte sich jetzt nicht gehen lassen. Um einfach irgendwas zu tun, griff zum Hörer und wählte die Nummer des Gendarmeriepostens.

„Gendarmeriekommando Holzwinkel“, meldete sich eine bekannte Stimme.

„Hallo Herbert. Da ist der Josef.“

„Grüß dich Josef. Wie geht‘s so?“

„Es geht. Du Herbert, hör mal zu. Ihr habt doch vor ein paar Tagen über diesen Typen da ermittelt, du weißt schon, der da am Straßenrand steht, dieser Wunder, wie er heißt.“

„Jaja, haben wir.“

„Und was ist dabei heraus gekommen?“

„Eigentlich gar nichts. Seine Papiere sind in Ordnung. Er steht nicht auf der Fahndungsliste..., was sonst noch? Ja richtig, gemeldet ist er auch ordnungsgemäß... Gibt`s irgendwelche Probleme mit ihm?“

„Naja, wie man`s nimmt. Es ist halt..., also ein paar Bürger sind beunruhigt, weil der schon so lange dasteht und...“

„Ja, bei uns rufen auch immer wieder welche an, wegen dem. Aber wir können ihnen nur sagen, daß alles in Ordnung ist mit ihm.“

„Es ist alles in Ordnung?“

„Im Grunde ja. Wir können ihm ja schließlich nicht verbieten, am Gehsteig zu stehen.“

„Aber so lange?“

„Das Gesetz sieht diesbezüglich keine zeitliche Begrenzung vor.“

„Aber es muß doch Paragraphen geben, die so etwas regeln.“

„Das schon. Da wäre zum Beispiel der Paragraph für Landstreicherei. Er verfügt aber über einen ordentlichen Wohnsitz. So kommt Landstreicherei nicht in Frage.“

„Und sonst, gibt`s da nichts?“

„Nicht wirklich. Zelten und Lagern tut er ja auch nicht. Das wäre nämlich nicht erlaubt, am Gehsteig. Aber er steht ja nur da, legt oder setzt sich nicht hin...Also kommt Zelten und Lagern nicht in Frage. Was sollen wir also machen. Wir können nur eingreifen, wenn ein Tatbestand vorliegt, eine Gesetzesübertretung. Und das ist nicht der Fall.“

„Versteh mich nicht falsch, Herbert. Mir persönlich ist der Kerl vollkommen wurscht. Von mir aus kann der da Jahre stehen. Ich hab nichts dagegen. Aber du weißt ja, die Gemeinderatswahlen stehen vor der Tür. Und die Bürger sind beunruhigt. Das macht keine gute Stimmung. Die wollen von mir, daß ich irgend etwas unternehme. Der Bäcker, der Karnitz, der macht den Leuten heißes Blut. Der Bürgermeister nimmt die Wünsche der Bevölkerung nicht wahr, sagt er. Der Bürgermeister ist lahm. Und immer mehr geben ihm recht. Das kann sich bei den Wahlen sehr ungünstig für uns auswirken, verstehst du. Der Karnitz sieht jetzt eine gute Gelegenheit, Stimmung gegen uns zu machen. Er hat sich ja als Kandidat für die Gegenliste aufstellen lassen, wie du sicher weißt.“

„Ja ich weiß. Aber was soll ich da machen?“

„Laß dir was einfallen. Was ist mit Erregung öffentlichen Ärgernis?“

„Das geht nicht. So lange der nur dasteht, kann man schwerlich sagen, er erregt öffentliches Ärgernis. Da müßte er schon was ungehöriges machen. Zum Beispiel irgendwohin pinkeln, den Gehsteig beschmutzen, die Leute anpöbeln oder Lärm machen. Irgend so was, verstehst du. Gegen die guten Sitten. Aber er tut ja nichts. Er steht nur da. Wir haben ihn ja schon die ganze Zeit im Auge.“

„Schläft er nie? Geht er nie auf`s Klo? Er muß doch was essen?“

„Soweit wir feststellen konnten, benutzt er die öffentliche Toilette am Marktplatz. Und im Kaufhaus Flavinger holt er sich ab und zu etwas Obst. Sonst hat er seinen Standplatz wahrscheinlich noch nie verlassen.“

„Aber das gibt`s doch nicht. Der Mensch muß doch auch einmal schlafen... Apropos schlafen, da fällt mir ein, wer sich mehr als zwei Wochen im Dorf aufhält, muß hier gemeldet sein. Da haben wir ihn ja schon.“

„ Josef, ich muß dich enttäuschen. Er hat in der Frühstückspension Obermaier ein Zimmer gemietet. Und das hat er gleich für ein ganzes Monat im voraus bezahlt hat. Wir haben das überprüft. Daß er dort praktisch nie hingeht, ist seine private Angelegenheit. Aber vom Gesetz her ist alles in Ordnung.“

„Ein ganzes Monat im Voraus bezahlt? Der erlaubt sich was. Er wird doch nicht etwa....? Nein, das ist Unsinn....Du, was hast du noch gesagt? Er legt sich nie schlafen?“

„Soweit wir informiert sind, nein. Wir beobachten den Kerl ja nicht rund um die Uhr. Dafür haben wir nicht das Personal. Wir sind ja nur zu zweit, wie du weißt, und die andere Arbeit darf nicht liegenbleiben.“

„Jaja, schon gut.“

„So wie die Dinge im Moment liegen, sind uns jedenfalls die Hände gebunden. Wir können dir da nicht weiterhelfen.“

„Hmm..., wirklich gar nicht?“

„Wirklich gar nicht.“

„Na schön, wenn das so ist, dann muß ich mir eben was einfallen lassen. Also, mach`s gut Herbert. Und halt mich auf dem Laufenden.“

„Mach ich, mach ich. Servus Josef.“

Der Bürgermeister ließ den Hörer auf die Gabel sinken. Nun war er noch mehr verwirrt als vorher. Er schläft nicht, ging es ihm durch den Sinn. Unglaublich. Gibt es so etwas überhaupt, kann man ohne zu schlafen leben? Vielleicht schläft er im stehen. Solche Dinge sollen ja vorkommen. Aber wie auch immer, in jedem Fall ist die ganze Sache sehr mysteriös und bedarf der Aufklärung. Nur, daß das ausgerechnet jetzt passiert, jetzt vor den Wahlen, das ist natürlich sehr ärgerlich. Hmm...,ob das Zufall ist? Was ist, wenn das Ganze beabsichtigt ist? Ein Komplott? Ein Komplott gegen mich? Möglicherweise steckt der Karnitz dahinter. Vielleicht hat der den engagiert um mich zu provozieren, um eine Volkshetze gegen mich anzuzetteln? Wäre doch denkbar, oder....? Ach was, Unsinn. Vergiß es. Der Karnitz ist viel zu naiv für so etwas. So etwas fällt dem gar nicht ein. Außerdem ist das nicht seine Handschrift. Nein, nein, wahrscheinlich sind solche Überlegungen sowieso nur ein Zeichen von Nervosität und rede ich mir da was ein. Ich muß eine klaren Kopf behalten. Das ist jetzt das Wichtigste. Einen klaren und nüchternen Kopf. Ja, das ist es worauf es ankommt.. Dann wird sich alles regeln. So ist es. Es wird sich alles von selbst regeln. Ganz bestimmt....

Er ging zum Aktenschrank, holte einen Ordner heraus und ging zum Tagesgeschäft über.

 

 

So geschah also von Amts wegen in dieser Sache einmal nichts. Bürgermeister Wurzinger versuchte vor den Bürgern, die weiterhin ein behördliches Eingreifen forderten, das Ganze zu bagatellisieren. Zum Teil hatte er sogar Erfolg damit. Viele ließen sich beschwichtigen, sahen ein, daß für ihre Sicherheit von dem Fremden keine Gefahr ausging und daß die Gendarmerie und die Gemeinde alles im Griff hatten. Des weiteren versuchten sie, den Mann auf der Straße so gut es ging zu ignorieren. Es gab sogar welche, die Gefallen an dem Fremden fanden, der ja nun eigentlich schon gar kein Fremder mehr war. Allen voran natürlich die, welche von ihm profitierten. Das waren einmal die Familie Obermaier, bei der er eingemietet war und die in ihm einen zahlungskräftigen und pflegeleichten Gast gefunden hatten, um den sie sich überhaupt nicht kümmern mußten. Und das war gerade in der ohnehin eher mageren Sommersaison von besonderem Wert. Der zweite, der finanziell von ihm profitierte, war Herr Kaufmann Flavinger. Wenn er auch nur etwas Obst und Mineralwasser an den seltsamen Kunden verkaufen konnte, so wurde er ihm doch nach und nach vertraut. Auch viele der anderen Kunden, welche den kleinen Laden aufsuchten, trafen ihn dort das eine oder andere mal an und wagten mit der Zeit sogar ein kurzes Wort an ihn zu richten. Nachdem sie bald merkten, wie freundlich und aufmerksam er stets war, verloren auch sie die Scheu und gewöhnten sich an seine Anwesenheit.

Doch nicht alle waren ihm freundlich gesonnen. Es gab immer noch viele, denen er ein Dorn im Auge war. Allen voran der Bäckermeister. Der nützte weiterhin jede Gelegenheit, um die Gemüter gegen den „Verrückten vom Marktplatz“, wie er sich auszudrücken pflegte, aufzubringen. Besonders die täglich beim Dorfwirten einkehrenden Zechbrüder waren mit ihm einer Meinung. Man ließ kein gutes Haar an ihm. Doch seit klar war, daß von Seiten der Behörde keine Unterstützung zu erwarten war, hielten sie sich mit ihren Äußerungen merklich zurück. Auf keinen Fall hätten sie es gewagt, den unerwünschten Gast tätlich anzugreifen. Wenn sie sich auch in der Gaststätte, die quasi zum Hauptquartier der Unzufriedenen avancierte, in wilden Schimpfparolen erbosten, so begnügten sie sich doch in der Öffentlichkeit, ihre Antipathie in gelegentlichen giftigen Bemerkungen Ausdruck zu verleihen.

Trotzdem hatte auch das seine Auswirkung. Zumindest führte es dazu, daß es bald niemanden mehr im Dorf gab, der sich nicht genötigt sah, in irgendeiner Weise zu dem Thema Stellung zu nehmen, sozusagen seinen eigenen Standpunkt festzulegen. Es gab wenige, die in dieser Angelegenheit neutral eingestellt waren. Die meisten tendierten entweder zur einen oder zur anderen Seite. So führten die dauernden Auseinandersetzungen zu einer regelrechten Spaltung der Einwohnerschaft, in eine Liga „Pro-Wunder“ und „Contra-Wunder“.

Auch ich stand nicht außerhalb dieses Zwistes. Meine anfänglich bloß sympathisierende Neugierde hatte sich inzwischen eindeutig in eine befürwortende Haltung verwandelt. Ich sah nicht ein, warum man nicht am Straßenrand stehen sollte, so lange einem der Sinn danach steht. Schließlich tat er ja niemand etwas zu leide. Was mir dabei am erstaunlichsten anmutete war die Tatsache, daß die Dorfgewaltigen in dieser Sache der selben Meinung waren wie ich. So etwas hatte es bis jetzt noch nicht gegeben. Ich war es gewohnt, stets die Herrschenden gegen mich zu haben, was mich wie von selbst in die Rolle des Unverstanden und heimlichen Außenseiter trieb. Diesmal war es zum erstenmal anders. Der Staat stand hinter mir, meine allgegenwärtige innere Auflehnung gegen jegliche Art von Bevormundung fand in diesem Fall keine Nahrung. Ein Zustand der für mich überaus ungewöhnlich und neu war. Trotzdem änderte diese Ausnahme noch nichts an meiner kritischen Grundhaltung der Polizei und ganz generell allen Ordnungshütern gegenüber. Ich wußte zwar nicht warum dem ganze Spektakel nicht einfach von Gesetzes wegen ein Ende bereitet wurde. Doch war ich überzeugt, daß es nicht aus plötzlicher Einsicht bezüglich Anerkennung des menschlichen Grundrechts auf Selbstbestimmung geschah. So blauäugig war ich nicht mehr.

Auf der anderen Seite fand ich natürlich auch keine rechte Erklärung für die Motive des Helden in dem ganzen Drama. Im Grunde erschien mir sein Verhalten noch immer gleich rätselhaft und absonderlich wie zu Beginn. Ich würde sagen sogar noch mehr als zu Beginn. Denn da dachte ich nicht im Traum daran, wie weit dieser Mensch zu gehen imstande war. Mittlerweile war ja schon ein voller Monat verstrichen, seit er auf seinem Platz Stellung bezogen hatte. Diese Ausdauer hätte ich ihm, genauso wie alle anderen, am Anfang niemals zugetraut. Aber einen ganzen Monat tagaus tagein im Freien zu stehen, bei jedem Wetter und das ohne sich jemals schlafen zu legen, dies war eine Leistung die mich schon mehr als in Erstaunen versetzte. Auch wenn die vorgegebenen Motive für diese Tat eher lächerlich anmuteten und wohl von niemanden, auch von mir nicht, so recht ernst genommen wurden. Doch da man sich andererseits auch nicht denken konnte, was er sonst für Beweggründe für eine derartige Handlung haben könnte, nahm man es eben als das hin, was es bis jetzt war – eine spektakuläre Aktion, auf deren Ausgang man gespannt sein durfte. Im Grunde gab es wohl schon längst niemanden mehr, der ihn nicht für diese Maratonleistung an Kraft und Ausdauer bewunderte. Auch seine Gegner nicht. Selbst wenn sie dies vor anderen, und vielleicht auch vor sich selbst, nicht zugaben. An der Tatsache aber, daß es sich dabei um eine übermenschliche Tat handelte, konnte man nicht mehr vorbeisehen.

So hegte ich im Stillen immer mehr Achtung für diesen Herrn Wunder, der seinem Namen mehr als gerecht wurde. Oft saß ich nach meiner Rückkehr aus Ossburg eine geschlagene Stunde bei einem Glas Tonic im Cafè Kronberger, schräg gegenüber von seinem Standplatz und beobachtete ihn durchs Fenster. Er wirkte nie müde oder gelangweilt, noch trat er, wie die meisten es beim Warten zu tun pflegen, von einem Fuß auf den anderen. Er stand da, als wäre er erst von fünf Minuten hergekommen und blickten mit wachen und freundlichen Augen in die Welt. Neben sich seine gelbe Ledertasche, bekleidet mit Hut und Staubmantel, in der Hand den schwarzen Schirm. Der war inzwischen wohl sein wichtigstes Utensil, denn bei uns regnet es auch im Sommer gerne. Oft fragte ich mich bei solcher Gelegenheit, was wohl der Inhalt seiner Tasche sein mochte. Vielleicht nichts weiter als Kleidung, Lebensmittel, so sagte ich mir. Manchmal aber kam mir auch in den Sinn, daß er vielleicht irgendwelche geheimnisvolle Dinge darin aufbewahrte, Magisches, aus dem er seine Kraft bezog. Seit einiger Zeit hegte ich ab und an solche abstrusen Spekulationen. Woher das kam, konnte ich selber nicht sagen. Voran hatte ich jedenfalls nie derartige Eigenarten bei mir festgestellt.

Überhaupt bemerkte ich an mir seit einer Weile immer öfter eine Veränderung meiner Denkgewohnheiten. Die Unzufriedenheit mit der Gesellschaft im Allgemeinen und mit meinem Leben im Besonderen, die mich früher nach Feierabend besonders stark heimgesucht hatte, quälte mich nicht mehr so häufig. An ihre Stelle trat immer öfter ein stilles Nachdenken, ein Nachdenken über diesen Menschen, der da am Marktplatz stand. Was bewegt ihn, fragte ich mich immer wieder, zu so einem außergewöhnlichen Verhalten. Woher nimmt er diese Ausdauer, diese Zähigkeit. Und dann dieser Blick. Immer freundlich, immer gut gelaunt, als gäbe es in der Welt nichts erquickenderes, als wochenlang am Straßenrand zu stehen und darauf zu warten, abgeholt zu werden. Nie hatte ich irgend jemand sagen hören, er hätte ihn jemals anderen als in der besagten Gemütsverfassung gesehen. Er war eindeutig die erstaunlichste und außergewöhnlichste Erscheinung, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ein Phänomen, wahrlich.

Wenn ich jedoch daran dachte ihn näher kennen zu lernen, ihn vielleicht anzusprechen, dann überfiel mich jedesmal eine eigenartige Scheu. Noch nie hatte ich Lust verspürt, auch nur ein einziges Wort mit ihm zu wechseln. Ich hätte auch gar nicht gewußt, was ich zu ihm sagen sollte. Ihn etwa fragen, was er in seiner Tasche aufbewahrte? Nein, da hätte ich mir eher die Zunge abgebissen. Dazu hatte ich schon längst viel zu viel Achtung vor ihm. So etwas fragt man keinen Fremden. Auch wenn der Fremde für mich und für alle anderen längst kein Fremder mehr war. Für ihn war ich es in jedem Fall. Viel lieber sah ich ihn mir aus sicherer Entfernung an. Da konnte man seiner Phantasie freien Lauf lassen, mich meinen Träumereien hingeben. Möglicherweise war es das, was mich so an ihm fesselte. So war er unbemerkt zu einem Medium für die Flucht aus meiner ungeliebten Alltagswelt geworden. Eine hilfreiche Hand, die mich meiner Sorgen für eine gewisse Zeit enthob. Dachte ich an ihn, so ging es mir gut. Von diesem Standpunkt aus erklärt sich meine Scheu, mit ihm in näheren Kontakt zu treten. Was, wenn sich herausstellte daß er gar nicht der Held war, zu dem ich ihn in meinem Inneren erhob. Vielleicht hatten seine Gegner recht und er war tatsächlich nichts weiter als ein armer Narr, der nicht wußte was er tat. Ja, so war es wohl, ich fürchtete eine Desillusionierung.

 

 

Nun gut, die Tage verstrichen und es kam was früher oder später kommen mußte – die Kunde von Herrn Wunder erreichte die Nachbardörfer, erreichte die Stadt Ossburg. So dauerte es nicht lange und die ersten Schaulustigen trafen bei uns ein. Zuerst nur vereinzelt, dann immer zahlreicher. Irgendwann tauchte sogar ein Reporter einer Ossburger Stadtzeitung auf und interviewte den Mann. Eine Woche später erschien in dem Journal ein reißerischer Artikel. Das Ergebnis davon war, daß noch mehr Neugierige unser Dörfchen aufsuchten.

Dieser langsam ansteigende Besucherstrom wirkte sich natürlich auf vielerlei Arten belebend für den Ort aus. Die Gäste die da kamen wollten ja nicht nur ihre Sensationslust befriedigen, so ein Ausflug macht hungrig, macht durstig. Bald waren die Gaststätten und Cafés nicht nur wie bisher, an Wochenenden und Feiertagen gut besucht, sondern auch die übrige Zeit. Noch nie konnten sich die Lokalbesitzer in der Sommersaison an einem dermaßen guten Umsatz erfreuen. Doch dies war erst der Anfang.

Richtig los ging es dann, als ein privates Fernsehteam Filmaufnahmen, von dem „Wunder von Holzwinkel“, wie es inzwischen überall hieß, machte. Der Beitrag erregte großes Aufsehen und bescherte dem Sender im Nu eine Verdoppelung der Einschaltquoten. In der Folge trafen von überall her weitere Reporter, Journalisten und Berichterstatter ein. In allen namhaften Tages und Wochzeitungen erschienen Reportagen über unser Dorf, selbstverständlich mit Stellungnahme des Bürgermeisters und einiger Gemeinderäte zu dem sensationellen Ereignis.

Überhaupt war die plötzliche Berühmtheit von Holzwinkel für die Kommunalpolitik von ungemeiner Bedeutung. Die inzwischen stattfindenden Gemeinderatswahlen brachten einen Erdrutschsieg für die Partei von Bürgermeister Wurzinger. Und noch nie war der Prozentsatz an Wahlbeteiligung dermaßen hoch gewesenn. Die Entscheidung, nicht mit Gewalt gegen Herrn Wunder vorzugehen, hatte sich somit als weise und richtig erwiesen. Sein Widersacher, der Bäckermeister Karnitz, bescherte seinen Wählern die empfindlichste Niederlage seit bestehen der Partei. In der Folge trat er aus der Politik zurück und widmete sich fortan nur noch seinem Geschäft. Dies mußte er auch, denn seine Bäckerei blühte unter dem Besucherstrom genauso auf wie alle anderen Gewerbebetriebe des Ortes. Er mußte sogar zwei zusätzliche Kräfte einstellen, um die vermehrte Nachfrage nach seinen köstlichen Semmeln, Brezeln und Salzstangerln erfüllen zu können. Von den vielen schmackhafte Süßigkeiten gar nicht zu reden. Die klingende Kassa war ihm ausreichende Entschädigung für seine mißglückte Karriere als Politiker.

Und was war mit seiner ehemaligen Anhängerschaft geschehen, den Zechbrüdern und Stammgästen des Dorfwirts? Der kleinere Teil verhielt sich stumm und verkrochen sich hinter ihren Biergläsern. Die meisten aber wechselte rasch das Lager. Von einer einstigen Antipathie gegen Herrn Wunder wußte man in jenen Kreisen fortan nichts mehr.

So war auf wahrlich wundersame Weise die Spaltung des Dorfes aufgehoben und gehörte der Vergangenheit an. Man war sich wieder einig, empfand sich wieder als eine Seele und fest zusammengeschweißte Familie. Ein Wunder bedingt das andere.

 

 

Die Zeit verfloß und mittlerweile waren schon fast drei Monate vergangen, seit am Marktplatz von allen unbeachtet, ein stiller und unbekannter Mensch in Staubmantel und Filzhut, mit Regenschirm und gelber Ledertasche Aufstellung genommen hatte. Inzwischen war jedoch von unbekannt längst keine Rede mehr. Er war zum Star aufgestiegen, dieser bescheidene und stets freundliche Mensch. Man wußte auch längst alles über ihn, was die Massen von einem Menschen nur zu wissen wünschen. Denn er gab all ihren Fragen ohne Widerwillen Auskunft. Über seine Abstammung, Herkunft, Beruf, ja den gesamten Lebenslauf wußte man Bescheid, bis hin zu Privatem und Allerprivatestem. Nichts blieb der Öffentlichkeit verborgen. Was ich mich niemals ihn zu fragen getraut hätte, nun wußte ich es bis ins Detail, sowie es jeder andere aufmerksame Verfolger der Medien wußte. Was sein Lieblingsessen war, welche Schuhe-, Strümpfe- und Unterwäschemarke er bevorzugte, was seine politische Meinung, seinen Lebensphilosophie war und ob er an Gott und den Papst glaube. Ja sogar, welche Stellung im Bett er empfehlen könnte. Das alles lag wie ein offenes Buch da und konnte von jedem eingesehen werden.

Nur eines gab es, das immer noch gewisse Fragen und Zweifel offen ließ. Es war seine Behauptung, hier nur zu stehen weil er auf einen Freund wartete. Nahm ihm dies schon früher niemand so recht ab, als er noch unbekannt und zum Teil angefeindet wurde, so war diese Behauptung jetzt, nachdem er zur Berühmtheit avanciert war, noch viel weniger glaubwürdig. Denn welcher Freund hätte nicht längst von ihm gehört und hätte den Armen endlich erlöst. Außerdem wollte er partout nicht sagen, wer dieser geheimnisvolle Freund denn nun überhaupt sei. Man hätte ihn ja benachrichtigen und herholen können, selbst wenn er sich gerade am andern Ende der Welt aufhalten haben sollte.

So offen er sonst über alles sprach, so einsilbig wurde er, wenn es um diese leidige Frage ging. Und sie wurde ihm natürlich immer wieder gestellt. Viele mutmaßten, daß es sich dabei bloß um eine Fiktion handle, eine geschickte Ausrede, oder bestenfalls um eine symbolische, im übertragen Sinne zu verstehende Figur. Wie auch immer, man wußte es nicht, und vielleicht war es gerade das, was das nun schon lang anhaltende Interesse an ihm weiter aufrecht hielt, ja sogar noch verstärkte.

Den unser Star hatte längst die internationale Bühne betreten. Von überall her kamen bereits die ausländische Fernsehteams, das Wunder zu schauen. Holzwinkel kannte man nicht nur in den Nachbarländern, sondern weit über Europa hinaus. Von Wellington bis Tokyo, von Mexiko-City bis Kapstadt, überall erschienen die Berichte über unseren Ort in Topauflagen. Wissenschaftler ersannen Theorien über das ungewöhnliche Phänomen, Psychologen, Künstler und Politiker gaben sich in den Cafès die Klinke in die Hand, Zukunftsforscher erstellten Langzeitprognosen. Und unsere Homepage „www.holzwinkel.online.at“ wurde weltweit öfter angeclickt als alle Erotic — und Partnersuchseiten zusammen. Die gesamte zivilisierte Welt nahm an dem Schicksal von Herrn Wunder teil.

Es war Herbst geworden, als sich rund um das einst verschlafen Städtchen Containersiedlungen gebildet hatten, nur um der Besucherschar einigermaßen Herr zu werden. Alle Frühstückspensionen waren auf Monate hinaus ausgebucht und einige ihrer Besitzer spekulierten schon mit diversen Ausbaumöglichkeiten ihrer Etablissements. Im Gemeinderat diskutierte man ernsthaft, ob man im nächsten Frühjahr mit dem Bau einer topmodernen Ferienanlage beginnen sollte. Investoren hätten sich bereits gemeldet, hieß es. In den Gäßchen rund um dem Markplatz waren Jahrmarktsbuden aus dem Boden gewachsen. Fahrende Händler machten in kürzester Zeit Rekordumsätze. Am Dorfrand hatten Schausteller einen Vergnügungspark entstehen lassen. Man sah Feuerschlucker, Zauberer, Jongleure, Wahrsager, Akrobaten und Raubtierbändiger. Musik, Tanz und Ausgelassenheit gehörte längst zum Alltagsbild.

Auch die Industrie naschte eifrig an dem Kuchen mit. Im Nu spannten gefinkelte Musikmanager eine bekannte Popgruppe vor ihren Wagen. In weniger als einer Woche wurde ein Wundersong kreiert, der sofort alle Charts stürmte. Die Auflagen der CD-Verkäufe erreichten schwindelnde Höhen. Dazu kam der Verkauf von Merchandisingprodukten wie Wunderleibchen, Wunderkäppis, Wunderkugelschreiber, Wunderarmbanduhren, Wunderhandys, ja sogar von Wunderzahnpaste und Wunderverhütungsmittel wußte man zu berichten. Die Welle des Neokapitalismus hatte unser Dorf mit voller Wucht erfaßt. Nichts war mehr übriggeblieben vom einstigen beschaulichen Holzwinkel.

 

 

So stand es um unseren Ort, als die ersten Schneeschauer den nahen Winter ankündigten. Jeremias Wunder war ein nationales Heiligtum geworden, Bürgermeister Wurzinger ein Held. Was jetzt alle bewegte war die Frage, wird das Wunder von Holzwinkel den Winter überstehen? Man erwog, eine geheizte Glaskuppel um ihn herum aufzustellen, doch er lehnte dieses Entgegenkommen entschieden ab. Man solle sich nicht um ihn sorgen, so meinte er, es sei bereits für alles gesorgt. Wie das genau zu verstehen war wußte niemand, doch wagte man nicht, sich gegen seinen Willen zu stellen.

Der Gedanke an die kommende Veränderung der Wetterverhältnisse machte jedoch auch gleichzeitig bewußt, auf welch wackeligen Boden der neue Reichtum von Holzwinkel stand. Wenn Jeremias Wunder schwach werden sollte, dann war der Traum zu Ende geträumt und Holzwinkel würde wieder in seine frühere Bedeutungslosigkeit zurücksinken. Ein schrecklicher Gedanke, nicht nur für die Gemeindeväter, sondern vor allem für jene, die direkt oder indirekt am neuen wirtschaftlichen Aufschwung verdienten. Und das waren nicht wenige.

Der Gemeinderat lud die Unternehmerschaft zu eine Krisensitzung ein. Man steckte die Köpfe zusammen, diskutierte, erwog. Um jeden Preis müsse verhindert werden, daß Herrn Wunder etwas zustoßen könnte, so die einhellige Bekundung. Ein Ärzteteam solle sich um seinen Gesundheitszustand kümmern. Eine Katastrophe, wenn er den kommenden eisigen Temperaturen nicht standhalten würde. Man war sich einig, daß seinem Gesundheitszustand höchste Priorität einzuräumen sei. Eine Grippe, eine Lungenentzündung und alles konnte vorbei sein.

Doch Jeremias Wunder wollte von all dem nichts wissen. Sanft aber bestimmt lehnte er jede Fürsorge ab. Es sei für alles gesorgt, war seine wiederholte Antwort auf dererlei Befürchtungen. Selbst eine vorgeschlagene Untersuchung durch den Primar der Herzklinik von Ossburg kam für ihn nicht in Frage. So blieb den besorgten Bürgern nichts anderes übrig, als auf ein zweites Wunder zu hoffen. Denn daß jemand den ganzen Winter im Freien stehend, mit nur einem Staubmantel bekleidet überstehen könnte, daran glaubten sie allesamt nun doch nicht so recht.

Nun gut, man mußte sich mit den gegebenen Umständen abfinden, auch wenn kommende bange Stunden die Winterfreude etwas trüben würde. Es blieb immer noch die Zuflucht zum Gebet und der Dorfpfarrer rief auch fleißig alle Gläubigen zur gemeinsamen Fürbitte an die Heilige Mutter Gottes auf. Sie würde dem Armen ganz bestimmt beistehen.

So brachte der Ruhm auch seine Kümmernisse mit sich. Doch wo gibt es schon Licht ohne Schatten. Man mußte diese Sorge wohl oder übel in Kauf nehmen.

 

 

Und wie erging es mir in all diesen bewegten Tagen? Rein äußerlich hatte sich an meinem Leben nicht viel geändert. Ich fuhr nach wie vor fünf mal die Woche zur Arbeit nach Ossburg und kam abends müde nach Hause. Nur daß ich nicht mehr im Cafè Kronberger einkehrte. Der Grund dafür war nicht der, daß man dort seit dem Sommer kaum mehr einen freien Platz finden konnte. Warum ich mich lieber immer mehr in meine vier Wände zurückzog, lag an etwas anderem. Es lag an meinen Gedanken. Denn die waren inzwischen ganz einem einzigen Thema zugewandt — an Ihn. Den ganzen Herbst über hatte in meinem Herzen die eine Frage gewütet, nämlich die: Wer war dieser Jeremias Wunder wirklich Ich meinte damit nicht seine äußere Existenz, die war ohnehin bis ins letzte Detail durchleuchtet und jedem bekannt. Nein, ich fragte nach seinem Wesen, seinem wahren Wesen, seiner Seele, wenn man es so will. Beinah mein ganzes Denken, mein Fühlen, ja mein ganzes Sein, hatte sich in den letzten Monaten langsam aber stetig immer mehr diesem Menschen zugewandt. Noch nie hatte es in meinem Leben einen Gegenstand gegeben, der mich derart in Bann zog. Dieser rätselhafte Mensch, oder sagen wir besser, nicht der Mensch selbst, sondern das Denken an ihn, war für mich zu einer Quelle der Freude geworden, gleichzeitig zu einem sicheren Hafen vor Trübsal und Unzufriedenheit. Ich mochte es zuerst nicht glauben, doch mein Glück lag tatsächlich einzig und allein im Denken an Ihn. Dies zu Erkennen war ein derartiger Segen für mich, ein Geschenk, wie ich es noch nie erhalten hatte. Ich gewahr, daß mein bisheriges Leid einzig der Negativität meiner Gedanken entsprungen war und nicht, wie ich früher meinte, aus dem Umstand, in einer durch und durch vom Leistungs — und Konsumdenken beherrschten Gesellschaft leben zu müssen. Wie hatte ich mich doch täuschen lassen, wie verblendet war ich gewesen. Indem ich meine Mitmenschen für ihre Schwächen verachtete, schnitt ich mich selber von der Einheit des Lebens ab und bohrte mir einen Dolch ins Herz. Wie hatte ich unter der Geisel meiner Ablehnung zu leiden gehabt, welche Qualen mir selber bereitet. Nicht daß ich jene Werte, welche ich vormals für schlecht hielt, nun als gut erachtete. Dies war nicht der Fall. Einzig meine Blickrichtung hatte sich geändert. Sonst gar nichts. Und das war der springende Punkt. Denn die war jetzt nach oben gerichtet, sah das Gute, das gleichzeitig mit dem Schlechten existierte. Und dieses Wunder, das verdankte ich Jeremias Wunder. In dem ich mehr und mehr in Ihm das Bild des idealen Menschen erkannte, verlosch in mir der dumpfe Wahn der Ziel — und Sinnlosigkeit meines bisherigen Daseins. Ohne etwas zu tun, ohne ein einziges Wort an mich zu richten, hatte er alles in mir bewegt. Nie hatte ich mit ihm gesprochen, ihn nie etwas gefragt und doch hatte er mir alle Antworten gegeben, derer ich bedurfte. Bloß in dem ich mich an Ihm ausrichtete, an Ihm orientierte, kam die Unordnung in mir ins Gleichgewicht. Sein stilles Wesen hatte mich mit ganzer Kraft durchdrungen und erfaßt, ganz wie ein feiner Wasserfaden einen Schwamm durchdringt und schließlich füllt. So wie er war, war er mir zum Brennpunkt meines Lebens geworden. Ebenso gleichmütig gegenüber den Jubelrufen seiner Mitmenschen wie gegenüber den Anfeindungen, allen in stets wohlwollender Gesinnung zugetan, unerschütterlich und ausdauernd in der Durchführung seiner Absichten, dabei sanft, bescheiden und durch nichts Äußeres zu beeinflussen. Ein Bollwerk im ewigen Hin und Her des Zeitlichen. Wo hatte ich ähnliches schon erfahren?

Inzwischen war meine Zuneigung zu ihm soweit gediehen, daß er mich tagsüber während meiner Arbeit genauso beschäftigte wie in den Abendstunden, während des Essens ebenso wie beim Zähneputzen, ja die banalsten alltäglichen Handlungen waren vom Denken an ihn durchdrungen.

Und dann erschien er mir sogar im Traum. Nacht für Nacht stand er Groß und mächtig vor mir, wie ein Wesen aus einer anderen Welt, ein Gott, herrlich anzuschauen in makelloser Reinheit. Wir sahen uns an und flossen ineinander über, so daß ich nicht mehr wußte, bin ich ich, oder bin ich Er, oder ist Er ich. Diese Träume waren reinste Ekstase und mit nichts zu vergleichen. Schon gar nicht mit den verschwommenen Unwirklichkeiten von gewöhnlichen Träumen. Sie waren ebenso real wie die Welt im Wachzustand real war, ja noch viel mehr, viel, viel mehr. Erwachte ich, so schien ich zu träumen, träumte ich, so wußte ich mich wach.

In diesem Zustand erkannte ich mich mühelos in Ihm wieder. In diesem Zustand wurden wir beide ein und das selbe Wesen.

 

 

Eines Morgens, als die ersten verschlafenen Frühaufsteher am Weg zur Arbeit über den Platz gingen, glaubten sie ihren Augen nicht zu trauten. Die Stelle an der seit mehr als einem halben Jahr ein Mann in Staubmantel, Filzhut, Regenschirm und gelber Ledertasche stand, und den man dort mit der selben Sicherheit anzutreffen gewiß sein konnte wie den alten, steinernen Kirchturm, diese Stelle war — leer. Das heißt, nicht ganz leer. Am Boden lag, hingestreckt wie ein zu Tode gestürzter Vogel, die gelbe Ledertasche.

Die erschrockenen Passanten waren schlagartig hellwach. Alle riefen sie durcheinander, rannte hierhin und dahin, in der bangen Hoffnung, ihn vielleicht doch noch irgendwo zu entdecken. Vielleicht war er bloß um die Ecke gegangen, sich kurz die Beine vertreten, vielleicht mußte er auch nur einem menschlichen Bedürfnis folgen. Doch wußte man die öffentliche Toilette um diese Zeit noch versperrt.

Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und im Nu war das ganze Dorf auf den Beinen. Der Bürgermeister, die Gemeindebediensteten, die beiden Gendarmen, der Pfarrer, ja sogar der Bäcker, der Dorfwirt und der Karl Reinbrechter, alle, alle kamen sie gelaufen. Der Bürgermeister rief nach bewährtem Rezept zur Ruhe und Besonnenheit auf, man solle nichts überstürzen, die Sache werde sich mit Bestimmtheit bald aufklären. Doch niemand glaubte seinen Worten, am wenigsten er selber. Der Gendarmeriekommandant vermutete ein Verbrechen, eine Entführung, wahrscheinlich wollte man Lösegeld erpressen.

Schließlich kam in dem allgemeinen Durcheinander der Pfarrer auf die glorreiche Idee, doch in die zurückgelassene Ledertasche zu sehen, vielleicht fände sich darin ein Hinweis auf sein Verschwinden. Alle lobten die gute Idee und sofort holte man das gute Stück heran, das noch immer ganz verwaist an seinem Platz lag. Jeder drängte sich gespannt um den Bürgermeister, als dieser vorsichtig den Verschluß öffnete. Doch nichts als schwarze, gähnende Leere blickte den Neugierigen entgegen. Enttäuscht hob er sie hoch, drehe sie, schüttelte sie, ob sich nicht vielleicht doch eine Kleinigkeit darin befände. Und siehe da, ein kleiner weißer Zettel flatterte munter der Erde entgegen. Man hob ihn auf. In schwungvoller Handschrift war ein einziger Satz darauf zu lesen: Mein Freund ist gekommen, Jeremias Wunder

Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge, ein Murmeln, viele Ah`s und Oh`s. Bald waren auch ärgerliche Worte darunter zu hören, mancher fand sich gefoppt, betrogen, beraubt. Doch nach und nach wurde jedem klar, daß dies, so bitter es auch schmecken mochte, das Ende einer schönen Geschichte war. Alle wußte ja um die immer gleiche Antwort auf die hundertfach gestellte Frage, warum er denn hier stehe. Aber niemand hatte die Antwort je ernst genommen. Nun war es also doch wahr, der Freund war erschienen.

Sofort rätselte jeder im Stillen für sich, wer denn dieser geheimnisvolle Freund gewesen sein mochte, den niemand zu Gesicht bekommen hatte. Bestimmt würde man ihn und seinen Freund noch finden, warf der Bürgermeister ein, das Gesicht von Jeremias Wunder war ja bekannt wie das eines Weltstars. So jemand konnte doch nicht einfach so mir nichts dir nichts verschwinden. Man bräuchte nur abzuwarten, Jeremias Wunder kann nicht verloren gehen. Diese Worte beruhigten die Gemüter und die Verstörtheit wich langsam aus den Gesichtern. Man faste wieder eine Hoffnung und ging einigermaßen beruhigt auseinander.

Doch so sehr man sich auch Mühe gab, so sehr die Medien die Bevölkerung landauf landab in Bewegung hielten, Jeremias Wunder und sein geheimnisvoller Freund wurden nie wieder gesehen.

 

 

Ich aber habe meinen Freund nun für immer bei mir. 24 Stunden am Tag können wir miteinander sprechen, plaudern und scherzen. Wie durch einen Wirbelsturm sind alle negativen Gedanken in mir weggefegt worden. Nichts belastet mich mehr, nichts bedrückt mich. Nicht meine Arbeit in Ossburg, nicht die Gesellschaft in der ich lebe, nichts. In allem finde ich Ihn wieder, spiegelt sich mir Sein Glanz. Und durch Ihn hat alles Sinn und Bedeutung, hat Wert und Seele. Durch Ihn werden mir alle Geheimnisse offenbart, bleibt keine Frage unbeantwortet. Und dieser Zustand wird sich nie mehr ändern. Ganz im Gegenteil, immer mehr und noch mehr tauchen wir ineinander ein, explodiert unsere Ekstase hinein in Welten, wo Raum und Zeit nie existiert haben. Bis in alle Ewigkeit, werden wir nie wieder getrennt sein.

 


 

Schlußbemerkung

 

Die Jahre vergingen, doch die Welt vergißt ihre Helden schnell. Und wie befürchtet war Holzwinkel in kurzer Zeit in seine ursprüngliche Bedeutungslosigkeit versunken. Das Leben nahm wieder seinen gewohnten Gang, der Vierersessellift brachte im Winter die Schneehungrigen auf die Ochsenkappe. Doch der Segen den der Fremde am Marktplatz einst über das Dorf gebracht hatte, blieb ihm erhalten. Zwar wurde die topmoderne Feriensiedlung nie gebaut, auch mußten die meisten Unterkunftsbetreiber auf ihre geplanten Ausbauvorhaben verzichten, doch als würde ein unsichtbare Kraft von der Stelle wo er gestanden hatte ausgehen, drückte die Last der Sorgen weniger hart, fühlte man seinen Kummer weniger schwer, wenn man dort vorbeiging.

Dies veranlaßte die Gemeinde dazu, eine Gedenktafel mit zwei vergoldeten Fußabdrücken in das Pflaster einzusenken. Jeremias Wunder wurde zum Schutzpatron des Ortes ernannt. Die gelbe Ledertasche, die fortan wie ein heiliges Relikt behandelt wurde, erhielt im neu erbauten Heimatmuseum einen Ehrenplatz, gleich am Eingang rechts, unter einer Plexiglaskuppel. Und der Fremde der nach Holzwinkel kommt, der erblickt neben der mannshohen Holztafel mit der originellen Aufschrift: Willkommen in Holzwinkel, einen kupfernen, ziselierten Schild, über dem die Initialen J W prangen. Darauf hatte der Bürgermeister größten Wert gelegt. Der Schild aber ist in vier Rechtecke unterteilt, in welche man jeweils einen eingravierten Gegenstand erkennt. Es handelt sich dabei, wie könnte es anders sein, um einen Staubmantel, ein Filzhut, ein Regenschirm und eine Ledertasche.

 

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