Irene Kabanyi
All of me© 1997 by Irene Kabanyi and gangan books australia
Nimm das Haus, hatten Max und Sabine gesagt, wir sind doch ohnehin fuer drei Monate in Amerika, was soll es leerstehen. Einem Haus tut es nicht gut, leer zu stehen, es fuehlt sich vernachlaessigt, und das laesst es dich spueren. Ein Haus braucht Menschen, so wie ein Mensch ein Haus braucht.
Alice hatte ja gesagt. Hatte die Argumentation ruehrend gefunden. Sie war Max und Sabine dankbar, dass sie ihre Sorge um sie so ausgedrueckt hatten und nicht unangenehm persoenlich wurden. Alice mochte es nicht, wenn Menschen, die ihr nahestanden, die Sorgen, die sie sich um sie machten, als willkommenen Vorwand benutzten, um jetzt alles aus ihr rausholen zu duerfen, was sie partout drinnen behalten wollte. Was ging es die anderen schliesslich an, dass sie zusammengebrochen war? Eine reine Stresssituation, nichts Persoenliches. Das hatte ja auch der Arzt gesagt.
Da war sie nun also.
In dieser maerchenhaften Landschaft: blaue Berge, blaue Seen, blauer Himmel.
Ein Sommer, der flirrte und flimmerte und praechtige Pfauenraeder schlug, um Alice zu beeindrucken, wenn sie ueber die Wiesen ging und vor Vergnuegen seufzte. Riesige Wiesenblumenstraeusse pflueckte sie. Wie Pretiosen suchte sie Blumen, Halme und Unkraut aus und fuegte sie geschickt ineinander.
Im Haus hatte sie alle Fenster und Tueren geoeffnet und fuehlte sich schweben in all dem Licht und in der leichten Brise. Ungeheuer und luxurioes kam es ihr vor, alles so offen lassen zu koennen, und nicht gleich die Tueren hinter sich versperren zu muessen, wie sie es von der Stadt gewohnt war. Fenster offen stehen lassen zu koennen, ohne dass der Verkehrslaerm sie halb taub machte.
Hier hoerte sie nur die Voegel und den Wind, der manchmal das Plaetschern der Wellen mitbrachte. Abends trug sie ihr Essen auf einem Tablett hinaus auf den Bootssteg und machte ein Picknick. Auch die Lebensmittel waren am Land anders, als in der Stadt, fand Alice. Sie war verliebt in das wuerzige Brot und in den frischen Kaese, den sie vom Bauern kriegte. Und wenn Obst direkt vom Baum pfluecken, nicht das Paradies war, wusste sie auch nicht, was es sonst haette sein sollen; so sehr war sie daran gewoehnt, dass es in Supermarktregalen waechst. Wenn sie da so sass, auf den unbehandelten Holzplanken, die Beine im Tuerkensitz oder gar ins Wasser haengend, mit einem schoenen Glas leichten Weisswein in der Hand, und ueber den See schaute, wie er den riesigen, orangeroten Sonnenball in sich aufnahm, war das Leben perfekt. Da hob sie ihr Glas und prostete der Gegend zu.
Herr, der Sommer ist sehr gross!, war ihr andaechtiger Lieblingstrinkspruch geworden.
Seit drei Wochen war Alice nun da und konnte sich kaum mehr vorstellen, dass es in nur wenig mehr als zwei Stunden Entfernung diese Stadt gab, die so laut und unbarmherzig war.
Wo Menschen einander betruegen, bestehlen, ueberfallen und ermorden. Wo sie sich alles nur Denkbare, aber auch Undenkbare antun, um schliesslich selber gejagt und gefangen zu werden und vor Alices Richtertisch landen. Alices taegliches Brot ist es dann, die Geschichte dieser Furchtbarkeiten zu hoeren und zu erfassen, ueber Schuld und Unschuld zu befinden, zu urteilen und Recht zu sprechen. In Fleisch und Blut ist ihr das uebergegangen, selten, dass sie noch wirklich erschrickt. Je mehr die Jahre vergehen, umso selbstverstaendlicher kommt es ihr vor, dass die Menschen all das tun und sind.
Je mehr die Jahre vergehen, umso mehr verliert Alice ihren Glauben an die Sinnhaftigkeit ihres Tuns. So fern die Zeit, als sie Salomon nacheifern wollte, ohne sich laecherlich vorzukommen mit diesem Anspruch. Als sie noch daran glaubte, mit ihren Worten die Herzen der Menschen erreichen und sie zur Umkehr bewegen zu koennen. Als sie noch an Gerechtigkeit glaubte.
Jetzt schluepft sie in die Robe und nimmt ihre Rolle im ewigen Kreislauf ein.
Alice schuettelt den Kopf. Daran will sie jetzt nicht denken. Sie ist doch da, um Abstand zu gewinnen, sich zu erholen, auszuspannen, und alles, was der Arzt sonst noch zu dem zweimonatigen Landaufenthalt verordnet hat.
Es ist schoen hier, das ist alles, was zaehlt, zaehlen soll.
Die Tage werden immer heisser, erreichen Rekordtemperaturen. Wenn Alice ihr Fruehstueck holt, in dem kleinen Laden, der alles in einem ist: Lebensmittelhaendler, Fleischer, Baecker, Trafik, wirft sie manchmal einen schraegen Blick auf die Schlagzeilen der Zeitungen. Es ist in ihnen nur mehr von der ueberraschenden Hitze die Rede. Die Hitze hat es geschafft, die Kriege und Katastrophen zu verdraengen. Seit die Wetterwerte aufgezeichnet werden, haette es nicht so eine lange Serie von Hitzetagen gegeben, wird heute gemeldet. Alice ueberlegt, ob sie das Blatt kaufen soll, das interessiert sie. Dann legt sie es aber doch aus der Hand. Es tut ihr nicht gut, Zeitung zu lesen, hat sie in den letzten Wochen festgestellt. Die Lektuere hinterlaesst bei ihr jedesmal ein verwirrtes Gefuehl einer Endzeitstimmung, das so gar nicht zu dem Frieden und der Schoenheit der Landschaft passt, und sie deswegen umso haerter trifft. Dem will sie sich nicht mehr aussetzen, wozu auch. Das, was auf der Welt vorgeht, geht auch, ohne dass sie davon Kenntnis nimmt, vor, und ihre Kenntnisnahme wuerde, im Gegenzug, auch nichts daran aendern.
Die Hochglanzzeitschriften laesst sie sich gefallen. Die kauft sie sich. Maerchenbuecher der Moderne, nennt Alice sie. Sie laesst sich gern entfuehren in eine Welt, wo es das Wichtigste ist, was man jetzt anzieht, wie man sein Gesicht faltenlos haelt und seinen Koerper straff. Von den Buechern, die sie nie Zeit haben wird zu lesen, kriegt sie dort auch wenigstens eine Inhaltsangabe.
Jetzt haette sie ja Zeit, all die Buecher zu lesen, die sie seit Jahren interessiert kauft, und die dann ungeoeffnet in den Regalen stehen bleiben, nachdem sie monatelang auf ihrem Nachttisch Staub gefangen hatten. Alice hat einen ganzen Stapel davon eingepackt. Was soll man denn sonst tun am Land, hatte sie sich gedacht.
Was genau sie in den drei Wochen getan hat, koennte Alice jetzt gar nicht mehr sagen. Lesen war jedenfalls nicht ihre Hauptbeschaeftigung gewesen. Die Tage waren vergangen, einfach so, in ihr ungekannter Harmonie ineinander geflossen. Sie war aufgestanden, hatte sich ihr Fruehstueck geholt, war damit auf der Terrasse gesessen, hatte ueber den See geschaut, war spazierengegangen, hatte kleine Dinge im Haushalt erledigt, war in der Sonne gelegen, hatte gedoest, hatte geschwitzt, war unter die Dusche gegangen, hatte sich neu mit Sonnenoel eingecremt und ihrem Herrgott gedankt, dass es auch so sein kann.
Den Weidenkorb mit ihren Einkaeufen schwingend geht Alice ueber die Wiese, die zu dem Haus fuehrt. Sie mag diesen morgendlichen Weg. Ihre schlaftrunkenen Schritte, das nicht ganz bei sich sein, waehrend sie durch die duennen Riemen ihrer Schuhe den Tau spuert. Undenkbar, dass sie je in der Stadt um diese Zeit so wohlig unterwegs waere. Hier wacht sie manchmal gegen vier Uhr morgens auf, mit der Sonne.
Eine Weile braucht Alice um herauszufinden, was sie stoert: die Wiese ist nicht mehr feucht heute. Das wird ein noch heisserer Tag als gestern, wenn das schon so anfaengt, denkt sie sich. Sie braucht Erklaerungen, wenn etwas nicht mehr so ist, wie sie es gewohnt ist. Alice ist angewiesen darauf, sich an etwas gewoehnen zu koennen, und kann es nicht leiden, wenn sich daran etwas aendert.
Dass sie es heute doch hinnimmt, muss an der Hitze liegen, die ihr Gehirn aufweicht. Ihr mit dem Schweiss die Starrheit aus der Haut treibt. Sie weich und fuegsam werden laesst, wie sie sich noch nie erlebt hat.
Sie zieht die Gartentuer auf und hat es eilig, in die Kueche zu kommen. Der Kaffee muss laengst fertig sein. Sie hat es sich zur Gewohnheit gemacht, die Kaffeemaschine, die extrem langsam arbeitet, beim Verlassen des Hauses einzuschalten. Etwa so lang, wie Alice fuer den Weg braucht, braucht auch die Maschine, um die Kanne zu fuellen. Dieses Timing gefaellt ihr, das sind Reste der Praezision, die sie schaetzt. Es hat auch was von erwartet werden. Ein Gefuehl, das Alice fast aufgehoert hat, zu vermissen. Fast.
Sie gibt alles, was sie fuer ihr Fruehstueck braucht, auf das Tablett und schleppt es auf die Terrasse. Erst, als sie es draussen auf dem Tisch ausbreitet, faellt ihr auf, dass Wurst und Gebaeck im Papier da liegen, dass sie vergessen hat, sie auf einen Teller und ins Koerbchen zu geben. Alice beschliesst, es einmal so zu probieren, und kommt sich verwegen und verwahrlost dabei vor.
Immerhin ist das ein weiterer Schritt in einer Reihe von Schritten, die aeusserst ungewoehnlich fuer die ausnehmend korrekte, penible und disziplinierte Alice sind:
sie verwendet kein make up mehr, laeuft den ganzen Tag barfuss herum; wenn sie nicht im Badeanzug ist, greift sie nach dem naechstbesten Kleidungsstueck. Reglos sieht sie dem, in der Stadt aufgetragenen, Nagellack beim abblaettern zu. Ihre Haare laesst sie durchfetten, bis die nur mehr in traurigen Schnueren vom Kopf haengen. Sie hat aufgehoert, ihre Achseln und Beine zu rasieren.
Es ist ihr voellig egal geworden, wie sie aussieht, und sie fuehlt sich sauwohl dabei. Sauwohl ist auch kein Wort, das irgendwer mit Alice in Zusammenhang bringen wuerde, der sie kennt. Manchmal, wenn sie im voruebergehen einen Anblick von sich im Spiegel erhascht, muss sie grinsen, und stellt sich vor, was ihre Freunde wohl sagen wuerden, wenn sie sie so saehen. Oder gar ihre Kollegen und die anderen Leute im Gerichtssaal.
Hier sieht sie aber niemand.
Ausser den Leuten im Dorf, aber die zaehlen nicht, denn die kennt Alice nicht, und sie kennen Alice nicht. Vor ihnen braucht sie keine Rolle zu spielen, weg mit Euer Ehren.
Erst jetzt, als das wegfaellt, merkt Alice, was fuer eine Last das fuer sie ist. Wie krumm sie unter ihr geworden ist. Wie einem das aber auch in Fleisch und Blut uebergehen kann, was die Leute von einem denken. Frau Richterin, sagen sie, und Alices Geist wird willig, ihr Fleisch wird schwach unter der Buerde ihres Amtes. Ein fleischgewordener Moralkodex, ein wandelndes Buergerliches Gesetzbuch, auch wenn sie die Robe auszieht, und in ihre modisch-eleganten, dezenten Kostueme und in die hochhackigen Schuhe schluepft.
Alice beginnt Rumpelstilzchen zu verstehen, das sich auch in der Mitte auseinander reissen muss, wenn jemand seinen Namen weiss. Ach wie gut, dass niemand weiss, beginnt Alice aufgekratzt auf der Terrasse vor sich her zu sagen: Ach wie gut, dass niemand weiss, dass ich Richterin bin und Alice heiss.
Grinsend betrachtet sie ihre Zehennaegel, von denen ebenfalls der Lack absplittert, und die Hornhaut auf ihren Sohlen, die sich durchs Barfusslaufen gebildet hat, in der sich der Staub schwarz eingegraben hat und auch beim duschen nicht ganz weggeht.
Ich vergesse das Buergerliche Gesetzbuch, beschliesst Alice, und unterwerfe mich den Gesetzen der Natur!
Sinnend schaut sie den weissen Segeln des Bootes nach, das heute, wie schon seit ein paar Tagen, immer um dieselbe Stunde seine Runden im See zieht. Auch daran beginnt sie sich zu gewoehnen. Sie fragt sich, wer das Boot wohl lenkt. Es muss vermutlich ein Mensch sein, der feste Gewohnheiten ebenso schaetzt, wie sie.
Das Telefon klingelt sie aus ihren Ueberlegungen. Schon so spaet?, denkt sie unwillkuerlich; denn der einzige Mensch, der hier anruft, ist ihre Mutter, die die Pause zwischen zwei der Vormittagsfernsehserien, die sie taeglich sieht, dazu benutzt, um ihrer Tochter Vorhaltungen zu machen.
Warum sie nicht zu ihr ins Haus gekommen sei, fragt sie taeglich. Was taete sie denn so allein in dieser fremden Gegend? Oder sage sie ihr etwa nicht die Wahrheit? Sei sie etwa gar nicht allein dort? Habe sie etwa schon wieder einen Mann gefunden, mit dem sie sich dort verkrieche? Einen Mann, den sie ihrer Mutter nicht vorstellen koenne, und der daher gar nicht in Betracht kaeme?
Ich bin seit geraumer Zeit erwachsen, Mutter, sagt Alice taeglich. Ich weiss nicht, sagt ihre Mutter darauf veraergert. Alice weiss es zu schaetzen, dass die Pause zwischen zwei Fernsehserien nie laenger als zehn Minuten ist. Selbst zehn Jahre wuerden nicht ausreichen, um ihrer Mutter begreiflich zu machen, dass sie gern allein ist, und dass zwei gescheiterte Beziehungen in der heutigen Zeit und bei ihrem Alter geradezu laecherlich brav sind.
Diesmal ist es aber eine fremde Frauenstimme, die sich als Elisabeth Greifenstein vorstellt, eine alte Freundin von Max und Sabine. Sie habe schon soviel von Alice gehoert, und erst gerade aus einem Brief erfahren, dass sie jetzt das Haus bewohne. Diese Gelegenheit wolle sie nicht verstreichen lassen. Sie muessten sich einfach treffen. Das ist sehr freundlich von Ihnen, sagt Alice mit abwiegelnder Hoeflichkeit.
Sie kann sich zwar auch an hymnische Schilderungen erinnern, die Sabine ueber Elisabeth losgelassen hat, aber der Gedanke, sich anziehen und herrichten zu muessen, sich ins Auto setzen und bei wildfremden Leuten Honneurs machen zu muessen, entspricht ganz und gar nicht ihrer Stimmung.
Hoeren Sie, sagt Elisabeth mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet: Sie kommen heute abend! Wir geben ein kleines Essen, ganz zwanglos. Sie werden sich wohlfuehlen. Es kommt eine handverlesene Schar der interessantesten Menschen, die sich gerade hier in der Gegend aufhalten.
Heute abend passt es mir schlecht, protestiert Alice klaeglich. Sie sind beleidigt, weil wir Sie so spaet einladen, vermutet Elisabeth: aber ich versichere Ihnen, ich habe wirklich erst gerade eben von Ihrer Anwesenheit erfahren und sofort zum Telefon gegriffen. Nein, nein, stammelt Alice und zermartert ihr Hirn nach einer guten Ausrede.
Dann kommen Sie also!, stellt Elisabeth fest und daran ist offenbar nicht zu ruetteln: Um Acht. Kennen Sie den Weg? Wie dumm von mir, natuerlich kennen Sie ihn nicht. Haben Sie Papier und Bleistift zur Hand? Im Grund ist es nicht schwer zu finden, aber beim ersten Mal werden Sie ein paar Anhaltspunkte brauchen...
Veraergert schiebt Alice den Zettel mit der Wegbeschreibung von sich. Sich so ueberrumpeln zu lassen! Der ganze Tag ist ihr verdorben. Missmutig traegt sie das Geschirr in die Kueche. Den kaltgewordenen Kaffee schuettet sie in den Ausguss, und laesst gleich darauf warmes Wasser nachfliessen, um das Geschirr zu spuelen, das sich schon seit ein paar Tagen im Ausguss sammelt. Geschirr spuelen tut ihren Nerven immer gut.
Als sie den letzten Teller in das Trockengestell schiebt, ist ihr Aerger auch fast verflogen. Bis sechs habe ich noch Zeit fuer mich, rechnet sie. Es genuegt, wenn ich um sechs anfange, mich herzurichten und zwischen viertel und halb acht das Haus verlasse. Bis sechs werde ich jedenfalls gar nicht mehr daran denken.
Dieser Entschluss tut ihr gut. Zumindest ist sie jetzt bereit, den Tag wie immer zu verbringen.
Sie geht ins Bad, oelt sich von oben bis unten ein, zieht den Badeanzug an, schnappt sich ein Handtuch, die neueste Vogue und ihre Zigaretten, und marschiert ab zu ihrem geliebten Bootssteg.
Die Hitze wird von Stunde zu Stunde gluehender und drueckender. Alice kann ihre Stellung nicht mehr veraendern, ohne ein schoenes Stueck zu rutschen, derartig rinnt ihr Schweiss und bildet mit dem Sonnenoel einen Gleitteppich.
Den Versuch zu lesen hat sie nach zehn Minuten aufgegeben. Die Blaetter der Zeitschrift glitzern mit den Wellen um die Wette und verursachen ihr bald Kopfschmerzen. So legt sie das Gesicht auf die Arme, liegt ganz still und laesst sich vom Plaetschern der Wellen wiegen. Irgendwann steht sie auf, ohne die Augen richtig zu oeffnen, und laesst sich ins Wasser gleiten. Bleibt unter Wasser, so lange es ihre Lungen erlauben. Mit muehelosen Stoessen schwimmt sie, wie ein Delphin fuehlt sie sich. Sie wuenscht sich die Faehigkeit, kraftvoll aus dem Wasser aufzusteigen und mit der Schwanzflosse aufrecht stehend pfluegen zu koennen. Weil sie kein Fisch ist, muss sie sich mit weit unaesthetischeren Versuchen begnuegen.
Sie schwimmt, bis sie muede ist. Zieht sich mit letzter Kraft und schon zitternden Muskeln zurueck auf den Bootssteg. Betrachtet dort ihre schrumpelig gewordenen Fingerspitzen. Sogar die Haut der Handteller ist so ausgelaugt, dass scharf seine Linien hervortreten. Eine Gaensehaut der Erschoepfung ueberlaeuft sie.
Schnell hat die sengende Sonne das Wasser von Alices Haut verdunstet, nur der Badeanzug klebt unangenehm nass an ihr. Sie ist viel zu muede, um jetzt aufzustehen und ins Haus zurueckzugehen, um ihn gegen einen trockenen auszutauschen. Im Liegen schiebt sie die Traeger runter, zieht das Ding ueber ihre Brueste, befreit sich mit einem Ruck davon.
Niemand, der sie mit freiem Auge sehen koennte, stellt Alice bei einem Rundblick fest. In ziemlicher Entfernung das Segelboot, aber die Mannschaft muesste schon ein Fernglas haben, um etwas zu sehen. Viel zu angenehm ist es, die Sonne auf der Haut zu spueren, als dass Alice sich von Unwahrscheinlichkeiten einschuechtern lassen moechte. Und doch muss sie einen leichten Trotz aufbringen, der es ihr erlaubt, nackt zu bleiben, sich auszustrecken, ihren Koerper der Sonne darzubieten.
Sie schliesst die Augen, ueberlaesst sich ganz den angenehmen Empfindungen, die Sonne und Wind auf ihrer Haut erzeugen. Kein Liebhaber hat so sanfte Haende, so eine Zaertlichkeit, solche Geduld! Und doch, wenn sie da so liegt, so hingegeben, kommt, frueher als gedacht, der Wunsch nach staerkerer Beruehrung in ihr auf. Wird so heftig, dass sie die Beine zusammenpressen muss. Das Verlangen durchflutet sie so stark, dass es ihr peinlich wird. Wehret den Anfaengen, denkt sich Alice, wer weiss, wohin mich das fuehrt, wenn ich das aufkommen lasse.
Schnell greift sie nach dem Handtuch und wickelt es um sich. Tastet nach dem Badeanzug, der nur noch geringe Feuchtigkeit aufweist, und zieht ihn unter dem Handtuch wieder an.
Aufgeschreckt von ihren Empfindungen sitzt Alice da, hat die Knie ans Kinn gezogen und zuendet sich eine Zigarette an. Mit gerunzelter Stirn schaut sie dem Rauch nach, wie er ueber das Wasser zieht und sich bald ins Unsichtbare aufloest.
Wohin verschwinden Dinge, wenn sie sich aufloesen?, fragt sich Alice.
Ihre Hydrophobie hat sich aufgeloest, wird ihr erst jetzt bewusst. Sie hat ihre uralte Angst vorm ertrinken verloren.
Ihre innere Uhr sagt ihr, dass es bald sechs sein muss. Zeit, zurueck ins Haus zu gehen, sich fertig zu machen. Sie sammelt ihre Sachen ein und macht sich auf den Weg.
Das Radio dreht sie auf, bevor sie ins Badezimmer geht, dreht es so laut, dass sie muehelos zuhoeren kann. Ein Lied trifft sie in den Ruecken, als sie dabei ist, das Zimmer zu verlassen. All of me, singt Ella Fitzgerald. All of me, why not take all of me, can't you see, that I'm no good without you...
Das Lied frisst sich an Alice fest, weicht nicht von ihr, wieder und wieder muss sie die Zeilen singen. Waehrend sie die Packungen auf Gesicht und Haar auftraegt, waehrend sie unter der Dusche steht, waehrend sie Creme in ihren Koerper reibt. Sie summt es, waehrend sie den alten Lack von ihren Naegeln reibt, sie feilt und neu lackiert. Froehlich und erwartungsvoll macht es sie, aber auch ein bisschen wehmuetig. I'm no good without you, traegt sie Grundierung auf ihr Gesicht auf, bevor sie den Foehn einschaltet, sodass sie besser in die Haut einzieht und natuerlicher aussieht.
Lange steht sie vor dem Kleiderschrank und ueberlegt, womit sie sich gut und selbstverstaendlich fuehlen kann; ohne eingezwaengt, aber auch ohne underdressed zu
sein. Fuer ein leichtes, gruenschimmerndes Seidenkleid entscheidet sie sich. Ein raffiniert einfach geschnittenes Modell. Suendteuer einfach.
Herrlich schoen fuehlt sich Alice, als sie nach getaner Arbeit pruefend in den Spiegel schaut. Weich, glaenzend und schimmernd sieht sie aus. Why not take all of me.
Beschwingt startet sie ihren Wagen und findet muehelos das Haus der Greifensteins. Die Angaben von Elisabeth waren praezise und unmissverstaendlich, stellt Alice befriedigt fest und gibt ihr dafuer einen grossen Pluspunkt. Unglaublich, welche Angaben Leute manchmal machen; als ob sie einen bewusst in die Irre schicken wollten. Das Haus ist beeindruckend, aber nicht niederschmetternd. Die Frau, die ihr die Tuer oeffnet, gefaellt Alice auf Anhieb. Etwas Vertrautes geht von ihr aus, als ob sie sich schon jahrelang kennen wuerden. Das sind Alice die liebsten Menschen.
Elisabeth duerfte es aehnlich gehen. Sie fasst Alice unter den Arm, als ob sie alte Freundinnen waeren, und geleitet sie unter selbstverstaendlichem Geplauder zu den anderen.
Alice wird vorgestellt, bekommt erklaerende Beschreibungen zu jedem. Fuer sie hat Elisabeth das Kurzlogo" eine gute Freundin von Max und Sabine, die jetzt ihr Haus bewohnt, und somit auch bald unsere gute alte Freundin sein wird" gefunden. Alice ist ihr sehr dankbar, dass sie die Richterin weglaesst.
Elisabeth ist wirklich dabei, im Sturmschritt ihr Herz zu erobern, denn nichts hasst Alice mehr, als das mehr oder minder merkbare Zurueckzucken der Menschen bei Nennung ihres Berufes. Entweder werden sie devot oder aggressiv, hat Alice in langen, leidvollen Jahren gelernt. Es braucht lang, bis sie wieder einen normalen Ton mit ihr finden, und sie hasst es, sich immer wieder durch Vorurteile und Aengste durchkaempfen zu muessen.
Das bleibt ihr heute erspart. Heute reagieren die Menschen auf das Wort Freundin und auf das Weiche, Geloeste, das von Alice ausgeht. Elisabeth hat recht gehabt mit ihrer Prophezeiung, sie fuehlt sich wohl, und deswegen ist sie auch bereit, die anderen interessant zu finden. Es ist die uebliche Mischung, die man einlaedt, wenn man interessante Menschen zusammenstellen will: ein Wissenschaftler, ein Schriftsteller, eine Malerin, eine Astrologin, ein Boersenmakler, ein Architekt, eine Aerztin und sie.
Zehn Personen macht das, mit dem Ehepaar Greifenstein. Eine ueberschaubare Runde, die da am Esstisch versammelt ist.
Ob sie um die Bedeutung der Zahl Zehn wuessten, fragt die Astrologin in die Runde, und gibt an, sich auch schon lange mit Numerologie zu beschaeftigen.
Die anderen schweigen hoeflich oder geben aufmunternde, fragende Geraeusche von sich.
Zehn ist die Zahl des Schicksalsrades, beginnt die Astrologin zu dozieren: Sie ist eine Zahl des Aufstiegs und des Falls, je nach persoenlichem Verlangen. Sie kann Gutes und Boeses bringen, je nachdem, fuer welche Handlungsweise man sich entscheidet. Die Zahl Zehn kann extreme Reaktionen von Liebe und Hass, von Respekt oder Furcht ausloesen. Zwischen Ehre und Unehre gibt es nichts. Mit ihr haelt man den Schluessel in der Hand. Imaginiere zehn, dann ordne an; lautet eine alte, esoterische Regel. Imaginiere, und es wird geschehen. Befiehl, und es wird sich materialisieren. Eine ungeheure Macht ist mit ihr verbunden, die schoepfen, aber auch zerstoeren kann, daher erfordert ihre Anwendung hoechste Selbstdisziplin und Reinheit.
Und man muss sich bewusst sein, dass nichts mehr so ist, wie es war, wenn man sie angewendet hat, schliesst sie nach einer Kunstpause ihre Erlaeuterungen ab.
Fortsetzung Teil 2