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  • Silvia Kühnel: Lieber Claus, habe schon mal vor einigen Jahren geschrieben, weil ich die Idee mit der Kunstfigur gut finde. Ein frohes Fest und ein gutes neues Jahr und viel Freude mit dem Stipendium. Silvia (Buchhändlerin in Dortmund)
  • irisnebel: klasse! gratuliere! musst du ne gegenleistung bringen? als stadtschreiber z.b.?
  • nadine schmid: Ich habe mit Thien an der Uni Koeln studiert. Wir ware zeitweise befreundet, aber ich hatte wenig verstaendnis fuer seinen ‘Mangel’ am akademischen Streben und habe, trotz meiner Anerkennung seines Talents, sein Lebensziel, aus seiner Dichtung etwas zu machen, als...
  • bersarin: Es muß natürlich, entdecke ich beim zweiten Lesen, Monika Rinck heißen. Ich kann mir Namen nie merken.
  • Aléa Torik: Ja, Bersarin, seinerzeit hat‘s ziemlich gut funktioniert: es war Literatur und die Leute waren mittendrin. Manche, ohne es zu merken. Manche haben hinterher zufrieden gelächelt, weil sie bei etwas Neuem mitgemacht haben. Oder weil sie selbst zu einer Art literarischer Figur dadurch...
  • bersarin: Literarisches Bloggen, liebe Aléa Torik, funktioniert durchaus. Freilich nur bei den wenigsten. Das meiste, was geschrieben wird, stammt aus dem Klein-Klein der Halbgarküchen, ist Poesiealbumsprosa von Minderleistern, Befindlichkeitsscheiße ohne Form. Ich schreibe dahingehend und als...
  • Aléa Torik: Never ride a dead horse – das hätte auch als Überschrift dieses Beitrags herhalten können. Gestern Nacht bin ich mit dem Rad 35 km durch das ausgestorbene Berlin gefahren, bis weit jenseits der Stadtgrenze. Da ich ziemlich kaputt war, konnte ich dabei nichts denken, aber wenn...
  • Norbert W. Schlinkert: Liebe Aléa, Du hast überschüssige Energie!? Da werden Dich viele drum beneiden, umso besser also, wenn sie in etwas fließt, was Sinn zu machen verspricht. Was soll man also dazu sagen? Ich sage: Es lebe die Literatur! Und Gratulation natürlich zum vollzogenen Ausstieg aus...
  • Aléa Torik: Lieber Norbert, verflixt, hab‘ ich schon wieder Recht? Ich kann sagen, was ich will, ich habe immer recht. Dabei schrieb ich das eigentlich, um zu provozieren. Entweder lässt sich keiner provozieren oder die Provokation im Netz ist so allgegenwärtig, dass man zu ganz anderen Kalibern...
  • Norbert W. Schlinkert: Liebe Aléa, da triffst Du mal wieder den Nagel auf den Kopf wie die Faust das Auge: fiktional und ein Sein als solches hat ein literarisches Blog zu sein und nicht einfach noch ein weiterer Mitspieler auf dem Markt- und Kampfplatz realer Eitelkeiten. Als Schriftsteller:in...
  • Aléa Torik: Liebe Miss Lingen, bitte entschuldigen Sie die kleine Verspätung meiner Antwort. Ich war auf anderen Schlachtfeldern unterwegs. Sie haben absolut recht, es ist viel zu komplex. Dabei darf ich mir zugutehalten, es deutlich vereinfacht zu haben. Denn im Original – wenn wir uns darauf...
  • Miss Lingen: Obwohl, wie Sie wissen, ich hier mit Sympathie lese, frage ich doch: ist das nicht alles ein wenig zu komplex?
  • Aléa Torik: Dann bin ich gespannt, was du von dem Essay hältst.
  • Norbert W. Schlinkert: Liebe Aléa, die Idee des freiwilligen Ablebens um des Erfolges willen stand ja schon einmal im Raum, aber das nur zu machen, um ausgerechnet auf meine Leseliste zu kommem, nee, da hast Du recht, das wäre schon sehr übertrieben! http://www.litblogs.net/hue...
  • Aléa Torik: Lieber holio, ganz verstehen kann ich die Ottos und Ottisten ja tatsächlich nicht. Vielleicht ist das so, dass Otto und Otta, was ihr Leseverhalten betrifft, auch nicht ganz schlau aus sich werden. Sie greifen immer nur nach dem, wonach auch die anderen greifen. Das zeichnet die...
  • Aléa Torik: Lieber Norbert, man ist ja einiges gewöhnt bei den Autoren. Was die alles tun, um gelesen zu werden, beispielsweise das Schreiben seltsamer Bücher. Ich fände es allerdings doch etwas übertrieben, wenn sich ein Autor nach dem Schreiben seines Buchs sogleich aus dem Leben verabschiedet:...
  • holio: Traurig ist das in der Tat. Und so ganz zu verstehen auch nicht. Im Geräusch des Werdens war der Anknüpfungspunkt für Otto Normalleser ja da. Und die Bălkanexotik ist auch rezipiert und rezensiert worden. Die Sprache ist einfach, der Plot verständlich, erinnere die Szene mit dem blinden...
  • Norbert W. Schlinkert: Liebe Aléa, noch habe ich Deinen Essay ja nicht gelesen – kommt aber noch! Bin gespannt wie ein Flitzebogen! Und was meine durch eigenes Lesen hervorgerufene Belebung von Texten inzwischen leiblich von uns gegangener Autor:inn:en angeht, so ist es nicht Trost, den ich da...
  • Aléa Torik: Lieber holio, Sie haben recht, die Politik lassen wir hier außen vor. Richtig glücklich bin ja auch nicht mit dem Etikett der Postmoderne. Aber irgendwie müssen wir es ja benennen. Sagen wir Transmoderne. Die wesentliche Information ist allerdings angekommen, schon lange: dass Sie...
  • Aléa Torik: Lieber Norbert, fein, dass ich dich zum Assoziieren bringe. Dass steter Tropfen den Stein höhlt, habe ich bisweilen schon gehört. Aber hat mal jemand gefragt, was mit all den ausgehöhlten Steinen anzufangen ist? Wozu Steine höhlen? Was Cărtărescu betrifft, ich habe es in dem Essay...

  • 01 Juni 2016

    Fürs Archiv II: Die Wiederholung

    Es gibt keine Wiederholung. Jedenfalls keine, die etwas Identisches wiederholen könnte. Selbst wenn es identisch wäre, unterschiede sich das Wiederholte vom Wiederholten immer noch darin, dass das erste nicht wiederholt werden konnte und das zweite nur wiederholen kann. Das erste ist unwiederholbar, auch wenn das zweite das Gegenteil behauptet. Ist doch klar, oder? Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch illustriert diesen Sachverhalt. Die meisten werden annehmen, sie können, was Malevitsch gemacht hat, auch machen. Dabei wird vergessen, dass, was vermeintlich jeder kann, nur einer konnte: Malevisch. Alle anderen können es nur abmalen. Sie können es nur kopieren. Gerade das vermeintlich Allgemeine ist einzigartig.

    Was „Im Uterus des Schädels hieß“, heißt jetzt so wie es von Anfang an hat heißen sollen: „Der unendliche Teppich der Illusion“. Mein Essay zur Orbitor-Trilogie von Mircea Cărtărescu ist jetzt in „Die Wiederholung“ erschienen. Keine identische Wiederholung, sondern eine mit entscheidenden Veränderungen. Hier das Selbstverständnis der Zeitschrift. Käuflich erwerbbar, hier.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    22 April 2016

    Fürs Archiv

    Fürs Archiv. Damit später keiner behaupten kann, es sei anders gewesen. Ich lebe noch und bekomme in diesem Jahr ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    15 Oktober 2015

    Ende und Anfang

    Wie in Aléas Ich korrespondieren auch bei dem begleitenden Blog der Anfang und das Ende miteinander. So wie es anspruchsvoll sein kann, aus dem Nichts heraus einen Anfang zu finden, ist es mitunter schwierig, dem Spuk ein Ende zu bereiten.

    Ich werde – von Veranstaltungsankündigungen und Hinweisen in eigener Sache abgesehen – mit dem Bloggen aufhören, weil ich nicht glaube, dass diese Tätigkeit eine literarische ist. Vielmehr glaube ich nicht, dass es eine neue literarische Form ist. Ich habe das bereits mehrfach gesagt, dass ich das Neue nicht erkenne, das genuin literarische. Weder was die Literatur, noch was die Literaturkritik angeht. Wir haben im Netz eine andere, subjektivere Literaturkritik. Was nicht per se schlecht ist. Im Netz geht es häufig darum, was ein Buch mit dem Leser gemacht hat, nicht darum, was es überhaupt macht. Das aber ist es, was mich vorrangig interessiert. Und so wie ich keine Bücher von Autoren lesen will, die etwas verarbeiten müssen – die sollen gefälligst eine Therapie machen oder sich einen Job suchen: da können sie den ganzen Tag etwas verarbeiten – so will ich auch keine Rezensionen von Lesern lesen, mit denen die Bücher etwas gemacht haben: das einzige, was ein Buch mit einem macht, ist, dass man auf der Couch liegt und liest. Das ist der eigentliche Skandal der Literatur, dass einer da sitzt oder liegt und scheinbar nichts tut.

    Die Literaturkritik, wie wir sie aus den vergangenen Jahrzehnten kennen, verändert sich: auch in der FAZ und der ZEIT werden inzwischen sehr häufig, statt fundierter Urteile, lediglich Geschmacksurteile verkündet. Der Kritiker scheint nur noch eine Art Konsument zu sein. Ich sehe keine Verbesserung der Literaturkritik im Netz, aber eine Verbloggung derselben im Feuilleton. Ich will nicht arrogant sein. Ich will lediglich sagen, dass ich mich nicht für Literaturkritik interessiere. Sondern für Literatur. Mich interessiert nur das Buch und sein Personal, nicht der Autor und auch nicht der Leser.

    Ich höre also mit dem Bloggen auf. Eigentlich habe ich das schon getan. Ich habe es nur noch nicht vollzogen, weil ich nichts hatte, um es zu ersetzen. Und etwas einfach aufzugeben ist nicht meine Sache, weil das Aufgegebene damit auch entwertet wird. Zufälligerweise hat sich nun eine Option ergeben, die überschüssigen Energien zu verwandeln. Ich werde etwas anderes machen. Etwas Sinnvolles. Noch sinnvoller oder noch sinnloser als dies hier je gewesen ist, nämlich: tell! Hier gibt’s einen ersten Ausblick. Wer mag, trage sich in den Newsletter ein. Und wer nicht mag, der mag möglicherweise etwas anderes. Selbstdenkende freie Geister sind mir die liebsten.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    22 Juli 2015

    Literatur 2.0: Was sind literarische Blogs?

    Ich kann die Frage nicht beantworten, weil ich keine kenne. Ich kenne Blogs, deren Betreiber sich mit Literatur beschäftigen und darüber schreiben. Und nicht wenige schreiben nicht darüber –  sie erheben sich nicht über den Gegenstand ihrer Betrachtung –, sondern darunter. Aber sind das literarische Blogs? Ich kenne auch einen, der seinen Laptop links mit einem Band Kafka und rechts mit einem gleichdicken von Tolstoi unterfüttert und der solchermaßen ein sehr ausgewogenes Projekt betreibt. Aber ist das ein literarisches Blog? Es tut sich unglaublich viel im Web 2.0. In der Literatur 2.0 hingegen tut sich wenig. Da werden die kleinsten Erschütterungen – Blogger schreiben jetzt, statt ausgewiesener Literaturkritiker, Rezensionen – als Erdbeben verkauft. Dabei sind viele Literaturkritiker längst keine mehr. Und viele Blogger haben jene Ausbildung, die einst die Literaturkritiker hatten: sie haben an den entsprechenden Fachbereichen studiert. Aber reicht das als Kriterium aus, wenn das gedruckte Feuilleton in Teilen von webbasierten Blogs übernommen wird, um als literarisches Blog zu firmieren?

    Ist das ein literarisches Blog, wenn jemand das als sein persönliches Journal, eine Art Tagebuch, betreibt, interessengeleitet und an der Literatur orientiert natürlich? Literatur ist, was das Kriterium der Fiktionalität erfüllt. Und das gilt auch für Blogs. Es sollte gelten. Im Deutschlandradio gibt es ein Feature “Im Netz ist jeder Leser ein Kritiker”, (hier zum Nachlesen und hier zum Nachhören) am kommenden Freitag, den 24. Juli, um 19.30. Auch ich finde in dieser Sendung Erwähnung. Vielmehr finde ich die Erwähnung nicht, sondern ich erwähne mich selbst. Die Literaturkritikerin Sieglinde Geisel, die unter anderem für die NZZ schreibt, hat Interviews mit Literatur-Bloggern geführt und daraus eine Sendung zusammengestellt.

    Ich verstehe mich gar nicht als Blogger. Ich habe einige Zeit gebloggt, weil es Teil dieser Konstruktion um Aléa Torik war, die über Fiktionalität promoviert, ein Blog führt und einen metafiktionalen Roman schreibt, der all das in Frage stellt und dabei die Rolle der Fiktion beleuchtet. Und da das Projekt abgeschlossen ist, ist auch dieses Blog inzwischen mehr oder weniger stillgelegt. So wie ich mich jahrelang mit einem Blinden identifiziert habe, um mit  Das Geräusch des Werdens einen Roman über Blindheit schreiben zu können, habe ich das mit einer Migrantin aus Rumänien getan: um mit Aléas Ich einen Roman darüber zu schreiben. Inzwischen bin ich längst auf anderen Feldern unterwegs.

    Die Überschrift dieses Artikels ist falsch. Man müsste nicht nach der Sache, sondern nach dem Ort fragen: Wo sind literarische Blogs? Aber die Frage nach dem Ort im Netz ist sinnlos, weil das Netz, da es überall ist, keine Orte mehr zulässt. Es müsste also heißen: Wie sind literarische Blogs? Und die Antwort lautet: hoffentlich nicht real, sondern fiktional. Und wenn das nicht hinhaut, dann wenigstens fiktionalisierend.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    30 April 2015

    „IM UTERUS DES SCHÄDELS“

    Mircea Cărtărescus Orbitor-Trilogie

    Mircea Cărtărescu ist einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren, auch aufgrund seiner Orbitor-Trilogie, die inzwischen vollständig ins Deutsche übersetzt vorliegt. Allein hierzulande bekommt er nach dem Internationalen Literaturpreis im Jahr 2012 nun auch den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In der Begründung der Jury dazu heißt es: „Dieses monumentale, exzessive und alle Grenzen sprengende Prosa-Werk ist zugleich Künstler-, Großstadt- und Weltroman, übersteigt aber die Realität auf surreale, halluzinatorische und visionäre Weise.“

    Der Titel

    Im Original heißen die drei Bände Orbitor. Aripa stângă (Blendend. Der linke Flügel), Orbitor. Corpul (Blendend. Der Körper) und Orbitor. Aripa dreaptă (Blendend. Der rechte Flügel). Dass die Titel keine formal korrekte Übersetzung erfahren haben und im Deutschen Die Wissenden, Der Körper und Die Flügel heißen und dabei nur sporadisch auf die Zusammengehörigkeit der Trilogie hingewiesen wird, ist ausgesprochen bedauerlich. Möglicherweise wurde der Titel als sperrig empfunden, außerdem hat Elias Canetti lange vor Mircea Cărtărescu einen Roman Die Blendung genannt. Allerdings gehen mit dem ursprünglichen Titel wesentliche, für das Verständnis des Romans unerlässliche Informationen verloren.

    Dieser Titel eröffnet assoziativ bereits den Raum der Interpretation, auf zwei grundverschiedenen Bedeutungsebenen, diesseits und jenseits des Satzzeichens. Durch die Flügel und den Körper wird auf den Schmetterling hingewiesen, der auf beinahe jeder Seite des Romans erscheint. Dabei klingt die Verwandlung der Raupe an, die Metamorphose des Körpers, die Erlösung aus einem niederen und die Wiedergeburt auf einem höheren Stadium, die Schönheit des Tieres, die Leichtigkeit des Flugs, die Unschuld eines nicht zielgerichteten Verhaltens und die geometrische Zeichnung der Flügel. Und damit auch das Assoziationsvermögen des Betrachters, der im Rorschach-Test – bei dem Farbkleckse auf Papier durch Falten eine symmetrische Form erhalten – indem er formuliert was er sieht sinnlose Kleckse in sinnvolle Worte verwandelt. Und schließlich wird auf die Chaostheorie verwiesen, die sich ausgerechnet der Lepidoptera bedient, mit der pittoresken, aber schwer zu überprüfenden oder zu widerlegenden These, der Flügelschlag eines Schmetterlings in einem Teil der Welt könne einen Wirbelsturm in einem anderen Teil verursachen.

    Die zweite Bedeutungsebene ist das in jedem der drei Teile wiederkehrende Wort Orbitor – Blendend. Damit wird ein Sehen beschrieben, das mehr als Sehen ist: ein Hellsehen. Ein strahlendes Sehen, das im Übersehen in sein Gegenteil umschlägt, so dass der Geblendete nichts mehr sieht. Aus der Blendung wird mitunter auch die Verblendung, da einer alles andere sieht, nur das eine nicht. Im Blendwerk klingen die Illusion und die Täuschung mit. Die orbita bezeichnet die Augenhöhle im menschlichen Schädel, in die der kugelförmige Körper des Augapfels eingebettet ist. Sehen ist ein neurologischer Vorgang, bei dem ein kleiner Ausschnitt aus dem Spektrum elektromagnetischer Wellen, Licht genannt, in Nervenimpulse verwandelt wird. Licht ist seit jeher eine Metapher für die Wahrheit, Sehen eine für die Erkenntnis. Was wir sehen und als Wirklichkeit bezeichnen, so das Höhlengleichnis Platons, sind nur die Schatten der wahren Dinge. Dieses Gleichnis, geradezu die Gründungsurkunde abendländischen Denkens, beschreibt ein Erkennen, das nicht etwas, sondern sich selbst erkennt. Das lateinische orbis bezeichnet den Kreis, der Orbit die kreisförmige Umlaufbahn eines Planeten, dessen Rundung beim Sprechen von Orbitor sowohl im Eröffnungslaut als auch im identischen Verschlusslaut mit den Lippen nachgezeichnet wird. Um diese zweite Bedeutungsebene geht es im Folgenden.

    Anders als in unserem Sonnensystem befindet sich im Zentrum der Umlaufbahnen von Orbitor kein zentraler Körper. Der dort dargestellte Charakter dreht sich um einen imaginären Punkt, der im Zentrum aller Selbsterkenntnis steht und dennoch nicht greifbar ist, sich jedem Nachweis entzieht und dabei der Suche der Physiker nach dem ‚Gottesteilchen‘ ähnelt: eine Chimäre, der man in Teilchenbeschleunigern, gewaltigen ringförmigen Anlagen hinterherjagt. Der Protagonist dreht sich um jenen Punkt, den ein jeder, Protagonist in seinem eigenen Leben, kennt, und der nur ungenügend durch den Umstand beschrieben wird, dass uns die Welt lediglich aus der Ichperspektive zugänglich ist. Wir drehen uns um einen Mittelpunkt, den wir mit dem Personalpronomen ‚Ich‘ etikettieren, der mehr ist, als wir je benennen könnten, und auch weniger: die eigene Identität. Identität kann nicht direkt formuliert oder dargestellt werden, denn damit würde das Identische bereits verlassen. Das mit sich identische Ich, das, reflektierend im Spiegel seines Badezimmers oder in dem seines Verstandes, sich selbst erkennt, erkennt das gegenüberliegende, spiegelverkehrte, andere. Das Erkennen des vermeintlich Identischen erschafft erst die Trennung von Erkennendem und Erkanntem. Wer wüsste das besser als Narziss? Die eigene Identität kann nicht erkannt, immerhin aber umkreist werden. Diesen Bahnen, diesen Versuchen eines sich selbst erkennenden Protagonisten werden wir hier folgen.

    Der gesamte Essays kann auf Literaturkritik.de gelesen werden, hier. Aber nur anschauen, nix kaputtmachen!

     

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    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    29 April 2015

    Sensation! Aléa Torik deckt nahezu im Alleingang die Machenschaften der Rumänenbande auf. Morgen in BILD! Sen-satio-nell!

    Es ist nicht die gesamte Rumänenbande, sondern nur deren Kopf, dessen Machenschaften ich aufdecke. Und nicht einmal der ganze Kopf, sondern nur die am Gebärvorgang beteiligte Sektion. Er, also nicht der Kopf, sondern sein Träger, kommt für sein Tun auch nicht hinter Gitter, jedenfalls nicht ursächlich durch mein Tun. Und es geschieht auch nicht in der Bildzeitung. Ich hatte denen meine Recherchen angeboten, aber die haben aus mir unerklärlichen Gründen kein Interesse gezeigt. Schade. Da hätte ich sicher sehr sahnige Honorare verhandeln können. Endlich mal richtig absahnen! Ich bin mit meinem Text notgedrungen auf ein anderes Organ ausgewichen. Also doch keine Sensation. Sondern einfach eine Veröffentlichung. Statt abzusahnen immerhin ein Sahnehäubchen! Morgen.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
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    und zwar soeben.





    24 März 2015

    „Aléas Ich“ auf Bausparbuddhajägerzaun

    Endlich mal jemand, der sich über meinen Roman ärgert. Ich ärgere mich ja auch dauernd. Zum Beispiel habe ich mir vor einigen Wochen in den Finger geschnitten, genau an der Stelle der Fingerkuppe unter der auf der Tastatur mein Lieblingsbuchstabe liegt. Da war wochenlang Essig mit Schreiben! Von wegen Depression: Ohne meinen Lieblingsbuchstaben kann ich kaum ein Wort schreiben. Und gerade ist der eigene Ärger verraucht und der Finger wieder heil, kommt der Ärger der anderen, hier.

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    22 Februar 2015

    Mal mehr, mal weniger lustiges Potpourri am Sonntagnachmittag mit 100 Toten, einigen wenigen, nicht ausdrücklich genannten Aphrodisiaka, einer, allerdings umfassenden Obszönität und etwas Musik

    „Heute ist in der Ukraine der 100 Toten gedacht worden, die vor einem Jahr auf dem Majdan erschossen wurden“. So lautete im Radio eine Schlagzeile. Ist das wirklich so schlimm? Ich meine nicht die 100 Toten, sondern die Tatsache, dass man im öffentlich rechtlichen Rundfunk offenbar der Meinung ist, dass jemand, der schon tot ist, noch einmal getötet werden kann: Es sind ja Tote erschossen worden. Es ist nur ein Lapsus. Eine Unachtsamkeit, die einem allerdings immer häufiger begegnet, in Zeitungen, im Radio, im Fernsehen. Man achtet nicht mehr auf die Worte. Wieso auch, es wissen doch alle, was gemeint ist. Und viel wichtiger: Es fällt den wenigsten auf. Allerdings sind da im Radio eine Menge Leute, denen es nicht auffällt.

    „Wie geht’s weiter?“, fragte Holio in einem Kommentar. Ich könne mir, antwortete ich, keinen besseren Beruf als das Schreiben vorstellen, aber auch kein schlechteres Hobby. Und jetzt fragt auch noch Bersarin, in einem sehr langen Kommentar zum letzten Beitrag. Vielmehr, weil Fragen nicht seine Art ist, fragt er nicht. Ich muss zugeben, dass ich es nicht weiß. Dass ich es zum ersten Mal im Leben keine Antwort mehr habe. Ich hatte immer eine, als ich mich für ein Studium entschieden musste, als ich mich nach dem Studium für einen Job entscheiden musste, als ich mich nach dem Job für das Schreiben entscheiden musste. Als ich zum ersten Mal den Wunsch hatte, Schriftsteller zu werden, war es schlicht und ergreifend das Größte, was ich mir vorstellen konnte. Und das war es damals nicht nur bei mir. Heute ist es das Geringste, nicht nur, was gesellschaftliche Ächtung Achtung betrifft, die lediglich für die oberen Tausend gilt. Diese Einstellung hat sich gewandelt: Heute habe ich Hochachtung vor denen, die einem ehrbaren Beruf nachgehen. Wie ich es ja auch viele Jahre gemacht habe. Und auch wieder tun werde.

    Seit ich das beobachte, seit ich mich gezwungenermaßen damit beschäftige, eine Beschäftigung, die allerdings meist darin besteht, mich schamvoll abzuwenden; jedes Jahr kommt mit absoluter Zuverlässigkeit eine Diskussion auf, in der der Literaturbetrieb sich selbst thematisiert. Als hätte er keine anderen Interessen. Zur Freude aller Beteiligten, denn sie sind Teil dessen, was sich thematisiert und so können sie auch in diesem Jahr wieder Artikel über sich selbst und den Literaturbetrieb schreiben und Geld verdienen. Im letzten Frühjahr war es die möglicherweise mangelnde Welthaltigkeit moderner Literatur, in diesem Jahr ist es die Bedeutungslosigkeit der Literaturkritik. Ausgelöst wurde es dieses Mal durch das Interview des Oberverbrechers vom Verbrecherverlag, Jörg Sundermeier Anders als im letzten Jahr verlief die Debatte dieses Mal nicht einfach nur im Sand, sie gipfelte sogar in einem Kolloquium des Instituts für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg Universität: „Das Ende der Literaturkritik?“ Einige der Vorträge und einige andere kann man hier nachlesen.

    An dieser allgemeinen Debatte waren nicht wenige beteiligt. Die Festangestellten der Zeitungen haben unisono behauptet, dass sie viel viel viel besser mit Literatur umgehen können als die Trottel mit ihrer „Laienanalyse“ (Sigmund Freud) aus dem Internet. Und die aus dem Internet haben behauptet, dass sie viel viel viel viel besser mit Literatur umgehen könnten, als die bezahlten Claqueure von den Zeitungen. So dass jetzt eigentlich alles wieder genauso ist wie vor der Debatte und wie vor allen Literaturdebatten, nämlich, wie gesagt, genauso wie vorher. Mit dem winzig kleinen Schönheitsfehler, dass alle, ob Holzklasse oder Ledersitze, immer mehr Leser verlieren. Meiner Einschätzung nach ist das Feuilleton durch die Konkurrenz aus dem Netz nicht besser, sondern schlechter geworden und die Literaturkritik im Netz ist bei Weitem nicht das bessere Feuilleton, denn was an der offiziellen Literaturkritik immer beklagt wurde, der Nepotismus, ist im Netz nicht weniger ausgeprägt. Von der Unabhängigkeit, von Objektivität ist hüben wie drüben nicht die Rede.

    Es gibt keinen zuverlässigen Partner mehr für den Leser, der sich über Literatur informieren will. Man muss heute unglaublich viel Zeit und Mühe aufwenden, um einen guten Artikel in der Zeitung oder im Netz zu finden, jedenfalls wenn es um Literaturkritik geht. Man liest in tausend Texte rein und wieder raus, auf die Gefahr hin, dass man die wenigen wirklich guten Texte, die man eigentlich sucht, dabei übersieht. Was macht also der Leser, genauso wie der Weintrinker, der sich nicht auskennt mit Reben und Jahrgängen und Anbaugebieten und sich dann einfach volllaufen lässt? Er liest bloß das, was der kleinste gemeinsame Nenner hergibt, also die öffentlich wahrnehmbaren Buchpreise. Und ist dann häufig stinksauer, weil er am nächsten Morgen Kopfschmerzen hat. Zurecht. Weil man ihm keinerlei Möglichkeit an die Hand gibt, sich geschmacklich zu orientieren, geschweige denn sich weiterzubilden. Alle Schreibenden wenden sich immer an alle Leser. Weil es keine vernünftigen Kriterien gibt, das zu sortieren. Es ist eine Ewigkeit her, dass zuverlässig bestimmte Verlage eine hohe Qualität von Literatur garantiert haben. Auch ich schreibe nicht für alle, sondern eher für Frauen als für Männer, meist jenseits der Dreißig, überdurchschnittlicher Bildungsgrad, nicht oder nicht mehr verheiratet, nicht trauernd oder enttäuscht, aber auch nicht verbittert, hohes Einkommen, aufgeklärt, beim Umgang im Mund ein milder Hauch Romantik und Eigensinn, am Gaumen eine Note mediterraner Kirsche und, was schon zu ungläubigem Staunen verleitet hat, eine Andeutung von Rosmarin.

    Hat irgendjemand in der Debatte eigentlich von uns Schriftstellern gesprochen? Oder liefern wir mal wieder nur das Material, mit dem die anderen arbeiten? Dabei sind wir es, die dafür sorgen, dass Hunderttausend Menschen in Lohn und Brot stehen, von den Holzfällern und Druckereien, zu den Verlagen, Literaturförderern, Stiftungen, Juroren und Preisvergebern, Promovenden und Praktikanten, Zweit-, Dritt- und Viertverwerter. Lektorate, wo unsere Romane und Novellen von links nach rechts gelesen oder von rechts nach links verschoben werden, bei Zeitschriften, wo unsere Essays gelesen werden. Unsere Texte, die durch die Republik transportiert werden, von Leuten, die die Treppen hoch und wieder runter hetzen. Leute, die meine Texte auspacken und wieder weiterverschicken, an mich zurückschicken oder bei Ebay verhökern. Leute, auf deren Couch wir liegen und klagen dürfen, denn in der Öffentlichkeit dürfen wir das nicht. Wir müssen immer gutgelaunt und frisch aussehen, jung und schön. Wir dürfen nie intelligenter sein als die, die über uns schreiben und reden und das von uns zur Verfügung gestellte Material loben oder in der Luft zerreißen. Wir müssen allen immer aus der Hand fressen. Wir sind eine armselige Herde Lemminge, weil keiner je einen großen Wettbewerb gewinnen wird, der sich zuvor mokiert hat.

    Das Netz hat unglaublich viel verändert, in der Art und Weise unseres Zusammenlebens, wie wir Denken und Fühlen. Aber in der Literatur hat sich nahezu nichts getan. Außer, dass es immer mehr gibt, die schreiben und immer weniger, die lesen. Das sagt ja auch Bersarin: Reduziert euch. Und haltet endlichalle eure Klappe. Es ist tatsächlich ausgesprochen obszön, dass so viele schreiben. Dass so viele zu den Fleischtöpfen streben, von denen es nicht wenige  gibt. Aber es kommen eben immer nur ganz wenige in Frage. Es sind wenige hundert, die die Preise und Stipendien bekommen, die auf die großen Festivals eingeladen werden etc. etc. Es ist obszön, dass wir, die wir Hunderttausend Menschen in Lohn und Brot halten, selbst solche Hungerleider sind. Wir müssten aufstehen und klipp und klar sagen, dass wir das nicht mehr machen. Wir schreiben keine Texte mehr. Wir schicken nichts mehr an Verlage, wir bewerben uns nicht mehr auf Stipendien und lehnen Lesungen freundlich, aber bestimmt ab. Wir verweigern uns einfach. Wir schreiben nichts mehr, vielmehr veröffentlichen wir nichts mehr. Anders als bei der Deutschen Bahn oder der Lufthansa, wo wegen Lappalien gestreikt wird, geht es bei uns um die gesamte Existenz. Und anders als dort, wo die Nutzer der Dienstleistungen das irgendwie regeln können, wird unsere Verweigerung zu einer regelrechten Panik führen. Eine solche Kündigungswelle hat das Land noch nicht gesehen. Es dauert kein Jahr und Merkel, Lammers und Gauck werden die Verhandlungsführer in einem Schlichtungsstreit, den wir nach Belieben dominieren können. Denn neben den Hunderttausend Arbeitsplätzen geht etwas viel Wichtigeres verloren und man wird erkennen, was eine Gesellschaft taugt, der die fiktionale Komponente genommen worden ist.

    Ich habe mal wieder einen dieser unseligen Kommentare erhalten, der mir ganz klar vor Augen führt, dass das Netz durchaus geeignet ist, um Rezensönchen zu publizieren, aber  nicht um eine eigenständige literarische Leistungen zu erbringen, wie ich sie meiner Auffassung nach erbracht habe und die sich, wenn sie Stephan Porombka, Professor an der UDK in Berlin, formuliert, so anhört: „Vor allem sollten wir die Art und Weise, wie ein Autor oder eine Autorin ihr Schreiben und Publizieren organisiert unbedingt als Teil des Werks verstehen: als experimentelle Performance, mit der versucht wird, die Literatur den neuen Bedingungen anzupassen.“ Die neuen Bedingungen von Literatur im Netz. Jemand machte mir eine kleine, aber feine Liste von Beschimpfungen, dass ich offenbar geistig gestört, schwul, pervers etc. sei, weil ich als Mann ein Blog als Frau führe. Ich weiß nicht, von wem das stammt. Die, die mir Anonymität vorwerfen, werfen meistens anonym. In der Regel sind das Männer, die offenbar der Auffassung sind, ein gewisses Anrecht auf jene Person zu haben, die sie sich unter dem Namen der Autorin vorgestellt haben. Ich bin Schriftsteller_in. Ob als Mann oder als Frau ist einerlei. Ich mache Kunst. Allerdings, das gebe ich zu, habe ich hier jahrelang nicht gesagt, dass es Kunst ist. Und deswegen dachten alle, es sei Natur. Meine Brüste seien echt. Nun stellt sich heraus: alles Silicon. Aber geil war‘s dennoch, gelle?

    Abschließend die 17 Hippies.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    07 Dezember 2014

    Je weniger die Sprache ein Buch trägt, umso mehr Handlung braucht es

    Viele, vermutlich sogar die meisten Leser wollen, wenn sie ein Buch lesen,  Handlungen.  Sie wollen wissen wie, was auf der ersten Seite beginnt, weitergeht. Und weitergehen kann es ihrer Meinung nach nur über die Handlung. Alles, was den Fortgang der Ereignisse hindert, zu viele oder zu wenig Personen und Dinge, zu differenzierte Charaktere, die ausbearbeitet und dargestellt werden müssen, ja, sogar die Sprache selbst ist bloß hinderlich. Und weil die meisten Leser nicht nur wissen wollen wie es weiter-, sondern vor allem, wie es ausgeht wär man am liebsten schon mit dem Buch am Ende. Das beste Buch ist das, bei dem man nach der ersten gleich zur letzten Seite springen kann, weil der Mittelteil sowieso nur eine Form der Hemmung ist. Statt gleich zu sagen was passiert, muss der Held in vielen Romanen erst elend lange geläutert werden, allerlei Gewissenskonflikte bestehen, in Liebesdingen Glück und Schmerz erleiden, mehr verlieren als je ein Mensch gewinnen kann und schließlich erkennen, dass selbst er, der Held seines eigenen Lebens, nur einen begrenzten Einfluss auf den Ablauf der Ereignisse hatte, weil sie nicht konzentrisch auf ihn zulaufen, sondern meist an ihm vorbei; all solche Dinge, bis es endlich an die letzte Seite geht, wo, hoffentlich, die Liebenden sich in den Armen liegen.

    Je weniger die Sprache ein Buch trägt, umso mehr Handlung braucht es. Sprache dient dann lediglich dazu, diese Handlung zu berichten. Die Wörter, mit denen das stattfindet, sind den Ereignissen aber eigentlich sogar im Weg. Das liegt natürlich am modernen Leser. Wir brauchen Ereignisse, heute mehr denn je. Wir hetzten von Ereignis zu Ereignis, die immer dichter aneinander rücken, damit keine leeren Stellen dazwischen liegen. Leerstellen sind für handlungsorientierte Menschen geradezu fruchterregend. Viele Menschen, so hat eine Untersuchung ergeben, ein Bericht in der FAZ, der, so scheint es, nicht online ist, können es nicht ertragen, auf sich selbst reduziert zu werden. Sie würden eher Schmerzen empfinden wollen, als sich einen Tag lang nur mit sich selbst und den eigenen Gedanken beschäftigen zu müssen. Handlung ist auch Ablenkung vom eigenen Selbst. Selbstverständlich findet sich das auch in der Literatur wieder, die Auffassung, dass ein in einem Buch dargestelltes Leben auf seiner Handlung aufbaut (und dann letztlich natürlich auch das Buch selbst, das nach Handlung verlangt (sonst kommt der Leser womöglich noch auf den Gedanken, dass es sich bei der dargestellten Person um eine handlungsunfähige (und damit im Grunde auch darstellungsunfähige Person handelt, (vielmehr nicht handelt)))). Meiner Auffassung nach können andere Medien, allen voran der Film, Handlungen sehr viel besser darstellen. Medien, die nicht auf die Sprache angewiesen sind. Denn das ist die Handlung ja in ihrem Kern: eine Tat. Und die Tat braucht die Sprache nicht. Sie ist ihr sogar im Wege.

    Eine rein äußerliche Handlung, die bloße Tat, finde ich sterbenslangweilig. Ein character der von der Couch aufsteht, die Wohnung verlässt, beim Nachbarn klingelt und ihm unangekündigt eine aufs Maul haut: der interessiert mich nicht. Sehr viel interessanter ist der character der auf der Couch sitzen bleibt und sich vorstellt, zum Nachbarn rüberzugehen und ihm endlich mal richtig was aufs Maul zu hauen. Ich bin sogar der Auffassung, dass es kaum einen größeren Unterschied zwischen zwei Romanen geben kann, als zwischen diesen beiden Varianten. Und nur die zweite Variante richtet sich an einen mündigen Leser. Nur die hat einen Bezug zu ihm. Denn der Leser ist keiner, der zum Nachbarn rübergeht. Der Leser ist einer, der auf der Couch sitzt und sich, unter Zuhilfenahme eines Buches vorstellt, rüberzugehen; oder was immer man ihm in dem Buch auftischt, das er gerade liest. Und er macht das, weil er weiß, dass das die sehr viel interessantere Tätigkeit ist: dasitzen und lesen und sich was vorstellen. Sich Dinge vorstellen, die er de facto gerade nicht tut. Wüsste er das nicht, würde er das Buch weglegen und etwas tun.

    Der Artikel im KLG spricht bei meinem ersten Roman von „weitgehend reduzierter“ und beim zweiten von „denkbar ereignisloser“ Handlung. Bei meinem dritten Text ist diese Tendenz noch ausgeprägter. Allerdings wird da auch ein character in der letzten Sekunde seines Lebens beschrieben, und die zeichnet sich, so meine ich prognostizieren zu dürfen, vor allem durch ausgeprägte Handlungsarmut aus. Dafür bin allerdings nicht ich als Autor_in verantwortlich, sondern der Leser. Denn der ist es, der nahezu bewegungslos auf der Couch liegt und sich mit Worten zufriedengibt. Soll er doch aufstehen und zum Nachbarn rübergehen, klingeln und ihm, weil ihn Handlungsarmut nervt, was aufs Maul hauen. Es ist nicht mein Job, ihn davon abzuhalten oder ihn sogar zu ermutigen. Mein Job sind nur die Worte. Ob die als handlungsintensiv, spannend oder lustig, als Ermunterung zu oder Verhinderung von Taten empfunden werden fällt vollständig in den Verantwortungsbereich des Lesers.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    10 November 2014

    Aléa Torik im “Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur”

    Ein durchaus besonderer Moment im Leben einer Schriftsteller_in ist – soll man es Kanonisierung nennen? – der Eintrag in einem Lexikon. Es ist immer ein besonderer Moment, wenn man erfährt, was andere über das schreiben, was man selbst geschrieben hat. Ich habe mich über jede der Rezensionen gefreut. Allerdings hatte ich auch allen Grund dazu. Dennoch waren das Ereignisse im Rahmen des Literaturbetriebs, der seinen eigenen Gesetzen folgt, die nicht unbedingt mit denen im Deutschen Grundgesetz übereinstimmen müssen. Ein wissenschaftlicher Essay im KLG ist anders kalibriert.

    In seiner Einleitung folgt der Essay meinem Tun in den vergangenen Jahren, unter besonderer Berücksichtigung des Internets, und erkennt, was ich in dieser Deutlichkeit bisher übersehen hatte: „An der Autorfiktion ‚Aléa Torik‘ zeigen sich somit auch jene Herausforderungen, welche die Netzliteratur zwischen fiktionaler und realer Autorenexistenz an die literaturwissenschaftliche Theoriebildung stellt.“ Wenn die Autorin, ich nämlich, sich dann noch in den Diskurs einmischt, der in der Regel über die Köpfe der Produzenten hinweg ausgefochten wird, nämlich Kommentierung von Rezensionen, zur Not auch behutsame Korrektur (hehe!), und Selbstinterpretierung eigener Texte, wird es entweder problematisch oder interessant.

    Im Fortgang des Essays werden die beiden Romane ausführlich besprochen, auf eine Weise, die wiederholt die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass da ein poetisches Programm im Hintergrund steht, welches, so unterschiedlich sie auch sein mögen, beide Texte umfasst, nämlich die Ausweitung der literarischen Zone über die Grenzen der Buchdeckel hinaus. Die Grundidee von „Das Geräusch des Werdens“ ist die, „dass Lebensentwürfen immer schon ihre nicht verwirklichten Alternativen als gleichwertige Möglichkeiten inhärent sind“. Genau das führe ich dann mit dem zweiten Roman, der ein Weblog in seinem Kielwasser mitführt, vor. Die Suche nach Identität – nach irgendeiner oder der eigenen – ist das Thema aller meiner Figuren, mögen sie genauso heißen wie ich, mögen sie ähnlich heißen oder vollkommen anders. Diese Möglichkeit anders zu sein, kann sowohl als Freiraum – den Schriftsteller natürlich auf eine ganz besondere Weise ausfüllen und erleben können – verstanden werden, wie auch, gerade in Zeiten, in denen Eindeutigkeit ein erheblicher Wert ist, als Infragestellung der eigenen Person. Identitätssuche zwischen Wirklichkeit und Fiktion: ich bin der Überzeugung, dass wir das nicht trennen können und dass das Konzept des sogenannten “Fiktionsvertrags” zwischen Leser und Autor vielleicht noch möglich ist, nicht jedoch für die jeweilige Person selbst. Was einer ist, ist nicht auf der einen oder anderen Seite zu verorten. Im Gegenteil: Wirlichkeit und Fiktion sind dabei in der Regel ein wildes Gemengelage. Spätestens mit dem Netz ist diese rigide Trennung  sowieso nicht mehr möglich (dazu habe ich mich bereits in aller Ausführlichkeit hier geäußert).

    Es werden in dem Essay nicht nur die Postmoderne – ein Begriff, den ich gar nicht so gerne höre -, sondern mit der deutschen Romantik und vor allem, was mich wirklich freut, mit dem Magischen Realismus jene Traditionslinien genannt, in denen ich stehe und mit Borges und Cărtărescu auch zwei Schriftsteller, deren Texte ich sehr schätze. Svenja Frank nennt nicht nur die verschiedenen Bezüge, sondern betont auch, dass das Teil meines poetischen Programms ist, das man als „Poetisierung der Wirklichkeit“ bezeichnen könnte:

    „Der Gedanke, dass sich Identität im Zusammenspiel von Wirklichkeit und Möglichkeit formiert, war bereits grundlegend für das Erstlingswerk; in „Aléas Ich“ wird er mit der Romanpoetik verknüpft. Denn der Roman ist zugleich Geschichte seiner Entstehung. Anfangs- und Endpunkt bildet die Zentralbibliothek der Humboldt-Universität, wo Aléa arbeitet: Der Leser blickt mit der Autorin auf die erste Seite jenes Textes, den sie zu schreiben beginnt. Romantext und Textwelt, Erleben und Erzählen, Wirklichkeit und Fiktion fallen zusammen. Durch die Ausweitung dieser Idee auf den Paratext – Autorenname, Danksagung und Kurzbiografie – werden überdies auch fiktiver und realer Text eins, und der vorliegende Roman wird zum radikalen Ausdruck seiner selbst, indem er Realität und Imagination vereint. Die Autorfiktion „Aléa Torik“ wird im zweiten Roman folglich zum konstitutiven Bestandteil des poetologischen Prinzips. Die fiktive Autorin schafft sich selbst als Ich realiter im Erzählen. Zugleich Autorin und Figur, entscheidet Aléa über das Schicksal ihrer Mitmenschen, denn ihr Erzählen ist stets performativer Akt, das Leben folgt – in Anlehnung an Oscar Wilde – ihrem Schreiben, nicht umgekehrt. Wenn die Erzählerin von sich behauptet: „Ich lebe nach literarischen Gesichtspunkten“, so ist dies folglich keine Metapher. Die Überlagerung der Zeit- und Narrationsebenen bewirkt, dass Romanwirklichkeit und Aléas „vorauslaufende (…) Einbildung“ nicht unterschieden werden können.“

    Der Essay schließt mit einer Bemerkung zum 11. September 2011. Der Tag kann durchaus als Verweis auf „nine/eleven“ gelten. Es ist der Tag, an dem der Roman beginnt: Jemand springt aus dem Fenster. Möglicherweise Olga, die Mitbewohnerin Aléas, ihr alter ego, die vermeintlich nach New York gegangen ist. Das kann auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass mit „nine/eleven“ zum ersten Mal, so empfinde ich das, ein Ereignis so vollständig medialisiert worden ist, dass später gar nicht mehr zu sagen war, ob sich das, was im Fernsehen zu sehen war, wirklich ereignet hat oder ob es sich um Ausschnitte aus einem Film, in dem das Word Trade Center von Terroristen angegriffen wurde, gehandelt hat. Auch hier ist das Thema Wirklichkeit und Fiktion wieder präsent. [Nachtrag: sie tauschen im Grunde genommen ihre Plätze: die Fiktion wird so hyperreal, dass die Wirklichkeit, die dieses Übermaß an Realität gar nicht erbringen kann, nun wie eine Fiktion erscheinen muss.]

    Ich hatte aber noch etwas anderes im Sinn, als ich dieses Datum gewählt habe – und auch jetzt beteilige ich mich wieder an der Interpretation – und Svenja Frank weist im Grunde genommen mit zwei Bemerkungen zu den Romanen schon in die richtige Richtung – nämlich, dass da sehr wenig passiert, reduzierte äußerliche Handlungen -: Der 11. September ist der Tag, an dem Malte – Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurigs Brigge – mit seinen Aufzeichnungen in Paris beginnt. Beide, Aléa und Malte, sind zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt. Paris ist im 20. Jahrhundert, was New York im 21. Jahrhundert ist – ob Walter Benjamin diesen Satz unwidersprochen ließe? -. Rilkes Roman ist ein Text, der kaum Handlung vorweisen kann. Weitab vom realistischen Roman seiner Zeit, steht in diesem Text etwas im (imaginären) Mittelpunkt, was gar nicht da ist: der Erzähler. Und der realistische Roman hängt vor allem am Erzähler (behaupte ich), der scheinbar objektiv dem Leser die Ereignisse  berichtet. Diese Objektivität ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlorengegangen. In Rilkes Roman haben wir einen Erzähler, der sich und sein Sehen, sein Bewusstsein und damit seine mangelnde Objektivität thematisiert. Malte versucht, als Dichter zu leben. Wie Aléa. Malte schreibt Tagebuch, Aléa ein Blog. Beide reflektieren über dieselben Dinge: Liebe und Einsamkeit, Sprache und Wirklichkeit, und vor allem über diesen seltsamen Begriff der Neuzeit, der in der Folge der untergehenden Objektivität nach oben gespült wird: Identität. Im Mittelpunkt dieser Aufzeichnungen steht das betrachtende Ich, das es selbst wird, indem es die Welt erkennt. So ist das auch in Aléas Ich, allerdings mit einer entscheidenden Weiterentwicklung – vielleicht tatsächlich der Postmoderne geschuldet – der Leser schaut dem Entstehen des Ichs zu, während das Ich bei Rilke schon vorher da war.

    Ich vermute, wenn man das Dissertationsprojekt von Svenja Frank anschaut, dass Aléa Torik auch dort Erwähnung finden wird. Dissertationen und Romane ähneln einander, nicht nur darin, dass beide Narrative sind, sondern vor allem in dem Umstand, dass die Sache nicht von Anfang an so klar ist wie sie am Ende erscheinen muss. Und so lange, also jeden Tag,  muss die ‘vorauslaufende Einbildung’ vorbauen, was am Ende da stehen soll. Mit anderen Worten: das muss ja auch alles erst einmal geschrieben werden. Bis dahin kann sich der interessierte Leser und die interessierte Leserin mit ihrem Essay zufriedengeben, im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    26 Oktober 2014

    Zu ‘Das Geräusch des Werdens’: „Großartig wie eindrücklich die Autorin ihre Figurenwelten zum Leben erweckt“

    Ich habe einen Brief bekommen, wie die meisten Briefe heutzutage als Mail verkleidet, in dem Katja und Laura von aboutsomething auf ihre Besprechung meines ersten Romans hinweisen. Beide waren von Aléas Ich ja geradezu begeistert. Auch hier, so schrieben sie, seien sie „wieder sehr beeindruckt von Ihrer Erzählkunst. Mich fasziniert ihr Gefühl für menschliches Befinden, für verschiedene Persönlichkeiten und Ihre Fähigkeit Ihren Figuren diese Glaubhaftigkeit und große Charaktertiefe zu verleihen, die weder anstrengend noch bemüht wirkt. Obwohl Sie so viele Handlungsfäden und Menschenleben verknüpfen, rutschen Sie Ihnen beim Erzählen nie aus der Hand, alles fügt sich zusammen. … Ein ganz tolles Leseerlebnis.“ Der Brief schloss mit den Worten: „Wir wünschen Ihnen, dass diejenigen Leser sie entdecken, die ein Gefühl für Erzählkunst und besondere Bücher haben – abseits vom immer gleichen literaturbetrieberprobten Einerlei.“ Genau das wünsche ich mir ebenfalls.

    Hier findet sich der ganze Artikel.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    07 Oktober 2014

    „Schlecht schreiben können einige, schlecht lesen leider viele.“

    „Fast könnte man zudem sagen, unter dem Diktat des Gängigen verlieren die Menschen ihre Lesekompetenz. Wer hält heute noch einen Proust, einen Joyce, einen Foster Wallace durch? Gefällig muß es sein, realistisch muß es sein. Die eigene Lebenswelt muß es abbilden. Schlecht schreiben können einige, schlecht lesen leider viele.“ Das sind leider nicht meine Formulierungen. Immerhin decken sie sich mit meinen Ansichten. Die Zeit, da man allen Ernstes behaupten konnte, dass lesen bilde, ist definitiv vorüber. Lesen unterhält mitunter nicht einmal mehr, es lenkt lediglich noch ab. Und wenn es ganz schlecht läuft, weiß man nicht einmal mehr, wovon es ablenkt. Hierher kommt’s.

     

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    geschehn aus unablässigem Bestreben.
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    05 Oktober 2014

    Schneller

    Wenn man feststellt, dass etwas auch schneller gehen könnte, hat man erstaunlicherweise die Zeit nicht mehr, um es langsamer zu machen.

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    07 September 2014

    Weil die Euphorie kein Zustand ist, der lange auszuhalten ist

    Das neue Manuskript – eine Novelle: eine unerhörte Begebenheit – ist gerade abgeschlossen. Es hat also jenen Zustand erreicht, dass ich damit rundum zufrieden bin. Und das bin ich nur, wenn ich eine Steigerung gegenüber dem Vorgänger erkennen kann. Obwohl Manuskripte den Zustand der Abgeschlossenheit nie erreichen. Sie erreichen mehrfach jenen Punkt, an dem sie aufhören, sich zu bewegen. Dieses Manuskript wird sich erst wieder bewegen, wenn ein Lektor sich seiner annimmt und anfängt mich zu ärgern, herauszufordern, zu verbessern, zu belehren, zu loben und zu lobhudeln. Dieser Text sollte anfangs nur ein Zwischenspiel werden, hat sich dann aber über ein Jahr hingezogen – weil man dieses ‘abschließen’ in gewisser Weise nicht betreiben kann, man kann nur dasitzen, arbeiten und hoffen – und aus dem Interludium wurde eine halbe Oper.

    Der eine Notenberg ist gerade vom Tisch, da ist schon ist der nächste da. Und das mit ungeahnter Wucht: mein Europa-Projekt. Ich habe zwei Romane über Deutschland und Rumänien geschrieben, eine Novelle, in der der Raum ausgeklammert ist und die Zeit die Hauptrolle spielt und jetzt schreibe ich einen Roman über Europa. Ich kann mich vor Ideen kaum retten. Als wenn alles andere bloß Vorarbeiten gewesen wären, um mich in den Stand zu versetzen, mit dem neuen Stoff zu Rande zu kommen. Mich vielmehr über seinen Rand hinauszuwagen. Ich bin geradezu euphorisch. Das wird sich auch wieder legen. Es wird sich legen müssen, weil die Euphorie kein Zustand ist, der lange auszuhalten ist. Es werden wieder andere Zeiten kommen, wo ich nicht weiß, wohin ich mich wenden soll. Auch das gehört dazu: innehalten, rat- und richtungslos. Derzeit aber kann ich mich in jede Richtung wenden, es geht überall weiter.

    Und dennoch macht‘s auch Sorgen. Ich bin gar nicht mehr in der Lage, etwas anders zu tun, als zu schreiben. Mir beispielsweise einen Job zu suchen und etwas für meinen Lebensunterhalt zu tun, für meinen Lebenserhalt. Für die Altersvorsorge. Etwas Vernünftiges. Auch Kafka hat vernünftige Dinge getan. Und hat‘s dann drangegeben. Das Schreiben ist, einmal drin in diesem reißenden Fluss, ersäufend. Wie soll man sich um sein Alter Sorgen machen, wenn man nicht einmal weiß, ob man nicht schon morgen mausetot am Ufer liegt? Man schreibt immer auch gegen den Tod. Als könnte man mit Worten etwas aufhalten, zumindest verlangsamen. Man kann es das künstlerische Potential nennen, das einer und eine mit sich herumschleppt, ohne allerdings sein Gewicht zu bemerken. Meine Kreativität ist die Reaktion auf Umstände, denen ich begegne – die ich mir begegnend mache – und auf die ich nicht anders reagieren kann, als sie in irgendeiner Weise zu bearbeiten, zu verändern und ihnen etwas abzugewinnen – oder nicht abzugewinnen, sondern wegzunehmen, vielleicht ist das ominöse, sogenannte Poetische kein ‚Mehr‘, sondern ein ‚Weniger‘ -, das sie zur Literatur macht. Ich kann es letztlich nicht verstehen, mit welcher Entschlossenheit mein, sagen wir Unbewusstes sich über mich erhebt und mich zum Schreiben zwingt. Aber es ist befreiend. Ich weiß nicht, wovon es befreit. Ich will es auch gar nicht wissen. Aber dieses befreiende Element muss in der Kunst spürbar sein.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    14 August 2014

    “There is no gender identity behind the expressions of gender … Identity is performatively constituted by the very ‘expressions’ that are said to be its results“

    Mein zweiter Roman Aléas Ich beobachtet eine Person dabei, wie ihre Identität durch das „Ich“-sagen entsteht. Der Roman stellt dabei einige interessante philosophische Fragen – jedenfalls solche, die ich mit meinem beschränkten Autorenhorizöntchen interessant finde -, die in hoffentlich noch interessanteren Geschichten – Autorenhorizöntchen! – eingebettet sind. Diese Umstände sind hier wiederholt zur Sprache gekommen und ich kann und möchte das nicht erneut repetieren oder breittreten. Dazu existiert ein Blog, der ein Vielfaches der im Buch veröffentlichten Textmenge zur Verfügung stellt und in nicht wenigen Punkten darüber hinausgeht.

    Es hat zu einigen Irritationen geführt, die meisten davon zustimmend bis begeistert, dass ich die Bedingungen meines Schreibens – die Authentizität des Rumänischen und die Authentizität des Weiblichen – offenbar so gut simulieren / imitieren kann, dass es über viele Jahre unmöglich war, hinter diesen Vorhang zu schauen. Ich finde das gar nicht verwunderlich: Ich identifiziere mich lediglich mit dem, was ich tue und mit der, die das tut. Dies ist der Prozess der Selbstwerdung, den Aléas Ich beschreibt. Wer den Roman gelesen hat, der wird das auch bei sich selbst erkennen können, dass er sich immer auch selbst erfindet, um dann als Erfindende_r mit dem Erfundenen – qua Identifikation – zu einer Einheit zu verschmelzen. Was schon in frühestem Kindesalter zu beobachten ist: kleine Menschen verhalten sich wie Mädchen oder wie Jungen. Das ist nicht weiter verwunderlich: kleine Menschen schauen den großen Menschen nahezu alles ab, warum nicht auch das Verhalten, das ihrem Geschlecht gemäß ist? Und das deswegen als ein gemäßes Verhalten gilt, weil auch die großen Menschen sich das abgeschaut haben als sie noch kleiner waren. Dann haben sie es internalisiert und vergessen, dass es nur ein abgeschautes Verhalten war. Und so halten sie es für ihr ‚eigenes‘, für ihr ‚natürliches‘, von Östrogen oder Testosteron beeinflusstes Verhalten und Empfinden. Sie behaupten dann mitunter, dass das alles angeboren sei und ihr Verhalten eine Abbildung all jener Inschriften sei, die sich im Y- oder Y-Gen verstecke. Säuglinge kann alles erregen, Freud nennt sie „polymorph pervers“. Wenn der Trieb dann in der Pubertät ‚erwacht‘, hat das Individuum seine Rolle bereits so weit gelernt und internalisiert, dass ihn tatsächlich erregt, was ihn laut gesellschaftlicher Konvention und Kodex erregen soll.

    Es war kein Skandal, dass das eine Ich ein anderes Ich aus einem fremden Kulturkreis darstellen kann, der dem faktischen Autorensubjekt eigentlich fremd war. Das eine sehende Ich konnte ja auch ein anderes blindes Ich – in Das Geräusch des Werdens – darstellen. Beides war lediglich eine „irgendwie“ literarische Leistung und die zu erbringen ist ja auch der Job eines Autors. Von daher hat er es, wenn es gut gemacht war, eben ‚nur‘ gut gemacht. Ein Skandal hingegen ist es offenbar, wenn ein männliches Ich ein weibliches Ich nicht nur darstellen – also be- oder umschreiben – sondern geradezu verkörpern kann. Ich finde das nicht skandalös. Und es war auch eigentlich keiner! Es haben hier zwei oder drei Leute versucht, daraus einen Skandal zu machen und Profit zu schlagen. Keine seriöse Rezension hat, soweit ich mich erinnere, darauf Bezug genommen.

    Meiner Meinung nach gibt es keinen ‚Geschlechtskern‘, es gibt nur den bei manchen ausgeprägt verzweifelten Versuch, das zu sein, was man – er oder sie – als Vertreter ‚seines‘ Geschlechts sein muss. Ich unterstelle, dass wir Individuen sind und die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht lediglich simulieren: es ist das Annehmen einer ‘Rolle’ oder eine ‘Idee’; vielleicht  könnte man sogar zum Begriff character greifen. Allerdings muss ich den Einwand gelten lassen, dass wir die ‚Rolle‘, in der wir faktisch existieren, nicht wählen können. Nicht in einer ersten Dimension. Wir können nur in einer zweiten Dimension wählen, sie zu wählen oder sie nicht zu wählen (hier darf man Sören Kierkegaard heraushören, den ich tatsächlich ausgiebig studiert habe, der allerdings nicht gerade als Feminist durchgehen kann). Es gibt immer einen Urgrund Realität, der sich tatsächlich nicht weg- und schon gar nicht hinreden lässt.

    Ich habe Kenntnis von einer Dissertation über Hochstapeleien, in denen einer von uns beiden – das erfindende oder das erfundene Ich – einsortiert werden wird. Wobei der Begriff des Hochstaplers hier nicht in seiner pejorativen Variante gemeint ist. Er wird dekonstruiert und in einer anderen, sagen wir ‚Nebenbedeutung‘ erneut aufgebaut: „als eine Praxis der Selbstermächtigung und Selbst-Bildung“. In diesem Zusammenhang kommt es offenbar zu einem Dialog zwischen Judith Butler – von der das diesem Eintrag seinen Titel gebende Zitat stammt – und mir. Hier kann man sich das Abstract von Verena Doerfler anschauen.

    Auch ich benutze den Begriff der Simulation, wenn ich sage, dass wir unsere Geschlechtszugehörigkeit simulieren, nicht pejorativ. Dazu ein kleiner Auszug aus meinem derzeit noch unveröffentlichten Essay über Aléas Ich: „Anders als die Repräsentation – die im nachahmenden Abbild das verlorene Urbild zu fassen versucht, und bei Platon vor allem die darstellenden Künstler betrifft – kann die Simulation ein neues Urbild kreieren, indem sie formuliert, was nie gewesen ist. In der Schrift wird das Beschriebene nicht kopiert, sondern kreiert. Was dabei entsteht, sind keine Abbilder, sondern, wie es bei Platon heißt »Trugbilder aus Worten«. Repräsentieren bedeutet, die wahre, hinter der Erscheinung liegende Welt als eine verlorene aufzugeben, simulieren, die eigens erschaffene, falsche Welt als die wahre vorzuspiegeln: »Während Affirmieren nur bejaht, was ist, und Negieren nur verneint, was nicht ist, heißt simulieren, was nicht ist, zu bejahen, und dissimulieren, was ist, zu verneinen« (Friedrich. Kittler, »Fiktion und Simulation«; in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Hg. K. Barck, Leipzig, Reclam, 1990, S. 200). Simulation ist ein gewollter Irrtum, Verstellung, Travestie, ein Enigma, Spiegel-, Traum- oder Trugbild, in dem das Verhältnis von Realem und Imaginärem, von Sein und Schein als einfache binäre Opposition in Frage gestellt wird. Die Simulation ist, anders als das Abbild, das nur wiederholen kann, offen für die Variation, für Vermutungen, Ahnungen und Befürchtungen. Sie ist ein Abbild ohne Urbild, eine Übersetzung ohne Original, wo Authentizität auf Artifizialität beruht. »Das Trugbild umfaßt große Dimensionen, Tiefen und Distanzen, die sich der Verfügung durch den Beobachter entziehen. Und weil sie sich entziehen, verspürt er einen Ähnlichkeitsdruck. Das Trugbild schließt den differentiellen Gesichtspunkt in sich ein; der Beobachter bildet einen Teil des Trugbildes selbst, das sich mit seinem Gesichtspunkt verändert und entstellt. Kurz, es gibt im Trugbild ein Verrückt-werden, ein Unbegrenzt-werden … ein stets Anders-Werden, ein subversives Werden der Tiefen, das dem Gleichförmigen, der Grenze demselben oder dem Ähnlichen auszuweichen vermag: stets zugleich mehr oder weniger, doch niemals gleichmäßig«. (Gilles Deleuze, »Platon und das Trugbild«, in: Logik des Sinns, Frankfurt, Suhrkamp, 1993, S. 316)“

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
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    01 August 2014

    Der gestiegene Erlebnisdruck

    Ich war im Urlaub. Außer Erinnerungen habe ich nichts mitgebracht, keine Bilder, keine Andenken, keine Postkarten. Je mehr ich in den Sümpfen der Schriftstellerei versinke, desto weniger bedeuten mir Gegenstände. Es waren nur einige Tage, zu kurz, um richtig weg gewesen zu sein. Zu kurz, um sich zu erholen. Lang genug aber, um zurückzukehren und sich zu erinnern. Lang genug, um davon zu erzählen.

    Etwa von einem geradezu kafkaesken Tag in Bozen. Ein Freund und ich, wir sind um des Radfahrens willen in Südtirol gewesen. An dem einzigen Regentag haben wir die Räder stehen lassen und sind mit dem Auto von Meran nach Bozen gefahren. Meran und Bozen unterscheiden sich dahingehend, dass die eine Stadt in den Bergen liegt, in der anderen liegen die Berge in der Stadt. Bereits bei der Einfahrt, also der Einfahrt in den ersten Tunnel, wurde vor Überfüllung des Zentrums gewarnt. Es wurde nicht gewarnt, es wurde konstatiert. Immerhin regnete es im Tunnel nicht. Bei der Ausfahrt, der erneuten Einfahrt in den Regen nämlich, wurde die Autoschlange von einem Polizisten geteilt. Die eine Hälfte wurde in ein am Ausgang des Tunnels befindliches Parkhaus geleitet, die andere Hälfte durfte in die Stadt fahren. Zu letzteren gehörten auch wir, die wir uns da noch zu den Glücklichen zählten. Von dem Moment an wurden wir in ein automatisches Parksystem in einer ersten und einer zweiten Ebene eingereiht. Wir wurden mit rot und grün blinkenden Schildern am Straßenrand begrüßt, elektronische Vertreter von Parkhäusern in der Nähe des eigenen Standtortes, auf denen die alle paar Sekunden die wechselnde Anzahl der freien Parkplätze angezeigt wird. Es gab keinen fließenden Verkehr, es gab nur stockend, sich hupend vorwärts bewegende Autoschlagen, die ineinander übergingen. Es gab keine einzelnen Autos, alles wurde, von ununterbrochenem Regen verwaschen, zu einer einzigen Autoschlange, die ihre unzähligen Köpfe in alle Richtungen streckte. Man entscheidet sich für eines der vielen Parkhäuser und wenn man dort angelangt ist, steht man in einer anderen Schlange, weil in dem Parkhaus kein Parkplatz frei ist. Man steht da in der Schlange und es regnet und während man da steht und die Zeit wie Regentropfen an den Seitenfenstern verrinnt, ahnt man, dass auch keiner frei werden wird. Dann fährt man wieder weg und reiht sich erneut in die Schlange auf der Straße ein, um einem anderen grün blinkenden Schild zu folgen, auf dem Parkplätze als verfügbar angezeigt werden, die, sowie man dort angelangt sind, schon wieder besetzt sind. Oder die nie frei waren. Wir haben uns als nicht sonderlich belastbar erwiesen, recht schnell auf alle weiteren Eindrücke von Bozen verzichtet und sind in Richtung Autobahn zurückgefahren, also gekrochen. Und dann sprang vor unseren Augen plötzlich ein Schild um und zeigte freie Parkplätze in dem Parkhaus an, dessen Einfahrt unmittelbar vor uns lag und das genau das Parkhaus war, an dem der Polizist uns bei der Einfahrt in die Stadt vorübergelotst hatte. Erleichtert zogen wir ein Ticket, wir zählten uns erneut zu den Glücklichen.

    Aber auch hier war kein Parkplatz zu finden, dafür jede Menge Autos, die die besetzten Plätze umkreisten, auf der Suche nach etwas, das es ganz offensichtlich nicht gab. Und als wir dann die Angelegenheit endgültig an den Nagel hängen und zurück in unser Dorf in der Nähe von Meran fahren wollten, mussten wir einen kleinen Umweg über den Kassenautomaten machen, der die in Anspruch genommene Leistung abkassierte. Und da erst haben wir dann verstanden, dass tatsächlich in all diesen Autos und unter all diesen Regenschirmen da draußen Menschen waren und dass das Bozener Parksystem, nicht etwa eine Fehlfunktion hat, das uns irrtümlicherweise in die Irre geleitet hatte, sondern voll funktionsfähig ist. Glück ist in diesem System nicht vorgesehen. Jedenfalls nicht das reine Glück, höchstens das abgeleitete, zufällige, bei dem es ausreicht, sich für glücklich zu halten, um glücklich zu sein. Das billige Glück.

    Es gab ein Gespräch mit unserer Vermieterin, die über das veränderte Urlaubsverhalten der Menschen klagte. Aber sie klagte auch über ihre Kinder und die Welt insgesamt. Früher sagte sie, sei man für drei Wochen gekommen, heute bleibt schon lang, wer nicht nach dem Wochenende abreise. Natürlich hat sich das Urlaubsverhalten verändert, unser gesamtes Arbeitsleben hat sich in der vergangenen Dekade geändert. Undenkbar, dass, wer sich von dieser Arbeit erholt, es auf althergebrachte Weise tut. Man muss sich auf eine neue Weise erholen, die der veränderte Arbeits- und Lebenswelt entspricht. Und wir verhalten uns im Urlaub nicht anders als im alltäglichen Leben. Wir brauchen permanent neue Erlebnisse und der Erlebnisdruck ist enorm gestiegen. Wir hetzten von Ort zu Ort auf der Suche nach dem Neuem, dem Aufregendem. Auch wenn wir eigentlich die Ruhe finden wollen, können wir sie nicht ertragen, weil sie in Abwesenheit von Ereignissen stattfindet und wir diesen Zustand als Leere empfinden. Die Leute sitzen in Meran, sie finden‘s nett, und überlegen, ob sie am nächsten Tag nicht doch lieber nach Verona, nach Mailand, Venedig oder an den Gardasee fahren. Weils woanders vielleicht besser. Einen Tag später sitzen sie dann anderswo und denken sich, dass es nett ist. Aber nicht das, was sie von den Bildern und Geschichten über den Gardasee, Verona oder Venedig kennen. Eigentlich kennen sie schon alles, nicht in der realen, selbst erlebten Version, sondern in der, die von der eigenen differiert und von der sie gar nicht sagen können, woher sie sie haben.

    Wir kennen heute alles ohne irgendetwas zu kennen. Die Ruhe, die wir suchen, finden wir nicht mehr. Wir finden nicht einmal mehr einen Parkplatz, wo wir von der Suche nach ihm ausruhen können. Vielleicht ist die Differenz zwischen Suche und Fund auch so groß geworden, dass wir den Zusammenhang gar nicht mehr begreifen. Das nicht finden können eines Parkplatzes hatte möglicherweise mit der realen Parkplatzsituation in der Stadt Bozen gar nichts zu tun.

    Wenn ich jetzt Lust hätte in die allgemeine Klage einzustimmen, dass das Lesen seinen Stellenwert verloren hat: weil es kein Erlebnis mehr bereit hält und es uns, die wir immer hierhin und dahin klicken und die Orte wechseln, geradezu unerträglich ist, stundenlang an derselben Stelle zu hocken und bloß in ein Buch zu schauen. Aber ich habe keine Lust zu dieser Klage. Zum Glück.  Zum billigen Glück! (Zum billigen Glück – das wäre doch ein schöner Romantitel.)

    Mein eigenes Schreiben ist immer präsent. Entweder der letzte, beinahe abgeschlossene Text oder der kommende, sich andeutende. Und das empfinde ich, auch wenn diese Texte einen kaum je nachlassenden Druck auf mich ausüben, als das Gegenteil dieses gestiegenen Erlebnisdrucks. Ich sitze Monate und Jahre an denselben Worten und Vorstellungen und kann mich auch nicht hetzen lassen. Ich kann es nur aussitzen. Im Schriftstellersumpf ist jede verfrühte Bewegung fatal.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    04 Juli 2014

    Ich würde es gern vermeiden, etwas zum Bachmannwettbewerb zu schreiben, weil darüber viel zu viel geschrieben wird

     

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    25 Juni 2014

    „ … wie ein versierter Übersetzer zwar dubitativ, weil anspruchsvoll, und dennoch – paradox genug! – sicheren Schrittes verfahren soll …“

    Meine Beschreibung der Tage in Bukarest und des dortigen Übersetzerkolloquiums ist ja bereits online. Jetzt ist auch die von Professor Horatio G. Decuble allgemein zugänglich, die mit der einer sehr treffenden Beschreibung aufwartet, die ich so gar nicht hätte formulieren können, dass  Aléas Ich eine „Kombinatorik von historiographischer Metafiktion und psychologischem Hyperrealismus“ ist.

    Hier also der Bericht mit vielen Fotos von den acht ÜbersetzerInnen, Alexandru Al. Şahighian und Gabriel H. Decuble, von dem nicht nur der Text, sondern  auch die Fotos stammen. Wie allerdings, fragt man sich, können die Fotos von Horatio Decuble stammen, wenn er selbst auf den Bildern zu sehen ist? Da stimmt doch was nicht! Das sind wahrscheinlich die Rätsel der Metafiktion. Oder die des Lebens: Denn es ist doch kaum ein Tag dabei, wo man nicht denkt, dass da irgendwas nicht stimmt und es wieder mal nicht so läuft wie es laufen könnte. Möglicherweise aber ist das ein untrügliches Kennzeichen des Lebens, dass es nicht so läuft wie es laufen könnte.  Und wenn es dann endlich doch so läuft: dann weiß man, dass man tot ist.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    15 Juni 2014

    Encyclopädia Britannica: “One of the strangest novels of 2013 was ‘Aléas Ich’ … ”

    Von den etwa 70.000 belletristischen Neuerscheinungen pro Jahr in Deutschland kommen weniger als ein Dutzend in die Übersicht der Encyclopädia Britannica. Das sind in diesem Jahr: Daniel Kehlmann mit F, Sven Regner mit Magical Mystery, Helene Hegemann mit Jage zwei Tiger, Uwe Timm mit Vogelweide, Terézia Mora mit Das Ungeheuer, Reinhard Jirgl mit Nichts von euch auf Erden, Thomas Glavinic mit Das grössere Wunder, Clemens Meyer mit Im Stein. Und Aléa Torik mit Aléas Ich: One of the strangest novels of 2013 was Aléas Ich … ”, hier oder hier.

    Sehe ich richtig, dass mein Buch das einzige der genannten ist, das über die Rezensionen hinaus nahezu keinerlei Aufmerksamkeit errungen hat? Obwohl keins, wenn ich richtig sehe, der hier genannten Bücher eine solch Euphorie hervorgerufen hat, wie das meine – Jirgl und Meyer muss ich vielleicht ausnehmen – . Meyer muss ich da rausnehmen: gerade der hat ja richtige Groupies. Man wundert sich aber dennoch. Man wundert sich nicht nur, man fragt sich, woran das liegt und man fragt sich nicht nur, woran das liegt, man ärgert sich auch. Und man ärgert sich nicht nur.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    04 Juni 2014

    Kennen Sie Bukarest?

    Ich hatte angekündigt, dass ich in der letzten Maiwoche in Bukarest sein werde. Diese Woche ist nun vorüber. Ich war dort und bin nun wieder hier. Möglicherweise habe ich den Aufenthalt in Rumänien auch erfunden, um mal wieder ein bisschen Stimmung in die Bude zu bringen. Oder weil ich Literatur mache und das erfinden zu meinem Job gehört. Außerdem bin ich nicht bereit, nur das als Literatur zu verstehen, was zwischen zwei Buchdeckel passt. Wie man die Irren – Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft -  gerne in bestimmte Areale aussperrt, damit man nie auf den Gedanken kommen muss, dass man selbst kaum weniger irre ist, sperrt man die Literatur zwischen die Buchdeckel. Dort können sich dann jene austoben, die sich für Napoleon Bonaparte oder Aléa Torik halten. Diese andere, die verrückte Welt – und alles, was über die reine Abbildung hinausgeht, ist verrückt – will man jederzeit wieder zuklappen können.

    Angenommen also ich war in Bukarest, auf jene verrückte Weise, die nicht die vorhandene Wirklichkeit widerspiegelt, sondern sich eine eigene erschafft; die nicht enthüllt, was da ist, sondern verhüllt, was nicht da ist. Nehmen wir an, ich sei mit dem Flugzeug geflogen. Was ich selbstverständlich nie tun würde: „Ich kann kein Flugzeug betreten, ohne in Panik zu geraten. Außerdem habe ich eine überaus lebhafte Fantasie und bei solchen Menschen ist es einerlei, ob sie wirklich abstürzen oder nur in ihrer Einbildung: Tot sind sie in jedem Fall. Sie sind nach einem eingebildeten Absturz toter, als sie es nach einem wirklichen je sein könnten.“ (Aléas Ich, Seite 14). Nehmen wir dennoch einen Start in Berlin Tegel an, einen ereignislosen Flug und das langsame Sinken des Flugzeugs im Landeanflug, ein lautes Geräusch, mit dem das Fahrwerk ausklappt. Und mit dem Fahrwerk klappt auch die Landebahn auf. Es klappen, sowie ich das Flugzeug verlasse, die Flughafengebäude auf und während der Fahrt in die Innenstadt klappt die Straße auf, links und rechts klappen die Gebäude auf, es klappt die vor mir liegende Zeit auf.

    Am ersten Abend wird ein Essen aufgeklappt, mit Beate Köhler, der Leiterin des Goetheinstituts in Bukarest, Prof. Horatio Decuble, dem Leiter der Germanistik, und Alexandru Sahigian in Beca’s Kitchen. Ich erzähle ein wenig von meiner Lebensgeschichte oder von dem, was ich dafür halte und die anderen finden es zumindest nicht unwahrscheinlich. Wir sprechen über Herta Müller und Mircea Cărtărescu – zwei sehr viel unwahrscheinlichere Lebensgeschichten als meine! – und über diese beiden, die ja durchaus als Antipoden bezeichnet werden können, wird, in wechselnden Konstellationen, noch häufiger gesprochen. Wir sprechen über den Literaturbetrieb in Rumänien und das Leseverhalten junger Leute. Wir vier sitzen uns schräg gegenüber, was man im Rumänischen nicht sagen kann, weil man sich einfach nur gegenübersitzt, ob schräg oder gerade spielt keine Rolle. Und das ist auch nicht falsch, denn wir sitzen uns tatsächlich nicht nur schräg, wir sitzen uns auch gerade gegenüber.

    Am darauffolgenden Tag werde ich von Marina Neacşu abgeholt, die von diesem Moment an beinahe alle meine Schritte begleitet. Wir fahren zu Radio România, wo ein Interview mit Matei Martin, Adela Greceanu und Alexander Sterescu stattfindet. Eine halbstündige Livesendung über Aléa Torik, Aléas Ich und die Ereignisse innerhalb und außerhalb der Buchdeckel. Ich habe vorher keine Zeit, nervös und hinterher keine Zeit, unzufrieden zu sein. Denn es geht gleich weiter zur Facultatii de Limbi şi Literaturi Străine. Auch wenn ich zum ersten Mal hier bin, ist es doch die Rückkehr an jenen Ort, an dem Aléa Torik studiert hat. Und wie ich so mittendrin bin in meinem alten Leben, gehe ich gleich auf die falsche Toilette. Jedenfalls halte ich sie für die falsche, ich treffe auf der Herrentoilette eine Frau. Wer Aléas Ich gelesen hat, weiß, welche Schwierigkeiten Aléa mit der Differenzierung von männlich und weiblich hat. Dann erinnere ich mich – oder man erklärt es mir -, dass an Fakultäten mit überwiegend weiblichen Studentinnen die Frauen die Toiletten der Männer mitbenutzen.

    Ich besitze einen neuen Personalausweis mit biometrischem Foto und fälschungssicheren Hologrammen: dabei käme ich nie im Leben auf die Idee, meine Identität zu fälschen! Auf der Vorderseite dieses Dokumentes steht mein männlicher, auf der Rückseite mein weiblicher Name. Allerdings findet sich keine Angabe mehr zum Geschlecht. Früher musste man zur Geschlechterbestimmung den Neugeborenen nur zwischen die Beine schauen und da man männlich oder weiblich sein musste, wurde das notfalls mit operativer Hilfe festgelegt: weil Eindeutigkeit ein erheblicher Wert war. Heute ist diese Zuordnung nicht mehr so einfach, weil man die inneren Anlagen der Geschlechtsorgane nicht von außen bestimmen kann. Und weil das Geschlecht, vielmehr die Zugehörigkeit dazu, ein konstruktiver Akt ist, den jeder im Laufe seines Lebens leisten muss. Ein jeder muss erkennen, welchem Geschlecht er sich zugehörig und von welchem er sich angezogen fühlt. Das ist eine große Freiheit und wie jede Freiheit mutet sie dem Einzelnen eine Auseinandersetzung mit dem Thema zu. Freiheit ist immer eine Zumutung.

    Raus aus der Toilette, rein in die Österreich-Bibliothek! Dort findet das Übersetzerkolloquium statt. In den vorhergehenden Tagen wurde, in zwei Gruppen unterteilt und unter Anleitung der beiden versierten Übersetzer Horatio G. Decuble und Alexandru Al. Şahighian je ein Kapitel von Aléas Ich und ein drittes, wenn ich richtig verstanden habe, gemeinsam übersetzt. Nun wollen acht attraktive junge Frauen mich mit den Ergebnissen ihrer Arbeit konfrontieren. Und sie wollen natürlich auch etwas über mich und Aléa und unseren fälschungssicheren Personalausweis wissen und stellen sehr gescheite Fragen dazu. Nicht alles, was in dem Roman steht, habe ich bedacht und nicht alles, was ich bedacht habe, habe ich auch so gemeint. Wird der Autor mit einer Übersetzung seines Textes konfrontiert, muss er offenbar lernen, dass auch die nicht bedachten und nicht gemeinten Zusammenhänge zur Sprache kommen. Weil sie, wenn sie übersetzt werden, bedacht werden müssen. Die Herrschaft des Autors über seinen Text ist zu Ende, wenn die Herrschaft des Übersetzers beginnt.

    Ich lese die Stelle mit dem Wolkenfragment, in dem der latente Verfolgungswahn Aléas deutlich hervortritt und Horatio Decuble fragt nach der Aktualität des Themas Securitate. Ein Vierteljahrhundert, eine Generation nach dem Untergang des Systems sitzt in dem Seminar keine Studentin, die das noch am eigenen Leib erlebt hat. Hat das noch irgendeine Relevanz? Ich entgegne, dass auch wir auch heute Verfolgungsstrukturen entwickeln, wir werden von anderen verfolgt und wir verfolgen sie ebenfalls: im Internet. Wir nennen es nur nicht mehr Verfolgung. Mit WhatsApp wissen wir jederzeit, wo die anderen sind und was sie da tun: denn sie hinterlassen überall Spuren. Wie wir. Wir alle sind in ein Gewebe verstrickt, dem wir uns gar nicht mehr entziehen können, weil es längst die Herrschaft über uns hat. Wir schauen ja nicht freiwillig alle paar Sekunden auf das Display unserer smartphones! Sondern die anderen, die Spuren auf unserem Display hinterlassen, zwingen uns dazu. Damit fällt ein Stückweit die Unterscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit, Täter und Opfer. Im Netz sind wir immer beides zugleich. Der Unterschied allerdings, wird mir berechtigterweise entgegengehalten, sei die Angst. Zur Zeit des Geheimdienstes habe man Angst haben müssen, heute sei man, wenn man in Netz unterwegs ist, angstfrei. Was ich wiederum für ein Problem halte.

    Wir sprechen über konkrete Übersetzungsprobleme, etwa bei dem Kapitel über den Flohmarkt am Mauerpark: „Die Deutschen sind in der Regel sehr darauf bedacht, einen körperlichen Abstand zueinander einzuhalten, der idealerweise genau einen Meter beträgt. Sie rempeln höchstens aus Protest. Angehörige anderer Ethnien hingegen, insbesondere Süd- und Osteuropäer rempeln aus Vergnügen. Es sind vor allem Fremde, Ausländer und Touristen, die auf diesem internationalen Flohmarkt unterwegs sind“ (Aléas Ich, Seite 198). Die Frage ist, ob es sich bei den Ausländern und Touristen um nähere Bestimmungen von Fremden handelt oder ob es eine Aufzählung dreier Gruppen ist. Ich kann die Frage nicht konsistent beantworten. Am darauffolgenden Tag, bei der öffentlichen Lesung und Diskussion bei der ein großer Teil des Fachbereiches anwesend ist, werden Dorian, Damian, Dionisie und Desideriu, die vier rumänischen Surfer zum Problem, vielmehr ihr Waschbrettbauch, der von der Abdominalmuskulatur gebildet wird. Den Begriff gibt es nicht. Ein „sehr muskulöser Mann“ trifft nicht das Gemeinte. Auch die Möglichkeit, einen stehenden Begriff wie etwa eine „karierte Tischdecke“ zu benutzen und deren Bedeutungsspielraum damit zu erweitern, ist wahrscheinlich nicht zielführend. Der englische Begriff „sixpack“ trifft es wohl am besten.

    Es wird nach der Art meiner Recherchen gefragt. Eines der übersetzten Kapitel ist in Bukarest situiert und man sagt mir hier wie auch schon bei der Lesung in Sibiu – wo ich eines der Kapitel aus Siebenbürgen gelesen habe -, dass die Texte außerordentlich authentisch seien und ich mit den Beschreibungen nicht nur die Stadt, sondern auch das Gefühl der jungen Leute für sie getroffen habe. Man will wissen, ob ich nicht doch wenigstens mal eine rumänische Freundin hatte, was ich bedauerlicherweise verneinen muss. In diesem Zusammenhang werde ich gefragt, ob es in Deutschland das Bild der schönen Rumänin gebe und ich antworte, dass es das meines Wissens durchaus gebe und ich, in gewisser Weise jedenfalls, auch deren Verkörperung sei.  Ich finde, ohne, dass ich mir je Rechenschaft darüber abgelegt hätte, dass Osteuropa für ein Gut steht, das in Westeuropa vielleicht schon verlorengegangen ist: eine Form der Unmittelbarkeit, die man als Natürlichkeit bezeichnet. Gewagte These.

    Eine verlorengegangene Natürlichkeit, die man seltsamerweise wieder zurückzuholen versucht, indem man etwa die Literatur zur Authentizität verpflichtet. Mit diesem Begriff habe ich meine Schwierigkeiten. Ich lege zwar den größten Wert darauf, dass mein Roman authentisch ist, aber nur, weil ich damit diesen Begriff ad absurdum führen kann. Es hat zu Beginn dieses Jahres in Deutschland eine Diskussion in den Feuilletons gegeben, warum die moderne Literatur so wenig „welthaltig“ ist und im Grunde immer wieder dasselbe erzählt. Ich meine, der Grund dafür ist einfach zu erkennen: weil man von den Autoren authentische Literatur erwartet und weil wir Schriftsteller, wenn wir dem nachkommen, Erfahrungen nicht länger in der Erfindung verdichten müssen, sondern in der bloßen Entsprechung der Realität entleeren. Aber auch Kafka war – seinem Text „Die Verwandlung“ zum Trotz – nie ein riesiges Insekt, wie Bersarin einmal formuliert hat. Würde man seine Texte mit Authentizität konfrontieren – oder mit Insektiziden behandeln – bliebe vom größten Schriftsteller Europas nicht viel übrig: Kafka würde wie eine tote Kakerlake aus dem Bücherregal fallen.

    Einmal geht es um das Bild der Vögel: Aléa trifft in den ersten vier Jahren in Bukarest jeweils einen Mann mit einem Vogel auf der Schulter, ein Pinguin, ein Papagei, ein Pfau und ein Pelikan. Das ist ein in dem Roman sehr weit verzweigtes Bild, an dem ein ganzes Bedeutungsfeld sichtbar wird. Alle zusammengehörigen Gruppen – meistens Personen, also Charaktere, manchmal auch Tiere und Ortschaften – werden aus vier Vertretern gebildet, deren Namen alle mit demselben Buchstaben beginnen. Ich habe in die Runde der Frauen gefragt, ob sie wissen, was es bedeutet, wenn man sagt, jemand habe einen Vogel. Aléa ist einsam, sie ist nach Deutschland gekommen, wo vielleicht nicht alles so gelaufen ist, wie sie sich das erhofft hatte, sie sehnt sich nach einem Mann, nach Liebe, Geborgenheit, Zärtlichkeit und Sex: ich habe also gefragt, ob sie wissen, welche Bedeutung das Wort vögeln hat. Flugzeuge nennt man auch Vögel. Aléa hat Angst vorm Fliegen, eine Angst, die entstanden ist, da sie als 6-jährige die Flucht von Nicolae und Elena Ceaușescu mit dem Hubschrauber vom Dach des Präsidentengebäudes gesehen hat und wenige Tage später deren Erschießung durch das Militär. Im kindlichen Vorstellungsvermögen verbinden sich diese beiden Ereignisse zu einem. Im Gespräch mit ihrem Doktorvater rät dieser seiner Doktorandin, sich mit der eigenen Angst zu konfrontieren und das Unförmige so in eine Form zu bringen. Und das tut sie, indem sie in ihrem Roman alle ihre Exfreunde mit dem Flugzeug abstürzen lässt und sich am Ende selbst in ein solches Flugzeug setzt, von dem vermutet werden kann, dass es ebenfalls abstürzt. Angst und Lust treffen sich in diesem Bedeutungsfeld. In dem Roman taucht ein Spaßvogel auf; auch die Lieblingsgestalt ihrer Kindheit, der Pinguin Apollodor, ist ein Vogel. Amer Amira Al Amour ist Aléas und Olgas Papagei, der nie gekauft, nie gefüttert und der, auch wenn er vier Sprachen lernen sollte, nie unterrichtet wird und der am Ende bloß die Geräusche von Flugzeugabstürzen simulieren kann. Und schließlich ist auch ihr Professor ein Vogel, Joseph Vogl nämlich.

    Anhand einer Frage – ich erinnere mich an Anna im gepunkteten Kleid- nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fantasie, bemühe ich das diesem Buch vorangestellte Zitat Cărtărescus: „Der postmoderne Mensch glaubt an keine andere Wirklichkeit als die von ihm selbst erschaffene. […] Phantasie und ›Wirklichkeit‹ befinden sich auf ein und derselben Ebene und überschreiben einander unaufhörlich.“ Die klassische Philosophie postuliert einen Ursprung, ein Original, ein Urbild, das – wenn auch als nicht mehr Vorhandenes – im Abbild noch immer präsent ist. Setzt man aber ein synchrones Verhältnis von Abbild und Urbild, geht das eine nicht mehr dem anderen vorher, beide befinden sich auf derselben Ebene. Ich versuche das mit dem Problem des Anfangs von Aléas Ich zu erklären. Der tatsächliche Anfang lautet so: »Es ist September, der frühe Morgen des 11. September 2011, und ich sitze im Lesesaal der Zentralbibliothek der Humboldt-Universität, dem Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, es ist der frühe Morgen eines strahlend schönen Septembertages, den ich durch die Oberlichter sehen kann, ich sitze vor dem aufgeklappten Laptop und schaue auf den Bildschirm, auf die erste Seite meines Manuskripts;« (AI, Seite 9). In einem späteren Kapitel sagt Aléa allerdings, dass der Anfang ihres Romans Aléas Ich das Gespräch mit ihrem Professor über ihren Roman sei, das man bis dahin für ein authentisches Ereignis ihres Lebens hatte halten müssen: »Was ist das Wirkliche an der Wirklichkeit?«, fragte Joseph Vogl. Ich saß in der Sprechstunde meines Professors. Ich hatte ihm das erste Kapitel meines Romans und ein Exposé gegeben und ihn um einen Rat gebeten – vielmehr um dieses Gespräch, und mir dann wohl einen Rat erhofft. Er aber stellte eine Frage. Vielleicht erkannte er nicht, dass ich einen Rat erhofft hatte, oder ich erkannte nicht, dass diese Frage ein Rat war« (AI, Seite 20).  Wenn dies aber das erste Kapitel ihres Romans ist, muss man sich fragen, welches Kapitel Aléa Joseph Vogl dann zur Lektüre gegeben hat. Das müsste dann ein Kapitel sein, das es gar nicht gibt. Oder das sich selbst darstellt. Und vor allem: wo ist es? Und zwischen diesen beiden Kapiteln liegt der erste Eintrag in dem Blog  der überschrieben wird mit Anfang, vor allem Anfang. Der Relativsatz kann als nähere Bestimmung des Substantivs gelesen werden und bedeutet dann: es geht vor allem um den Anfang. Er kann aber auch als temporale Bestimmung gelesen werden: jedem Anfang geht noch etwas vorher. Dieses Blog ist der eigentliche Anfang Aléa Toriks, einer Figur oder Person – nutzen wir besser den englischen Begriff character – die es nur im Netz gibt. Diese Ebenen von Wirklichkeit und Fiktion überlagern und überschreiben sich in Aléas Ich ununterbrochen. Es ist nicht die Frage, ob Huhn oder Hühnerei zuerst da waren, Gott, der den Menschen als sein Ebenbild erschafft, oder der Mensch, der diesen erschaffenden Gott erschafft, um sich seine Existenz zu erklären. Das erste ist kein Gottesbeweis und das letzte keine Widerlegung Gottes. Wir Postmodernen würden sagen, beide sind zuerst da gewesen: „und überschreiben einander unaufhörlich“. Es ist nicht die Frage, ob Autor oder Figur zuerst da waren, ob der Autor die Wahrheit über seine Figur ist oder umgekehrt. Es ist die Frage, wie sie sich zueinander verhalten. Und damit wird ein ästhetischer Umstand beschrieben, kein chronologischer.

    Der erste Abend steht ganz im Zeichen der europäischen Literaturnacht, die zum dritten Mal von zwölf europäischen Kulturinstituten organisiert wird. Der Ort liegt ein wenig abseits der eigentlichen Wege und weil das Format der öffentlichen Lesung in Rumänien nicht so bekannt ist, sind die Räume nicht so reich besucht wie wir uns das erhofft haben. Das anwesende Publikum ist allerdings außerordentlich angetan von Aléa Torik. Ein, wie ich schon sagte, ästhetisches Phänomen, das mit Leben und mit Projektionen gefüllt werden muss. Und da ich in den vergangenen Jahren auf diesem Gebiet bereits einiges geleistet habe, gönnt das Goetheinstitut mir an diesem Abend eine Pause und hat eine Schauspielerin engagiert. Das zentrale Bukarest Kapitel, zuvor von den Studentinnen übersetzt, wird im Stundentakt von Michaela Popa  vorgetragen, die das ganz ausgezeichnet macht. Da das Kapitel aus der Ichperspektive geschrieben ist, ist das Bild Aléas an diesem Abend sicher zu einem großen Teil ihr zu verdanken.

    Am letzten Tag findet ein Interview mit Bianca Filip für Radio Bukarest statt, das für die deutschsprachige Minderheit in Rumänien sendet. Bianca und Alexandru begleiten mich zwei Tage lang auf meinen Wegen in Bukarest. Ich begleite sie, vielmehr machen wir die Wege, die sie um meinetwillen machen, zusammen. Bei den beiden habe ich das gute Gefühl, Freunde gefunden zu haben. Sie laden mich ein, bei nächster Gelegenheit wiederzukommen. Und das werde ich auch tun. Wenn das Stückchen Literatur beendet ist, an dem ich derzeit arbeite, in diesen Tagen und Wochen, werde ich ein ausführliches Exposé zu dem darauffolgenden Roman schreiben und mich um Förderungen bemühen. Das ist ein längeres Projekt und Bukarest wird, neben einigen anderen Städten, eine gewichtige Rolle spielen. Voraussichtlich jedenfalls, dazu muss ich irgendeine Förderung finden. Mit diesem Text will ich einen entscheidenden Schritt in Richtung europäischer Literatur gehen. Das Goetheinstitut hat sich für mich als ein Glücksgriff erwiesen, Marina Neacşu und Beate Köhler sind außerordentlich engagiert. Am diesem Abend sitze ich noch einmal mit Prof. Decuble zusammen, in der Donau Lounge, und wir reden über europäische Literatur in Bukarest und hoffentlich kommt da noch etwas hinterher, mindestens ein gemeinsamer Text. Und es kommen auch noch ein, zwei Interviews auf die ich bei Gelegenheit verweisen werde.

    Eine der Studentinnen hat offenbar Interesse, das gesamte Buch zu übersetzen. Ich würde mich natürlich außerordentlich freuen, wenn das geschieht. Die Begeisterung der Leute, auf die der Text getroffen ist, zeigt deutlich, dass er ebenso nach Rumänien gehört wie nach Deutschland. Ich hoffe sehr, dass es zu einer Interessenbekundung eines rumänischen Verlages kommt. Ich kann bei der Suche vor Ort nicht helfen, aber ich kann bei der Übersetzung sicher zur Seite stehen. Für mich wäre das gut und für sie wäre es das auch, direkt aus der Uni heraus zu einer literarischen Übersetzung zu kommen, mit einem Buch, das, wie ich finde, nicht ganz einfach zu übersetzen ist, das aber, so wird allgemein festgestellt, eine junge Übersetzerin benötigt.

    Kennen Sie Bukarest? Da sind mitunter Löcher in der Straße, das kann man mögen oder nicht. Man kann es hassen oder lieben. Man kann es erfinden oder so nehmen wie es ist und außen herum gehen. Man kann in Bukarest ankommen oder von dort weggehen. Und während sich alles, was sich beim Landeanflug aufgeklappt hat, die Landebahn und die Flughafengebäude, die Straßen der Stadt und ihre Bewohner, die hierhin und dorthin laufen, Verabredungen treffen und sich verpassen, die studieren und arbeiten … Alexandru und Bianca, der Professor und seine hübschen Studentinnen, die eines Tages, wie Aléa zuvor, nach Deutschland gehen, um Übersetzerinnen zu werden oder Romane zu schreiben; all das klappt wieder zusammen, während das Flugzeug abhebt, um mich auf einer anderen Landebahn ab- und auszusetzen, wo ein anderer Ort aufklappt.

    Am Ende ist alles erfunden. Ich bitte Sie! Wie hätte ich denn – bei meiner Flugangst! – nach Bukarest kommen sollen? Ich wäre nicht nur beim Hinflug abgestürzt, sondern auch beim Rückflug.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    14 Mai 2014

    Die Authentizität des Buchstabens

    In der letzten Maiwoche bin ich in Rumänien. An der Universität in Bukarest werden unter der Leitung von Prof. Horațiu Decuble  und Alexandru Şahighian Masterstudenten einige Kapitel aus Aléas Ich ins Rumänische übersetzen. Ich werde am letzten Tag der Veranstaltung ein wenig assistieren. Eines der übersetzten Kapitel wird dann im Rahmen der Europäischen Literaturnacht  -  Noaptea Literaturii Europene – gelesen, und das gleich mehrfach. Auch da werde ich nur assistieren, ich halte das Mikrofon für eine Schauspielerin, die den Bukarester Zungenschlag besser beherrscht als ich. Anders als wir Siebenbürger haben die Walachen, und eben dort, in der Walachei, liegt Bukarest, einen stärker ausgeprägten musculus longitudinalis inferior – jene dünne Schicht longitudinal verlaufender Muskelfasern der Zunge, die sich zwischen dem musculus genioglossus und dem musculus hyoglossus befindet (wer sich in die Materie einarbeiten möchte, kann das hier tun) – einfacher ausgedrückt, rollen die Walachen das R sehr viel stärker und da ich das bei meinen Aufenthalten in Bukarest nie ordentlich gelernt habe und man in ganz Rumänien sehr viel Wert auf die Authentizität dieses einen Buchstabens legt, muss eine Schauspielerin meine Texte lesen.

    Am darauffolgenden Tag finden eine Lesung und ein Autorengespräch an der Universität, im Fachbereich Germanistik statt. Und dabei kommen meine Fähigkeiten und mein zu kurz oder zu lang geratender Zungenmuskel dann voll zum Einsatz, denn die Lesung findet auf Deutsch statt. In diesem Rahmen lesen die Studenten dann auch aus ihren an den vorhergehenden Tagen entstandenen Übersetzungen. Danach findet ein Gespräch statt. Wir reden vielleicht über Authentizität, also über die Frage, ob Literatur authentisch sein muss und unter welchen Bedingungen sie es ist. Authentizität ist ja etwas anderes als bloße Glaubwürdigkeit. Oder vielleicht reden wir auch darüber, warum ich mir gerade Mircea Cărtărescu und Joseph Vogl als Lehrer ausgesucht habe. Ich meine, dass man Hinweise auf den einen sowohl wie auf den anderen in meinen Romanen finden kann. Und damit meine ich nicht nur, dass der einzige Hund in Aléas Ich Frits heißt, also so wie der Hund im zweiten Teil der Orbitor Trilogie. Joseph Vogl brauche ich nicht um des Namens willen, in meinen Text kommen ja so einige komische Vögel vor. Ich sehe da vielmehr deutlich inhaltliche Gründe. Oder wir reden über Postmoderne Literatur. Und schließlich werde ich einen Tag auf der Buchmesse verbringen, auch hier gibt es eine Lesung und eine Diskussion, Freitag, 20.00 Uhr Uhr in der Donau Lounge, ROMEXPO, Pavilionul C4. Vielleicht, dass sich ein Verlag für meine Bücher interessiert.

    Das Ganze, oder doch Teile des Ganzen, findet auf Initiative des Goetheinstituts in Bukarest statt.

    Aléas Ich

    Lectură din romanul semnat de Aléa Torik, în prezenţa autoarei

    Lectură
    28.5. – 30.5.2014
    UNATC & Facult. de Germanistică, București
    28.05.2014, orele 19-23
    în cadrul Nopții Literaturii Europene 2014
    Lectură: Mihaela Popa
    Universitatea UNATC, etaj 3, Sala 306B,
    Str. Matei Voievod 75-7729.05.2014, ora 15
    Universitatea Bucureşti, Facultatea de
    Limbi şi Literaturi Străine, Sala Shakespeare,
    Str. Pitar Moş 7-13

    30.05.2014, ora 20
    Bookfest, Stand Donau Lounge,
    Romexpo, Piaţa Presei Libere

    Aléa, născută în România, în 1983, tocmai își termină studiile la Universitatea din Berlin, cu o lucrare pe tema ficționalității. Lucrează în paralel la cel de-al doilea roman al său, ține un blog, locuiește cu frumoasa Olga într un apartament la comun, iar printre prietenii ei iluștri se numără actori și consilieri economici. Anii petrecuți în Transilvania și București, precum și viața ei de acum, în Germania, furnizează datele biografice și evenimentele celebrului roman semnat Aléa Toriks, „Aléas ich“ (2013). În cadrul Nopții Literaturii Europene, vă oferim o lectură incitantă din roman, în limba română, și vă dezvăluim secretul unei scriitoare, a cărei fotografie n-a putut fi publicată până acum. Lecturile sunt repetate la interval de 45 de minute.

    Noaptea Literaturii Europene este o inițiativă a Institutelor Culturale Europene și oferă lecturi din literatura europeană provenind din 12 țări, lecturile fiind organizate în mai multe locații din jurul Academiei de Film UNATC.
    Alte două lecturi, în limba germană, și discuții cu autoarea sunt programate pentru 29 mai, la Universitatea din București şi 30 mai, la Târgul de Carte Bookfest.




    08 Mai 2014

    Noch nicht die Welt selbst. Aber immerhin das Tor zur ihr: Hamburg nämlich!

    Am Montag der kommenden Woche bin ich in Hamburg. Hamburg, habe ich gelesen, ist das Tor zu Welt. Eine Welt, die ich zu großen Teilen nicht kennenlernen werde, da sich meine Reisetätigkeit in Grenzen hält. Immerhin werde ich das Tor zur Welt kennenlernen. Nicht alle Tore, Hamburg hat 1,7 Million Einwohner, aber den einen oder anderen Tor werde ich kennenlernen, wenn er denn am kommenden Montag in‘s Literaturhaus kommt, wo ich, auf Einladung des Literaturzentrums  aus meinem aktuellen Roman lese und mit Alexander Häusser diskutiere. Oder randaliere. Je nachdem. Es geht um 19.30 Uhr los. So steht’s hier geschrieben. Und da ich nicht selbst kommen kann – Termine, Termine, Termine – schicke ich den Schauspieler, der behauptet, ich zu sein.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    25 April 2014

    „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“

    Im Folgenden mein im vergangenen Jahr in der Jungen Welt publizierter Essay zu Pierre Bayards “Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“.

    Bücher sind ein Problem. Mehr als eins. Erstens sind sie oft unansehnlich. Wir aber kaufen lieber hübsche Dinge, weil wir gewohnt sind vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Zweitens sind sie, wo man Giga- und Terabyte in der Hosentasche herumtragen kann, unhandlich und unnötig schwer; und mitunter sind sie auch noch schwer zu verstehen. Und drittens haben wir heute keine Zeit mehr. Vielleicht haben wir noch die Zeit, Bücher zu kaufen; aber zum Lesen haben wir die Zeit nicht. Und hätten wir sie, müssten wir feststellen, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, ein literarisches Urteilsvermögen herauszubilden: man braucht dazu jenes gefestigte Verständnis, das man sich durch die Lektüre doch eigentlich erst aneignen wollte.

    Da kommt ein Buch wie dieses gerade recht. Das französische Original bedient sich der Frageform – „Comment parler des livres que l’on n’a pas lus?“ -, eine Formulierung, die die deutsche Übersetzung nachgerade in eine Anleitung verwandelt. Genau genommen müsste der Titel lauten: Dass man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Dieser Essay ist kein Ratgeber, es ist vielmehr eine Ausdeutung der Tatsache, dass wir die meisten Bücher, die wir gelesen zu haben vorgeben, tatsächlich nicht oder kaum kennen und, „dass unsere Beziehung zu Büchern kein kontinuierlicher, homogener Prozess ist, wie uns manche Kritiker glauben machen möchten, auch nicht der Ort einer luziden Kenntnis unserer selbst, sondern ein obskurer, von Bruchstücken der Erinnerung heimgesuchter Raum, dessen – auch schöpferischer – Reiz mit den nebelhaften Phantomen zusammenhängt, die darin umgehen.“

    Pierre Bayard ist Professor für Literaturwissenschaft, kennt sich also mit Texten und vor allem mit Rezeptionsgewohnheiten aus, seinen eigenen und denen seiner Studenten. Er macht deutlich, dass wir mit ‚Lesen‘ sehr unterschiedliche Verhaltensweisen bezeichnen. Lesen und Nicht lesen sind einander sehr ähnlich: „Lesen bedeutet in erster Linie nicht lesen, und selbst bei den großen Lesern, die ihr ganzes Leben der Tätigkeit verschrieben haben, verbirgt die Geste des Ergreifens und Öffnen eines Buches stets die ihr entgegengesetzte, die darin enthalten ist und demzufolge unbemerkt bleibt: die unfreiwillige Geste des Nichtergreifens oder Zuklappens sämtlicher Bücher, die bei einer anderen Organisation der Welt an die Stelle des glücklich auserwählten hätten treten können.“

    Der Bereich zwischen Lesen und Nichtlesen beschränkt sich nicht nur auf die Differenz von kursorischem Lesen und systematischem Durcharbeiten, sondern schließt auch mit ein, dass man mitunter nicht sagen kann, ob man ein Buch gelesen hat oder es nur aus den Erzählungen anderer kennt und ob man die Ansichten anderer dazu bestätigt oder widerlegt wissen will. Auch schreiben wir beim Lesen, das vom Autor geschriebene Buch radikal um, und bemerken es in der Regel nicht einmal. Und schließlich vergessen wir das meiste schneller als wir neues aufnehmen können: „Was wir für gelesene Bücher halten, ist ein bunter Haufen von Textfragmenten, verformt durch unsere Imagination, ohne Beziehung zu den Büchern der anderen, wenn sie auch materiell mit denen identisch sein mögen, die wir in der Hand gehabt haben.“

    Der Autor zitiert wiederholt die großen Autoren – Proust und Valery, Musil und Montaigne -, was auf den ersten Blick seine eigenen Thesen zu konterkarieren scheint. Möglicherweise hat er sie tatsächlich nicht gelesen, sondern hat sich, was er für seine These brauchte, herausgefischt. Bildung sei sowohl die Fähigkeit, sich innerhalb eines Buches zu orientieren, als auch innerhalb der Menge aller Bücher. Über Bücher sprechen zu können, ist noch immer ein Ausdruck von Macht, in dem sich die Vorstellungen einer Gesellschaft über Bildung artikuliert. Bayard vermag solchen allgemein bekannten Einschätzungen wiederholt sehr kreative Positionen zu entlocken. Sein eigener Ansatz ist der der Provokation, wenn er etwa behauptet, dass seine Studenten in ihren Beiträgen zu einem Text, jene Originalität mitbrächten, zu der sie nicht fähig wären, wenn sie das Buch gelesen hätten. Das mag durchaus so sein, die Frage ist allerdings, was diese Originalität vermag.

    Wenn man sich die vielen Versuche, Literatur zu kanonisieren, anschaut, wo „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ebenso häufig wie die „Todesfuge“ auf den vordersten Rängen stehen, muss man sich ernstlich fragen: Wer hat das gelesen? Wer hat sich damit auseinander gesetzt? Denn sowohl Roman als auch Gedicht verfügen nicht gerade über eine intuitive Bedienerführung. Ohne eine intensive Beschäftigung sind beide Texte nur mehr oder weniger lange Aufzählungen von Worten. Spezialistenliteratur, die angeblich von Hinz und Kunz gelesen wird, während der arrivierte Literaturwissenschaftler Bayard zugibt, sie nicht zu kennen. Da fragt man sich, ob diese Literatur so einflussreich ist, weil sie gelesen wurde oder weil gelesen wurde, dass sie einflussreich sein soll: ob also ihr Ruhm nicht mehr und nicht weniger ist, als das Gerücht ihres Ruhms.

    Pierre Bayard geht mir allerdings einen Schritt zu weit, wenn er am Schluss mit Oscar Wildes Begriff der Kritik – dass man nicht zum eigenen kommt, wenn man immer nur anderes zur Kenntnis nimmt – rezipierenden und produzierenden Anteil gegeneinander ausspielt und zu dem Ergebnis kommt: Schöpfung bedeute, „dass man sich nicht allzu sehr mit den Büchern aufhalten soll“, um dann damit zu schließen, dass das der erste Schritt sei, um mit dem eigenen Schreiben zu beginnen. Kreativität ist komplex und nicht allein dadurch zu erreichen, dass man mit der Rezeption aufhört. Außerdem brauchen wir keine Menschen die Bücher schreiben, weil wir keine mehr haben, die sie lesen.

    Auch bei mir ist es nicht so, dass ich leidenschaftlich gern lese und darüber spreche. Ich halte das Lesen schlichtweg für die angenehmste Weise, die Zeit totzuschlagen. Diese Erfahrung, Zeit nicht zu nutzen, sie nicht auszunutzen und zu optimieren, sondern sie vorübergehen zu lassen, ist meines Erachtens die einzige Möglichkeit, sich mit der Tatsache der eigenen Vergänglichkeit zu versöhnen. Ich würde der Sinnlosigkeit des Lesens also ein anderes Gewicht geben als Bayard es tut.

    Das besprochene Buch habe ich selbstverständlich nicht gelesen. Alle Zitate sind frei erfunden: Produktion statt Rezeption! An seiner statt habe ich mich in jenes Buch vertieft, das bei mir schon lange herumgelegen hat und das ich in einer liebevoll gestalteten Ausgabe besitze, vorzüglich übersetzt, und das ich jedem ans Herz legen möchte, weil es sogar noch besser ist als das persiflierte Original: Don Quijote, von Pierre Menard.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.





    03 April 2014

    Bărbatul și scriitoarea

    Sie sind alle miteinander herzlich eingeladen zu der Lesung am Freitag, den 11. April um 19.00 Uhr im Kulturzentrum von Sibiu / Hermannstadt, Str. Mitropoliei 16. Am darauffolgenden Samstag besteigen wir alle zusammen einen Berg. Den, der direkt hinter Mărginime in den Himmel ragt; oder – um bei der Wahrheit zu bleiben – der beinahe in den Himmel ragt. Aber dieses ‚beinahe‘ macht es doch eigentlich erst interessant: Dass die Dinge beinahe so sind wie sie sein könnten. Denn wenn sie das nicht könnten – dieses ‚beinahe‘ nämlich -, wenn sie nicht einmal das können, dann können sie möglicherweise  gar nichts.

     





    06 Februar 2014

    Aléa Torik über Fiktion, Wirklichkeit und Identität

    Hier also das Interview, das ich auf aboutsomething gegeben habe.

    1) Katja zu Fiktion vs. Wirklichkeit: Ein zentrales Thema Ihres Buches ist der Wirklichkeitsbegriff, nach dem Sie gleich zu Beginn (S. 23) fragen: „Wenn alle Wirklichkeit nur Konstruktion ist, können wir dann mutwillig alles konstruieren?“ … „Wirklichkeit ist, was wir dafür halten, was wir konstruieren.“ (S. 22) Die „neue“ Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts ist jene des Netzes und ihrer radikalen Projektionen. Ihr Wirklichkeitsbegriff bezogen auf die digitale Realität sagt aus, dass alles um unsere Identität herum konstruiert sei. Kann man daraus eine moralische Frage ablesen? Was ist dann mit denjenigen, die sich der virtuellen Wirklichkeit verweigern, keinen Blog haben und nicht per Facebook kommunizieren? Ist denn mit dieser Weigerung eine fundamentale Lebensverweigerung gleichzusetzen, da ich mich quasi dieser virtuellen Realität entziehe und in ihr nicht stattfinden will? Ist es überhaupt möglich, sich dieser zu entziehen, wenn man „vollwertig“ an der Realität partizipieren will?

    Aléa Torik: Bevor ich die Frage beantworte, will ich mich für die Gelegenheit bedanken, mich zu meinem Text äußern zu können. Da ich nicht einfach nur einen Roman geschrieben habe, den man an vielen Orten rezensieren, erörtern oder befragen könnte, sondern einen Roman über eine Person, die über Jahre ein literarisches Blog im Netz führt, ein Blog, das es wirklich gibt; da ich gewissermaßen das Blog und den Roman zu einer Einheit verwebe, empfinde ich andere literarische Blogs geradezu als erste Adresse für eine Auseinandersetzung mit dem, was ich da gemacht habe. Ich war verwundert, vielmehr verärgert, weil es zwar viele Reaktionen seitens des Feuilletons gab, aber kaum ernstzunehmende aus der Bloggerszene – bis auf eine einzige Ausnahme, das Blog Aisthesis, wo beide Romane besprochen wurden und auch darüber hinaus versucht wird, dem Phänomen Aléa Torik eine Position in der Literatur zuzuweisen, hier, geschweige denn eine richtige Auseinandersetzung, wie sie hier offenbar stattgefunden hat. Das ist an Ihren Fragen zu erkennen, die vor allem um das Netz kreisen. Das hat bisher noch niemand so deutlich angesprochen und thematisiert. Weil das aber im Grunde der wesentliche Umstand meines Romans ist, antworte ich sehr ausführlich.

    Der Roman ist der Versuch eine moderne Wirklichkeit zu beschreiben, in der das Netz eine wesentliche Rolle spielt. Also nicht das Netz selbst und auch nicht die Tatsache, dass wir bisweilen mal im Netz ein Buch bestellen oder eine Email schreiben. Ich meine, wenn ich von Netz rede, den fundamentalen Bruch in einem Gewebe namens Wirklichkeit durch den Cyberspace.

    Ich frage gleich zu Beginn des Romans nach Wirklichkeit, sogar noch vor der zitierten Stelle. Die Autorin und Protagonistin dieses Romans, Aléa Torik nämlich, sitzt in der Bibliothek, im Lesesaal des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums in Berlin vor ihrem Rechner und schreibt nach Das Geräusch des Werdens an ihrem zweiten Roman. Dann schaut sie an die Decke und sieht eine Frau durch eines der Oberlichter durch die zwanzig Meter hohe Halle fallen und „mit einem entsetzlichen Geräusch“ unten auf den Boden aufschlagen. Die einzige Reaktion Aléas darauf sind einige Gedanken darüber, ob das wirklich geschehen ist. Jeder andere würde wohl erst einmal zu Hilfe eilen und sich danach Gedanken über die ontologische Wertigkeit machen. Man kann vermuten, dass dieses Ereignis lediglich in ihrer Fantasie stattgefunden hat, vielleicht weil das in ihrem Roman geschehen könnte. Oder weil sie eben Dinge sieht, die nicht wirklich geschehen. Sie hat möglicherweise eine kleine psychische Auffälligkeit. Das wird später durch das Motiv des Verfolgungswahns auch noch ausgebaut.

    Das darauffolgende Kapitel jedenfalls beschreibt das Gespräch zwischen ihr und ihrem Professor Joseph Vogl, bei dem sie zum Thema »Identität, Authentizität und Illusion – Zur Theorie der Fiktionalität« promoviert. Der gibt ihr zu verstehen, dass sie eine unzureichende Auffassung von Wirklichkeit hat. Er selbst stellt dann aber nicht seine eigene Auffassung da, sondern problematisiert das: er hält einen kleinen Vortrag über die Veränderungen des Wirklichkeitsbegriffs in den vergangenen 500 Jahren und sagt, dass eine veränderte Welt auch einen veränderten Begriff von Wirklichkeit braucht. Und er gibt ihr einen Rat für den Roman an dem sie schreibt: »Lassen Sie es doch zu einer Kollision von darstellender und dargestellter Person, erzählendem und erzähltem Ich kommen« (AI, 24) Und genau das macht sie dann auch: Aléa spaltet sich im weiteren Verlauf auf, in erzählende Person und erzählte Figur.

    Dieses Gespräch über Wirklichkeit zwischen Aléa Torik und Joseph Vogl stellt sich in der Mitte des Romans als frei erfunden heraus, also Teil ihres Romans, den sie mit einem Gespräch zwischen sich und ihrem Professor beginnen lässt. Und am Ende dieses Romans liegt sie auf dem Boden, erinnert sich an dieses Gespräch und kommt zu folgender Erkenntnis: „Ich denke mir die Dinge bereits aus, während ich sie erlebe. Ich erlebe sie, indem ich sie mir erzähle, indem ich sie in eine narrative Struktur bringe. Ich lege über alles, was meine Sinne aufnehmen, eine Schicht: die fiktive Version eines wie auch immer gearteten, unerkennbaren Wirklichen. Ich weiche in einer Erzählung ein wenig ab, auch wenn ich nicht weiß, wovon ich abweiche. Ich hatte bereits als Kind gelernt, dass man Dinge nicht erzählen kann, ohne sie zu verändern. Gibt es überhaupt einen klaren Trennstrich zwischen den zwei Welten? Oder verschiebt sich das, je nachdem, wer etwas mit welchen Intentionen betrachtet, und der eine tut als Fantasie ab, was der andere als Wirklichkeit abtut? Wer etwas darstellt, der erfindet es bereits, zumindest erfindet er seine Darstellbarkeit. Und darstellen muss man. Denn die Dinge sind, so wie sie wirklich sind, unaushaltbar. Weil sie einfach nur sind. Ohne jede andere Dimension, ohne subjektive Ebene“ (AI, 408).

    Ich bin keine Anhängerin des radikalen Konstruktivismus, auch wenn in seinen Positionen vieles steckt, was ich als zutreffend empfinde. Ich versuche lediglich für diesen Roman eine Wirklichkeit zu beschreiben, die sich tatsächlich ganz stark um den Begriff der Identität dreht. Der Professor Aléas – der über seine Rolle in diesem Roman informiert ist -, hat ein sehr interessantes Interview zum Thema Identität im 21. Jahrhundert gegeben, hier. Wer Aléas Ich gelesen hat, kann erkennen, inwieweit Aléa Positionen Vogls anspricht, etwa bei den Wolken; er sagt dort: ‚alles was geschieht oder was nicht geschieht, hat denselben ontologischen Wert‘. Möglicherweise ist Aléas Verhalten bei der durch die Halle fallenden Frau eine Reaktion auf das, was die Doktorandin bei ihrem Professor gelernt hat.

    Personelle Identität ist natürlich erst einmal eine körperliche und weil sie das ist, ist sie dann auch eine sexuelle. Indem wir uns als Junge oder Mädchen erfahren, identifizieren wir uns. Identität ist also ein Prozess. Wir identifizieren uns mit Bildern, die uns andere, die uns die Gesellschaft vorhalten. Das verläuft natürlich für jeden anders, der eine identifiziert sich mit einem Selbstbild, indem er Position an- und übernimmt, der andere, indem er sie ablehnt. Ich meine, dass der Aspekt der Konstruktion dabei kaum zu überschätzen ist. In einer Lebenswirklichkeit, in der unsere Erscheinung, unser Körper und unser Gesicht, eine Rolle spielt, wo wir also anwesend sind, sind wir deutlicher an diese Identität gebunden als etwa im Radio, wo die Stimme viel wichtiger wird, weil der Gesichtssinn ausfällt. Im Netz sind wir noch freier, da fallen nahezu alle Ebenen weg, aus denen sich unsere Wirklichkeit sonst zusammensetzt. Ob wir diese Freiheit schätzen oder nicht: wir nutzen sie. Ich will keinen universalen Identitätsbegriff propagieren. Ich glaube, dass das Netz eine andere Wirklichkeit hervorbringt, für die, die sich in ihm bewegen. Mehr nicht. Wer nicht ‚surft‘ muss sich um die vom und die im Netz geschlagenen Wellen auch keine Gedanken machen, er wird in dieser, in der realen Welt untergehen, nicht in der vituellen.

    ——

    2) Katja zu Identität- Figurencharakteristik: Kann man Ihren Roman so verstehen, dass hier eine Figur (Aléa Torik) als Figur über sich selbst als Figur in einem Roman und dessen Entstehung schreibt, die immer wieder reflektiert wird? Es wird sozusagen die Entstehung einer Fiktion vorgeführt und der Leser ist herausgefordert, sich über die Frage nach Identitäten klar zu werden.

    Aléa Torik: Es wird die Entstehung einer Fiktion vorgeführt: ja genau so! Zurecht betont die Rezension bei Literaturkritik.de – hier –, dass nicht etwa nach dem Ende der Ereignisse der Held geläutert zurückschaut und seine Entwicklung nachvollzieht; in diesem Roman sind das Ereignis und Beschreibung simultan. Simultaneität ist in der Postmoderne ein wichtiger Begriff, den ich hier nicht in seinen Einzelheiten beschreiben kann. Ich mache das bereits in dem Vorsatz des Textes deutlich, wenn ich den rumänischen Schriftseller Mircea Cărtărescu zitiere: »Der postmoderne Mensch glaubt an keine andere Wirklichkeit als die von ihm selbst erschaffene. […] Phantasie und ›Wirklichkeit‹ befinden sich auf ein und derselben Ebene und überschreiben einander unaufhörlich.«

    Der Leser hat ein Buch in der Hand – Aléas Ich – und darin wird eine Person namens Aléa Torik beschrieben, die Schriftstellerin ist und an ihrem zweiten Roman schreibt. Langsam erkennt er, dass er Aléa nicht nur zuschaut, wie dieser Roman entsteht – etwa indem ihn die Autorin über die  Ereignisse in dem Text informiert -, sondern das er mittendrin ist in diesen Ereignissen. Er erkennt, dass alles, was geschieht, bereits dieser Roman ist, den Aléa da schreibt. Der Leser sieht also dem Roman beim Entstehen zu, den er als fertigen in Händen hält. Das ist natürlich paradox: der Text muss ja abgeschlossen sein, wenn man das Buch kauft. Was scheinbar Rahmen war, ist tatsächlich das Bild. Über den Rahmen, die eigentliche Wirklichkeit in der das Bild entsteht, weiß der Leser nicht viel und er muss oder soll erkennen, dass er im Grunde gar nichts weiß. Über die Autorin, auch wenn die sich scheinbar selbst thematisiert, weiß der Leser nicht das Geringste.

    Auf der ersten Seite sieht er Aléa Torik, die in der Bibliothek sitzt und an ihrem Roman arbeitet und auf der letzten Seite sitzt sie da immer noch: alles dazwischen ist der Text, der, wenn er fertig ist, Aléas Ich heißen soll. Es gibt also sozusagen zwei Romane mit demselben Titel. Es gibt zwei Welten mit derselben Geschichte, aber die eine ist wirklich und die andere fiktiv. Wo die Grenzen, wo die Übergänge dieser beiden Welten liegen, wird nicht deutlich gemacht. Das kann und muss jeder selbst entscheiden. Vielmehr muss man es nicht entscheiden, man erkennt einfach, dass die beschriebene Welt Brüche hat. Und wenn der Mensch nicht völlig versessen ist auf Kontiguität und Kontinuität, dann wird er ebenfalls erkennen, dass die Welt in der er lebt, diese Brüche tatsächlich auch aufweist. Die Welt unserer Identität ist eben keine heile: mal sind wir Autor, Initiator oder Handelnder und mal müssen wir es einfach nur erleben, wir sind lediglich eine Figur in unserer eigenen Geschichte. Und weil wir diese Geschichte nur aus der Ich-Perspektive erleben können, sind wir dort notwendigerweise immer die Hauptfigur.

    Diese Konstruktion mutet dem Leser relativ viel zu, nämlich einen ungewöhnlich großen Interpretationsspielraum. Das schreckt manchen auch ab. So schrieb mir eine Leserin etwa: „Achtung das Lesen dieses Buches kann bei sensiblen Menschen zu Realitätsverlust, Wahnvorstellungen bis hin zur Digitalparanoia führen!“ Sie meinte das, wenn ich sie richtig verstanden habe, nicht als Kompliment, sondern als Warnung. Aber für mich war das ein dickes Lob. Ich habe das nicht von Anfang an beabsichtigt, aber als sie mir das schrieb, konnte ich erkennen, dass ich genau diesen Effekt jetzt will.

    ———-

    3) Katja zu Internet-Realität: Sehen Sie das Internet als eine Art zweite Realität oder führt hier die Annahme eines Realitätsbegriffes ins Leere? Ist es sozusagen eine erweiterte Realität unserer materiellen Welt, in der wir sein können, wer wir sind, ähnlich wie Figuren in einem Computerspiel, die wir steuern? Ist im Internet nicht jeder fiktiv und versuchen Sie das in ihrem Roman spielerisch darzustellen, vorzuführen, infrage zu stellen? Denn die Figuren in Ihrem Buch verschwimmen am Ende und es erschien mir beim Lesen so, als sei jede Äußerung der Figur und jeder Charakterzug wiederhol- und austauschbar, alles sei schon einmal so passiert und kann auch jedem passieren, so dass es keine wirkliche Individualität mehr gibt, sondern diese verschwimmt?

    Aléa Torik: Ich glaube nicht, dass es eine erste und eine zweite Wirklichkeit gibt, eine vor- und eine nachgeordnete Ebene. Ich meine, dass wir nur eine Wirklichkeit haben, in der sehr vieles Realität gewinnen kann.

    In sozialen Netzwerken inszenieren sich alle. Was im Netz ausfällt, die sinnliche Wahrnehmung aus der wir üblicherweise einen Großteil unsere Realität konstruieren, muss kompensiert werden. Wir müssen den Mangel an Sinnlichkeit wettmachen, indem wir, was wir sind, verdichten. Wir wollen im Netz nicht unbedingt schönere oder bessere Menschen sein, wir lügen nicht und führen andere nicht bewusst in die Irre. Wir inszenieren lediglich. Diese Inszenierung ist keine, die die eine oder die andere Seite übernimmt – im klassischen Kommunikationsdesign: Sender oder Empfänger -, sondern das ist eine Leistung die simultan von beiden Seiten erbracht wird. Statt Inszenierung könnte man auch Fiktionalisierung sagen: im Netz ist jeder fiktiv. Wir können wirklich uns selbst meinen, wenn wir ‚ich‘ sagen, aber für die anderen ist das eine Fiktion. Dennoch haben die Dinge im Netz natürlich eine Realität, die Dinge in Büchern haben ja auch Realität. Die virtuelle Realität allerdings hat noch eine andere Macht, die, wie viele imaginäre Dinge, sehr groß sein kann. Man könnte beinahe so weit gehen die Virtualität als Nachfolger der Fiktionalität zu verstehen.

    Das Netz als eine Welt „in der wir sein können, wer wir sind“? Nein, das können wir, mit einigen Einschränkungen, in dieser Welt. Im Netz können wir sein, wer wir nicht sind. Vielmehr können wir das nicht, wir sind es einfach. Wir müssen dort sein, wer wir nicht sind. Wir können noch so sehr behaupten, dass wir der- oder dieselbe sind, die wir in der Realität sind. Dass es eine Identität gibt eine Identität zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Aber das ist nicht richtig, das ist eben die Fiktion. Und die virtuelle Welt ist keine ideale Welt, weil wir eben dort nicht die sein können, die wir sein wollen, sondern die sein müssen, die wir nicht sind.

    Ich versuche in Aléas Ich Realität und Virtualität, indem ich sie nicht gegenüberstelle, sondern miteinander verschmelze, zu beschreiben, teilweise auch zu verstehen, jedenfalls erfahrbar zu machen. Dass die Figuren in dem Roman verschwimmen, war nicht intendiert. Vielleicht ist das bei Ihrer Lektüre ein Produkt jenes Verschwimmens, das ich erreicht habe, indem ich die beiden Welten der Fiktion und der Realität nicht deutlich getrennt habe? Für mich haben alle Figuren eine sehr deutliche Individualität. Aber das sind die Rätsel der Sprache, und gleichzeitig seine enorme Poesie, dass man alles, was im Kleid der Worte daherkommt, mehr oder weniger festlich verstehen kann und für den einen ist schon schick, was für den anderen noch burschikos ist. Bewusst gewollt – wobei das beim Schreiben nur in Maßen möglich ist, etwas zu wollen: Texte haben einen eigenen Bewegungsdrang – war lediglich die Auflösung der Hauptfigur Aléa Torik, sie konfrontiert sich mit ihrer Flugangst, steigt ins Flugzeug und stützt dann auch ab, sie vermischt sich mit den Wolken und den Elementen, mit den Sonnenstrahlen. Und dennoch löst sie sich ja nicht ganz auf: Sie steht ja immerhin hier noch Rede und Antwort. Es löst sich also nur die Figur auf, nicht die echte Aléa Torik!

    ——

    4) Katja zu virtuelle Geburt und virtueller Tod: Wenn die virtuelle Realität eine erweiterte Realität unserer Wirklichkeit wäre, dann hätte es Konsequenzen, das eigene digitale Ich zu ermorden. Ebenso könnte man sagen, es ließe sich ein Charakter, eine Identität erschaffen oder gebären. Beeinflusst diese uns dann in der Wirklichkeit oder führen wir eine Art Parallelleben im Virtuellen? Können wir uns dessen überhaupt noch bewusst sein, da es ja auch „kein Außerhalb unseres Bewusstseins“ geben kann, wie Sie auch schreiben (S. 22)?

    Aléa Torik: Das geht mir zu weit! Stirbt das digitale Ich, stirbt nicht das reale. Geboren und gestorben wird vorläufig noch in dieser Welt. Aber einen Vorgeschmack auf dieses Sterben kann jeder bekommen, wenn er oder sie das Netz abschaltet. Nur für eine Woche, als Selbstversuch. Eine Woche kein Netz, keine Mails, keine SMS, kein mobiles Telefon und Bankauszüge am Kontodrucker. Man stirbt nicht daran, aber die Symptome, die man dabei zeigt, sind vermutlich bei vielen digital natives denen ähnlich, die in Entzugskliniken zu beobachten sind.

    Es gibt kein Außerhalb unseres Bewusstseins, ja das nehme ich an. Ich bin mir allerdings im Moment nicht sämtlicher Konsequenzen dieser Annahme bewusst. Sagen wir, es gibt kein Außerhalb, aber wir können Kenntnis davon bekommen: durch andere. Indem andere uns erzählen, was ihre Wirklichkeit und was ihr Bewusstsein ist.

    ——

    5) Katjas Feststellung: Nach dem Lesen von „Aleas Ich“ und der Beschäftigung mit Ihrem Blog kam mir der Gedanke, dass Sie mit Ihrem Buch/ Blog auf ein fundamentales Phänomen des Internets aufmerksam machen und dieses sozusagen für die Literatur, das Erzählen nutzen: Analog wie wir eine digitale Identität in Blogs oder Social-Media-Kanälen aufbauen und im Modus unseres „Ichs“, d.h., in einer gewissen Figurenrede agieren, so erschafft der Autor seine Fiktion, seine literarische Wirklichkeit. Würden Sie dem widersprechen oder sehen Sie es so, dass Sie das mit „Aléas Ich“ sozusagen direkt zeigen und dieses Phänomen nutzen und durchleben? Mir scheint, ohne moralische Anklage oder erkenntnistheoretisches Ziel, sondern aus einer rein künstlerischen Perspektive? Schafft das Netz damit ganz neue Möglichkeiten für Autoren und Künstler, mit Identitäten zu spielen und die Fiktion zu beobachten? Oder könnten jetzt Kritiker sagen, jeder, der im Virtuellen agiert, ist ja schon ein Künstler seiner Selbst, da er Identitäten erschafft? Wozu brauchen wir dann noch Literatur und Kunst als solche? Verschwimmt damit die Grenze zwischen bewusster Inszenierung oder einer Darstellung zum künstlerischen Aspekt nicht stark?

    Aléa Torik: Die Analogie, die Sie da beschreiben, trifft es genau. Wenn wir im Netz über uns reden, dann machen wir das im Modus der Figurenrede: aus der Ichperspektive. Wir selbst werden zu einer Figur. Das ist es, was ich sagen will, wenn ich davon spreche, dass wir nicht die sind, die wir sein wollen, sondern die, die wir sein müssen. Wir agieren wie Figuren. Wir sind für die anderen fiktiv, weil das Kommunikationsmodell nicht mehr einfach lautet: vom Sender zum Empfänger. Das ist es, was ich in meinem Blog getan, meinetwegen auch inszeniert habe und was im Roman beschrieben wird.

    Dieses unidirektionale Kommunikationsmodell ist in Blogs nicht mehr aktiv. Man mischt sich ein. Man versucht, Einfluss zu nehmen. Die ‚Erzählung‘ zu verändern. In einem Blog muss man sich, anders als in einem Buch, nicht nur mit der Rolle des Zuschauers begnügen, sondern man greift in die ‚Handlung‘ ein. Jeder Kommentar ist der Versuch, die ‚Ereignisse‘ den eigenen Absichten gemäß zu beeinflussen. Was passiert, was geschieht ist nicht einzig die Geschichte des Autors, sondern auch die der Kommentatoren In Bezug auf die Aléa Torik, auf die Figur im Netz, heißt das, dass dort nicht nur meine eigenen, sondern auch die Projektionen der anderen virulent werden. Sie erkennen, wenn sie mich erkennen, nicht meine Wirklichkeit, sondern ihre Wunschvorstellungen davon. Wer sich etwa echauffiert, ich hatte aus Marketinggründen gehandelt – weil jung , gutaussehend und blitzgescheit sich auf dem Buchmarkt gut verkaufen lässt -, der echauffiert sich über seine eigenen Projektionen, denn über meine Gründe das zu tun, wusste er ja gar nichts. In Zeiten des Netzes wird deutlicher als je zuvor: wir wissen beinahe nichts über den Autor.

    So wie wir uns alle im Netz fiktionalisieren – die faktische Person schafft eine sich selbst ähnliche Figur und nennt sie „Ich“ – arbeiten auch Schriftsteller. In den social media Aktivitäten belässt man es üblicherweise wohl bei der Erfindung dieser einen Figur gleichen Namens. Schriftsteller müssen da einen etwas größeren Figurenkosmos erarbeiten. Man spaltet sich auf in verschiedene Perspektiven, Lebensschicksale, Ideen, Ansichten. Schriftsteller dürfen das. Wenn sie zugeben, dass sie diese Dinge erfunden haben. Das tut man, indem man die Gattungsbezeichnung über den Text schreibt, also etwa „Roman“. Dennoch werden Autoren immer wieder gefragt, ob sie, was sie in ihren Texten beschreiben, tatsächlich auch erlebt haben. Der Leser will nämlich, dass man das Erfundene legitimiert, indem man es als echt, als wirklich erlebt herausstellt. Im Modus des ‚falschen‘ unterstellt man, dass nur das Authentische ‚echt‘ ist.

    Ich wollte diese Weise, wie der Begriff Identität sich durch das Netz verändert und wie wir uns dabei verändern, darstellen. Eines aber will ich definitiv nicht, eine moralische Bewertung. Die läge vollständig außerhalb meiner Kompetenzen. Ich klage niemanden an, weil er sich im Netz so verhält. Klage ist eine literarische Gattung, die mich nicht interessiert. Ich klage nicht an und ich will auch nicht verklagt werden. Wie mich die Moral nicht interessiert, interessiert mich auch die Erkenntnistheorie nicht, weil es einfach nicht meine Aufgabe ist. Meine Aufgabe ist ein literarischer Text. Mich interessiert nur die künstlerische Aufgabe. Ich will die Verbrechen begehen. Aufklären müssen sie andere. Und, mit Verlaub, ich zweifele daran, dass die Moral zur Klärung beitragen kann. Da ist weit eher die Philosophie gefragt.

    Es hat einen kleinen Skandal gegeben. Jedenfalls waren da ein paar Leute, die meinten, einen Skandal machen zu können. Dabei muss man sich fragen: wer macht den Skandal und wem nützt er? Der Skandal nämlich, dass Aléa Torik nicht identisch mit sich ist. Nicht nur im Buch nicht, sondern auch im Netz nicht. Sie ist eine fiktive Figur. Frei erfunden. Wenn man in meinem Blog einen Text liest, passiv rezipiert, oder einen Kommentar abgibt, sich aktiv einmischt, dann erreicht man nicht die authentische Autorin. Aber wo steht, in welcher Netiquette, dass man – sei es in der U-Bahn oder sei es im Netz – mit sich identisch sein müsste? Nirgends. Hintergeht man die Menschen, die potentiellen Kommentatoren eines Blogs, wenn man nicht der oder die ist, die man zu sein vorgibt? Oder hintergeht man die Menschen, wenn man ihnen vorspielt, dass man der ist, als der man sich darstellt? Die erste Frage ist einfach zu beantworten, man nimmt das Schatzkästchen der allgemein greifbaren Moral als Richtschnur. Die zweite Frage ist sehr viel schwieriger zu beantworten, weil man dann nicht einen anderen in Frage stellen muss, sondern sich selbst. Weil man sich selbst zur Verantwortung ziehen, seine eigenen Strategien erwägen und möglicherweise feststellen muss, dass man es sich zu leicht macht.

    Was ich mit Bog und Roman gemacht habe, ist eine Ausweitung der literarischen Kampfzone. Ich mache, was alle im Netz machen, für die Literatur. Ich übertreibe dabei, zugeben, ich übertreibe maßlos, ich ändere Alter, Geschlecht und Herkunft meiner Figur. Und ich übertreibe noch weiter, indem ich auch jetzt noch behaupte, diese Figur zu sein. Ich behaupte das nicht, weil ich schizophren bin, sondern weil ich diese Figur bin. Weil wir hier im Netz sind. So wie es mein authentisches Ich im Netz nicht gibt, so gibt es in der realen Welt keine Aléa Torik. Aber diese rein reale Welt interessiert mich nicht.

    Ich mache einfach nur, was technisch möglich ist. Ich nutze die modernen Medien, um Literatur zu schreiben. In meinem Verständnis gibt es überhaupt keinen Skandal, weil es nur einen Roman gibt, den eine junge Frau aus Rumänien schreibt, in dem sie sich als ihre eigene Hauptfigur herausstellt: sie ist einfach nur das, was Figuren in Romanen nun einmal sind: erfunden. Aber in dieser Erfindung stellt sich langsam heraus, dass da wirkliche Personen vorkommen, ein echter Clemens Setz. Aber ist das wirklich Clemens Setz? „Ich lernte Clemens Setz kennen. Er hatte, wie ich auch, am Blog zu »Unendlicher Spaß« teilgenommen und war für eine Lesung in Berlin. Ich holte ihn vom Hotel ab und wir gingen ins Literaturhaus in die Fasanenstraße. Er war kurzsichtig und ich musste immer ganz nah an ihn herangehen, ich musste ihm die Speisekarte vorlesen, weil er nichts erkennen konnte. Er konnte nicht erkennen, wie aus den dürren Worten auf der Karte die reichhaltigen Gerichte auf dem Teller werden sollten. Oder seine Kurzsichtigkeit war ein Trick, um möglichst nahe an die Leute heranzukommen. Er saß mir gegenüber in einem schwarzen Sakko und einem bunten Rollkragenpullover darunter, das alles war viel zu groß für ihn und passte auch nicht zusammen. Mir gefallen solche Männer, die das nicht bemerken, weil sie in Gedanken ganz woanders sind. Ich mag dieses betont Männliche nicht, das auf mich geradezu lächerlich wirkt. Als würden Frauen grundsätzlich an der Männlichkeit der Männer zweifeln. Clemens war nicht überaus schick gekleidet, aber er war, wie man lesen konnte, überaus begabt. Womöglich simulierte er das lediglich. Er simulierte den astigmatischen Hochbegabten und wie alle Simulanten und Hochstapler musste er sein Geschäft weit besser beherrschen, als wenn er tatsächlich begabt oder astigmatisch gewesen wäre. Er schien ein bisschen durcheinander, was sicher ebenfalls nur eine Simulation war. Vielleicht war das gar nicht Clemens Setz. Das war nur irgendein Clemens. Ich war einfach in das Hotel gegangen, das er mir per Mail genannt hatte, und war dann mit dem herausgekommen, der sich mir gegenüber als Clemens zu erkennen gegeben hatte.“ (AI, 238)

    So ist das in der Literatur: da zeigt sich das, was man so schön abtun konnte als lediglich ‚erfunden‘ plötzlich in seiner ganzen Radikalität: das Erfundene hat eine Realität. Und die ist vielleicht größer als die der ‚echten‘ Realität. Wenn ich als Leser mit so einer Konstruktion wie in Aléas Ich konfrontiert werde, dann muss ich mir irgendwann Gedanken machen, was die Bedingungen von fact and fiction sind. Ich habe mir jedenfalls Gedanken gemacht und festgestellt, dass ich für mich in den wenigsten Fällen klar differenzieren kann, sondern dass ich nahezu immer diese beiden Welten vermische. Und darüber habe ich einen Roman geschrieben. Allerdings habe ich nicht vorher überlegt und dann geschrieben, sondern das geschieht bei mir simultan.

    In dem verlinkten Interview spricht Joseph Vogl von Jose Luis Borges, von einer Erzählhaltung, die die verschiedensten auch widersprüchlichsten Ereignisse in einen Augenblick packt: wir sind Täter, aber gleichzeitig auch die Opfer; wir sind existent, aber vielleicht auch inexistent. Wir existieren vielleicht noch nicht, aber vielleicht auch nicht mehr. Das beschreibt auf eine treffende Weise, was Aléa Torik bedeutet: ein paradoxer Zustand, der sich bewegt.

    Zum Schluss, allerdings nur noch ganz verkürzt: Ihre letzten Fragen sind sehr interessant. Ich glaube – ich unterstelle – dass es in der Kunst, außerhalb des Inszenierung, außerhalb des Artefakts, einen ganz wesentlichen Aspekt gibt, um derentwillen die Kunst gemacht ist: das Genießen. Im Genuss sind wir ganz bei uns selbst. Deswegen mögen manche Menschen Kunst nicht. Vielleicht sind das die, die mit sich identisch sind.

    Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
    geschehn aus unablässigem Bestreben.
    Aléa hat’s hierher gestellt,
    und zwar soeben.