Zum Tode Christoph Schlingensiefs

Es ist genau 12 Jahre her: Nicola und ich flogen nach Berlin zur Parteiversammlung von Chance 2000, es war gerade große Krise, Christoph wollte alles hinschmeißen – keine 2 Monate vor der Bundestagswahl. Nur – wir konnten sie nicht finden. Wir irrten zwischen Prater und Volksbühne hin & her – vergeblich. In größter Verzweiflung fragte Nicola einen Kellnern in einem x-beliebigen Restaurant: „Tschuldigung, wir suchen Christoph Schlingensief.“ und der nickte nur, öffnete die Tür zu einem Hinterzimmer und da saßen sie – Christoph und ein Haufen Verrückter wie wir, die sich als Chance 2000 verstanden, die „Partei der letzten Chance“ – ein Vertreter der Friedens-Uni sprach gerade und bot sich an, die Partei zu übernehmen. Was haben wir uns gefreut, Christoph&Co. zu finden – und auch Christoph freute sich offensichtlich und machte gleich seine Witzchen über uns: „Das ist doch ein SPD-Hemd, das Du da trägst.“ rief er hocherfreut über mein zugegeben SPD-mäßig wirkendes weißes Hemd mit einer albernen roten Stickfigur (wo ich das bloß her hatte?) Er war gerade von einer übel überinszenierten SPD-Veranstaltung gekommen, wo Gerhard Schröder pathetisch die endlich durchzusetzende Geltung der Menschenrechte verkündete und schlug vor, eine Aktion „Künstler gegen Menschenrechte“ zu gründen (sein Gespür hatte ihn wieder mal nicht getrogen: damals hätte man schon das Säbelrasseln der neuen Friedens-Ordnungsmacht Deutschland heraushören können, das kurze Zeit später zur Bombardierung Serbiens geführt hat). Und ebenso strahlend erwähnte er, dass er einen Film gesehen hätte, in dem Afrikaner mit Schaum vor dem Mund die Rituale der Europäer nachgeahmt hätten – da hätte er an mich vor der Paulskirche denken müssen. Das war natürlich auch richtig – ich war ihm bei seiner Demokratie-Predigt in die Quere gekommen und hatte meinen eignen Quatsch gepredigt – nämlich dass es an der Zeit sei, Christus Schlingensief im Frankfurter Dom zum Kaiser zu krönen etc. Nachdem wir uns also munter druff gequatscht hatten, Christoph wiedermal eine offene Rechnung über mindestens 50 Mark zu begleichen hatte („So läuft das hier immer, IMMER!“) erwähnten wir – ohne Hintergedanken – dass wir noch keine Übernachtungsstätte hätten und wurden prompt von ihm und seiner damaligen Freundin Nina zu sich eingeladen. Es war ein wunderbarer Abend, wir sprachen erst ganz aufgeregt über die Partei und entwickelten die Idee, einen think tank einzurichten und Leute wie Rainald Goetz einzuladen und dann über persönliche Dinge, ganz ruhig, gelassen, so wie ich ihn nie wieder erlebt habe. Es war Nicolas Geburtstag. Am nächsten Morgen schrieb ich ihm eine lange Widmung in das Kandidatenbuch von diesem Komiker, der damals auch kandidierte und Nicola und ich verpassten fast – schon wieder – unsern Heimflug nach Frankfurt/M. – in einer Propellermaschine von Tempelhof… Am Abend hatten wir ein wichtiges Treffen – das Nachtreffen von der Fatzer-Gruppe, mit der wir Anfang Juli im IG Farben Haus performt haben. Heute, 12 Jahre später, sitzen wir auf der Ilha Grande, haben gerade einen Fatzer in Sao Paulo inszeniert, und können es nicht fassen, dass Christoph nicht mehr auf dieser Welt ist. Es war einer der Hits von Chance 2000: „Wir wollen trauern, trauern, bis die Welt sich nicht mehr dreht – wir wollen trauern trauern, bis sie uns verstehen – wir wollen trauern, trauern, ein ganzes Leben lang: Wir sind allein, so allein, ganz allein.“ Schlecht, schlecht, schlecht, schlecht so.

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