Jacques Le Goff

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Jacques Le Goff (* 1. Januar 1924 in Toulon; † 1. April 2014 in Paris) war ein französischer Historiker. Der Experte für die Geschichte des europäischen Mittelalters (Mediävistik) gehörte zur sogenannten Annales-Schule der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris.

Leben und Wirken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Le Goff, Sohn eines Lehrers, besuchte Gymnasien in Toulon und Marseille und zur Vorbereitung auf ein Studium an den Grandes Écoles das Lycée Louis-le-Grand in Paris. Dort nahm er 1945 das Studium der Geschichte an der École Normale Supérieure auf, das 1950 mit der Agrégation (Abschluss mit Lehrberechtigung an einem Gymnasium) im Fach Geschichte endete. Weitere Stationen waren: ein Studienaufenthalt an der Karlsuniversität in Prag, 1951/52 ein Postgraduiertenstudium an der Universität Oxford (Lincoln College), 1952/53 Mitglied der École française de Rome, ab 1954 Assistent an der Universität Lille, ab 1958 Forschungsbeauftragter (Attaché de Recherches) des Centre national de la recherche scientifique (CNRS).

1960 ging er zu Fernand Braudel an die 6. Sektion der École Pratique des Hautes Études in Paris, wo er 1962 Professor wurde. 1972 wurde er Nachfolger Braudels als Leiter der Sektion und blieb dies, auch als diese 1975 unter dem Namen École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) eine eigenständige Institution wurde, bis zu seiner Pensionierung 1977. Er hielt weiter Lehrveranstaltungen bis ins siebzigste Lebensjahr. Zu seinen Schülern gehörte Jean-Claude Schmitt.

Ab 1967 war er Mitherausgeber der Zeitschrift Annales, des publizistischen Organs der Annales-Schule. Als Autor und Herausgeber engagierte er sich für den Gedanken der europäischen Einigung, er war unter anderem Herausgeber der gleichzeitig in mehreren europäischen Ländern erschienenen Buchreihe Europa bauen, in der sich jeder Band mit einem bestimmten Aspekt der gemeinsamen europäischen Geschichte befasste (Die Stadt in der europäischen Geschichte u. ä.). Als seine wichtigsten Arbeiten gelten seine 1964 veröffentlichte Darstellung Kultur des europäischen Mittelalters (deutsche Übersetzung 1970) und seine 1996 erschienene Biographie Ludwig der Heilige (deutsche Übersetzung 2000). Le Goff hat in einer 1981 erschienenen Arbeit die „Geburt des Fegefeuers“ in das 12. Jahrhundert verlegt.[1] Ihm wurde entgegengehalten, dass das Purgatorium nicht aus dem 12. Jahrhundert stammt, sondern dass sich die Vorstellung eines dritten Ortes zwischen Paradies und Hölle sowie einer zeitlich befristeten Seelenstrafe nach dem Tod bereits in der Patristik belegen lässt.[2] Er hat 1983 in einem kurzen Essay die verbreitete Definition des Mittelalters als tausendjährige Epoche zwischen Antike und Neuzeit, die von der Renaissance abgelöst wurde, in Frage gestellt. Er plädierte stattdessen dafür, das Mittelalter bis zum Ende des Ancien Régime auszudehnen.[3] Diese Sichtweise hat er 2004 weiter ausgeführt.[4]

Er veröffentlichte 2010 die Darstellung Le Moyen Âge et l’argent. Essai d’anthropologie historique. Bereits ein Jahr nach ihrer Veröffentlichung in Frankreich erschien eine deutsche Übersetzung.[5] Er vertritt darin den Standpunkt, dass Geld im Mittelalter „keine vorrangige Rolle gespielt“ habe.[6] Zwei zentrale Fragestellungen stehen im Zentrum seiner Untersuchung. Er möchte prüfen, „welches Los [...] dem Münzgeld [...] in der Wirtschaft, im Leben, in der Mentalität des Mittelalters beschieden“ war. Außerdem fragt er danach, „wie die von den Christen einzunehmende Haltung gegenüber Geld [...] aufgenommen und gelehrt“ wurde.[7]

Für seine Forschungen wurden Le Goff zahlreiche wissenschaftliche Ehrungen zugesprochen. 1991 wurde ihm die Médaille d’or du CNRS verliehen. Die Stadt Münster würdigte 1993 seine Leistungen mit dem Historikerpreis. Ein Jahr später wurde ihm der Hegel-Preis zugesprochen. 1997 wurde er Commandeur des Ordre des Arts et des Lettres. Er war auswärtiges Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften sowie korrespondierendes Mitglied der British Academy(1998).[8]

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Marchands et banquiers au Moyen Âge (= Que sais-je? Bd. 699, ISSN 0768-0066). Presses Universitaires de France, Paris 1956 (In deutscher Sprache als: Kaufleute und Bankiers im Mittelalter (= Fischer-Taschenbücher 7409 Fischer-Wissenschaft). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-596-27409-5).
  • Les Intellectuels au Moyen Âge (= Le temps qui court. Bd. 3). Éditions du Seuil, Paris 1957; In deutscher Sprache: Die Intellektuellen im Mittelalter. Klett-Cotta, Stuttgart 1986, ISBN 3-608-93094-9; 2. Auflage ebenda 1987.
  • La Civilisation de l’Occident médiéval (= Collection les grandes civilisations. Bd. 3, ISSN 0530-8488). Arthaud, Paris 1964 (In deutscher Sprache als: Kultur des europäischen Mittelalters. Droemer Knaur, München u. a. 1970).
  • Das Hochmittelalter (= Fischer Weltgeschichte. Bd. 11 = Fischer-Bücherei.). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1965 (Zahlreiche Auflagen).
  • Pour un autre Moyen Âge. Temps, travail et culture en Occident. 18 essais. Gallimard, Paris 1977, ISBN 2-07-029694-6 (In deutscher Sprache als: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.–15. Jahrhunderts (= Ullstein-Buch. Nr. 35180 Ullstein-Materialien. Sozialgeschichtliche Bibliothek). Ullstein, Frankfurt am Main u. a. 1984, ISBN 3-548-35180-8).
  • als Herausgeber mit Roger Chartier und Jacques Revel: La nouvelle histoire. Retz-C.E.P.L, Paris 1978, ISBN 2-7140-0038-X (In deutscher Sprache als: Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft. S. Fischer, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-10-042702-5).
  • La naissance du purgatoire. Gallimard, Paris 1981, ISBN 2-07-025410-0 (In deutscher Sprache als: Die Geburt des Fegefeuers. Klett-Cotta, Stuttgart 1984, ISBN 3-608-93008-6).
  • Storia e memoria (= Einaudi Paperbacks. Bd. 171). Giulio Einaudi, Turin 1982, ISBN 88-06-59519-9 (In deutscher Sprache als: Geschichte und Gedächtnis (= Historische Studien. Bd. 6). Campus-Verlag u. a., Frankfurt am Main u. a. 1992, ISBN 3-593-34539-0).
  • L’imaginaire médiéval. Essais. Gallimard, Paris 1985, ISBN 2-07-070386-X (In deutscher Sprache als: Phantasie und Realität des Mittelalters. Klett-Cotta, Stuttgart 1990, ISBN 3-608-93131-7).
  • La bourse et la vie. Économie et religion au Moyen Age (= Textes du xxe siècle. Bd. 12). Hachette Littératures, Paris 1986, ISBN 2-01-011212-1 (In deutscher Sprache als: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Klett-Cotta, Stuttgart 1988, ISBN 3-608-93127-9).
  • Saint Louis. Gallimard, Paris 1996, ISBN 2-07-073369-6 (In deutscher Sprache als: Ludwig der Heilige. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, ISBN 3-608-91834-5).
  • L’Europe racontée aux jeunes. Éditions du Seuil, Paris, Paris 1996, ISBN 2-02-019563-1 (In deutscher Sprache als: Jacques Le Goff erzählt die Geschichte Europas. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1997, ISBN 3-593-35685-6).
  • Pour l’amour des villes. Entretiens avec Jean Lebrun. Textuel, Paris 1997, ISBN 2-909317-45-5 (In deutscher Sprache als: Die Liebe zur Stadt. Eine Erkundung vom Mittelalter bis zur Jahrtausendwende. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1998, ISBN 3-593-36067-5).
  • Saint François d’Assise. Gallimard, Paris 1999, ISBN 2-07-075624-6 (In deutscher Sprache als: Franz von Assisi. Klett-Cotta, Stuttgart 2006, ISBN 3-608-94287-4).
  • Un Moyen Âge en images. Hazan, Paris 2000, ISBN 2-85025-741-9 (In deutscher Sprache als: Das Mittelalter in Bildern. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, ISBN 3-608-94230-0).
  • L’Europe est-elle née au Moyen Âge? Éditions du Seuil, Paris 2003, ISBN 2-02-056341-X (In deutscher Sprache als: Die Geburt Europas im Mittelalter. C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51762-5; Neuauflage. (= Beck'sche Reihe. Bd. 6041). Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63093-4).
  • mit Nicolas Truong: Une histoire du corps au Moyen Âge. Levi, Paris 2003, ISBN 2-86746-323-8 (In deutscher Sprache als: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter. Klett-Cotta, Stuttgart 2007 ISBN 978-3-608-94080-0 (Rezension von Michael Borgolte: Nur in der Missionarsstellung kommt man in den Himmel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 30. März 2007, S. 45, Rubrik Neue Sachbücher.)).
  • Héros et merveilles du Moyen Âge. Éditions du Seuil, Paris 2005, ISBN 2-02-063795-2 (In deutscher Sprache als: Ritter, Einhorn, Troubadoure. Helden und Wunder des Mittelalters. C. H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53585-2).
  • Le Moyen Âge et l’argent. Essai d’anthropologie historique. Perrin, Paris 2010, ISBN 978-2-262-03260-9 (In deutscher Sprache als: Geld im Mittelalter. Klett-Cotta, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-608-94693-2.)

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Elizabeth A. R. Brown: Jacques Le Goff (1924–2014). In: Francia. Bd. 42, 2015, S. 397–400 (online).
  • Carol R. Dover: Le Goff, Jacques Louis. In: Albrecht Classen (Hrsg.): Handbook of medieval studies. Terms – methods – trends. Band 3. de Gruyter, Berlin u. a. 2010, ISBN 978-3-11-018409-9, S. 2457–2461.
  • Nils Minkmar: Eigentlich war alles ganz anders. Nichts liebte der berühmte Mediävist mehr, als die Komplexität seiner Gegenstände zu erhöhen: Zum Tode von Jacques Le Goff. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 78, 2. April 2014, S. 11 (online auch auf FAZ.NET)
  • Pierre Monnet: Nekrolog Jacques Le Goff (1924–2014). In: Historische Zeitschrift. Bd. 300, 2015, S. 283–288.
  • Otto Gerhard Oexle: Das Andere, die Unterschiede, das Ganze. Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters. In: Francia. Jg. 17, H. 1, 1990, S. 141–158 (Digitalisat).
  • Daniela Romagnoli (Hrsg.): Il Medioevo europeo di Jacques Le Goff. Silvana, Cinisello Balsamo u. a. 2003, ISBN 88-8215-639-7 (Aufsatzsammlung zu einer Ausstellung in Parma; mit Verzeichnis der Werke Le Goffs, bearbeitet von Adelaide Ricci, S. 411–423).
  • Andreas Sohn: Vom Appetit auf Geschichte und von der Liebe zum lebendigen Gedächtnis. Zu Leben und Werk des Historikers Jacques Le Goff (1924–2014). In: Historisches Jahrbuch 135 (2015), S. 524–556.
  • Jacques Le Goff, in: Internationales Biographisches Archiv 07/2008 vom 12. Februar 2008, im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Jaques Le Goff: La naissance du purgatoire. Paris 1981.
  2. Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 705–711.
  3. Jacques Le Goff: Pour un long Moyen Âge. In: Europe. Revue littéraire mensuelle Bd. 61 (1983) S. 19–24.
  4. Jacques Le Goff: Un long Moyen Âge. Paris 2004.
  5. Vgl. dazu die Besprechungen von Michael Borgolte: Als zwischen Gott und Geld noch zu entscheiden war. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 10. August 2011, S. 30; Florian Hellberg in: Schau-ins-Land. Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland. 133 (2014), S. 196 (online)
  6. Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Stuttgart 2011, S. 9.
  7. Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Stuttgart 2011, S. 10.
  8. Deceased Fellows. British Academy, abgerufen am 26. Juni 2020.